Diethelm Reiner Kaminski

Guten Morgen, junger Tag



Auf unseren Zeitungsausträger ist Verlass. Pünktlich um fünf wirft er die Zeitung, meinen morgendlichen Muntermacher, durch den Briefkastenschlitz. Wenn sie auf den Boden klatscht, ist das für mich das Signal, aufzustehen und die Stille des jungen Tages  zu genießen. Mit geputzten Zähnen und frisch gebrühtem Kaffee. Bei der Katzenwäsche denke ich an die vielen armen Menschen, die jetzt noch in den Betten liegen müssen und noch keinen frisch gebrühten Kaffee trinken dürfen.
Geduscht wird später, sozusagen als Reinigung von all den Verunreinigungen in der Welt, an der die Zeitung mich teilhaben lässt, um meinen Kaffeegenuss zu erhöhen.
Eine Zehnjährige hat in den Alpen einen Sturz von 170 Metern überlebt. Das erfüllt mich mit tiefer Freude. Nicht so sehr die Tatsache, dass das Mädchen, das ich ja gar nicht kenne und auch nie kennenlernen werde, überlebt hat, sondern dass ich sicher auf dem Küchenstuhl sitze und nicht 170 Meter tief fallen muss. Und das im Winter in den Alpen. Ich nehme einen langen heißen Schluck Kaffee. Köstlich, wie er meinen Gaumen netzt, die Kehle hinunter rinnt und den Magen wärmt. Eine 99-Jährige ist in ihrem Bett verbrannt. Morgens um acht. Eine Langschläferin. Selbst wenn mein Bett jetzt brennen würde, wäre ich als Frühaufsteher gerettet. Der Gedanke, dass die alte Dame vielleicht in ihrem Testament ohnehin eine Feuerbestattung verfügt haben könnte, tröstet mich so sehr, dass ich mir eine zweite Tasse Kaffee einschenke.
Ein Jäger hat sich mit der eigenen Waffe versehentlich in den Kopf geschossen. Muss Dummheit wehtun, kommt mir in den Kopf, aber bestimmt hat er gar nichts mehr gespürt, ist einfach umgefallen, und der Hirsch, den er schießen wollte, darf noch eine Weile weiterleben. Beim Gedanken an den Hirsch kriege ich Hunger auf Hirschbraten mit Preiselbeeren und Kartoffelknödeln, dafür ist es zu früh, aber stattdessen wenigstens ein Schinkenbrot. Das hätte die 38-jährige Krankenschwester bestimmt auch gerne gehabt, die entführt und tagelang im Kofferraum ihres Entführers gefangen gehalten wurde. Ohne Essen, ohne Trinken, in Enge und Dunkelheit. Ich mache mir gleich noch ein Schinkenbrot, diesmal mit noch mehr Butter und Schinken drauf. Und trinke meine dritte Tasse Kaffee. Ein Mann schießt in Washington auf einen Kino-Nachbarn, weil der sich zu laut mit seinem Sohn unterhalten hat. Geschieht ihm recht, bin ich geneigt zu denken, das tut man schließlich nicht. Und ja auch nur in den Arm, sozusagen als Warnung. Mir könnte das nicht passieren, nicht auf der einen und nicht auf der anderen Seite. Ich gehe nicht ins Kino, denn meine Zeitung ist mir Kino genug, und wenn ich doch ins Kino ginge, ließe ich, wenn ich eine Waffe besäße, diese zu Hause, und ich würde die Klappe halten, um das Geld wieder reinzukriegen, das ich bezahlt habe, wenn ich mir schon einen Film angucke. Da würde ich mich doch nicht durch leichtfertiges Schwatzen selbst bestrafen. Mit der Zeitung ist es ebenso: Ich lese sie von der ersten bis zur letzten Seite, um die Verluste möglichst gering zu halten. Nur so kommt die Ausgabe für das Abo wieder rein. Noch viel wichtiger ist mir, dass meine Zeitung mir jeden Morgen vor Augen führt, wie unverschämt gut es mir geht in meiner warmen Küche bei heißem Kaffee und Schinkenbrot, während andere sich in den verschneiten Alpen, im Kofferraum eines Autos, in einem brennenden Schlafzimmer oder im dunklen Tannenforst den Gefahren des Lebens aussetzen. Diese Überlegung beglückt mich so sehr, dass ich mir gleich noch eine Kanne Kaffee brühe und mich über die Todesanzeigen hermache, die ich mir als Höhepunkt jeweils für den Schluss aufspare, denn jede erinnert mich daran: ICH lebe. Zu guter Letzt noch das Tageshoroskop. Sein Inhalt entscheidet darüber, ob ich das Haus verlasse oder mich wieder ins Bett lege.
 


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