Ute Abele

“Gib die Zügel!“



 

Ich dachte an ihn... ich sah ihn vor mir, ich roch ihn, ich phantasierte. Es war wohlig schön, in diesen Gefühlsbildern zu schwelgen. Ich lief auf diesem Kieselweg, wie so oft... Und plötzlich sah ich einen Mann von dem oberen Weg kommen, der hierher nach unten führte. Er näherte sich mir mit großen Schritten, jedoch sehr ruhig. Zielsicher. – Panik! Ich spürte Panik. Das war ER. Aber es gab ihn doch gar nicht, er war doch nur meine Erfindung, meine Phantasie, das konnte nicht sein! Er kümmerte sich aber nicht darum, ob es ihn gab oder nicht, er kam einfach näher. Ich spürte das prickelnde Gefühl meiner Phantasien zusammen mit Angst und Fluchtgedanken. So musste sich ein Kaninchen fühlen, das man in die Enge getrieben hatte. Ich kannte dieses Gefühl aus manchen Träumen, in denen ich gejagt wurde und in denen meine kläglichen Fluchtversuche völlig sinnlos waren. Ich war chancenlos. So auch jetzt. Zuviel - zuviel - zuviel - Wie eine rot leuchtende Sirene dröhnte dieses Zuviel durch meinen Kopf. Wo waren die Fluchtwege?

- Flashback – Ich sitze auf meinem Pferd, wir galoppieren in der großen Halle. Ich habe Einzelunterricht. Mein Lehrer steht in der Mitte und schaut eine Weile lang gelangweilt zu, wie ich mit meinem Pferd an ihm vorübergaloppiere. Ich spüre, dass er unzufrieden ist, seine ganze Körperhaltung drückt es aus. Ich überprüfe meine Haltung, finde keinen Fehler. Auch galoppiert mein Pferd auf dem richtigen Fuß. Was ist es? So sag es doch! "Und wann willst du denn endlich galoppieren? Ich habe nichts von ,versammelt' gesagt oder?!" Ähm... Jetzt erst merke ich, wie kurz ich mein Pferd halte. "Gib die Zügel!" höre ich die Stimme meines Lehrers laut und fordernd. Ich tue es. Mein Pferd macht wie losgelassen einen riesigen Satz und wir galoppieren gefühlsmäßig doppelt so schnell weiter. Jetzt merke ich, wie fest ich es gehalten hatte und staune, dass mir das nicht klar gewesen war. In meinem Bauch prickelt es, mein Atem stockt für einige Galoppsprünge. Wir fliegen. Es ist himmlisch. Mein Lehrer brummt zufrieden: "Na also!"

Meine Fluchtversuche sind genau wie in meinen Träumen umsonst, er steht plötzlich vor mir und ich fühle mich als hätte er mich in seiner Aura vollkommen aufgesogen. Ich spüre ihn genau obwohl er mich nicht berührt. Aber dabei berührt er mich ja schon die ganze Zeit, und ich ihn. Es ist intensiv. Immer noch lehnt sich etwas in mir zurück, ist verkrampft, will weg. Ich höre von innen her eine Stimme, es ist die meines Reitlehrers: "Was ist los mit dir? Das Leben ist kein gehorsames Pferd wie bei mir im Reitstall, sondern ein wildes Tier! Es lässt sich nicht an den kurzen Zügel nehmen. Es ist sinnlos, es zurückzuhalten! Wenn du die Zügel nicht gibst, bekommst du sie irgendwann aus den Händen gerissen!" Ich bin immer noch erstarrt. Dann höre ich seine Stimme noch einmal, laut, voller Nachdruck und Ungeduld: "Gib die Zügel!!!" Im selben Moment werden sie mir aus den Händen gerissen... und ich fliege...


© Ute Abele




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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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