Diethelm Reiner Kaminski

Vermisstenanzeige



Behördenvertreter sind penetrant und unflexibel, insbesondere unsere sogenannten Ordnungshüter. Das habe ich schon immer gewusst, aber gerade jetzt, in einer prekären Lage, in der ich dringend amtlichen Beistand brauche, lassen sie mich im Stich.
Statt umgehend tätig zu werden, stellen sie höchst überflüssige Fragen.
Ich will auf der Polizeiwache unserer Gemeinde eine Vermisstenanzeige aufgeben, da will der Wachhabende wissen, wie lange ich meine Vera schon vermisse, als sei es nicht genug, dass sie spurlos verschwunden ist.
„Was weiß ich, drei Tage, vielleicht auch vier. Jetzt jedenfalls ist sie weg und hat sich auch nicht gemeldet.“
„Und wieso haben Sie das nicht früher angezeigt?“, will er wissen.
„Weil meine Vera immerhin schon 16 ist und nicht jede Nacht zu Hause schläft. Meistens sagt sie aber vorher Bescheid, damit ich mir keine Sorgen machen muss.“
„Und wo könnte sie sein?“ fragt der Wachtmeister weiter.
„Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht zu Ihnen gekommen.“
Er blättert wichtigtuerisch und betont langsam in den Akten.
„Ich sehe gerade, dass Sie vor sechs Wochen schon einmal eine Vermisstenanzeige aufgegeben haben. Ihre Tochter Iris, 14 Jahre alt. Ist Iris denn inzwischen wieder bei Ihnen? Nach Aktenlage ist der Fall nicht abgeschlossen.“
„Ist sie nicht“, gebe ich brav Auskunft, „aber wir vermissen sie auch nicht mehr.“
„Und warum nicht?“, insistiert der Bürokrat.
„Weil wir uns damit abgefunden haben. Sie war ziemlich schwierig und der Harmonie in unserer Familie nicht sonderlich zuträglich. Seit sie weg ist, läuft alles irgendwie besser.“
„Für Sie mag der Fall ja abgeschlossen sein, für uns noch lange nicht.
Füllen Sie bitte dieses Formular aus, damit wir Vera in die Fahndung geben können.“
„Ach“, fällt mir da ein, „könnten Sie da nicht auch gleich nach unserer Marita suchen lassen. Das wäre dann ein Abwasch.“
„Wieso? Ist die auch weg? Das ist ja geradezu eine Massenflucht bei Ihnen.“
„Weg ist sie noch nicht. Aber ich kenne doch unsere Marita. Die bleibt keine vier Tage ohne ihre Zwillingsschwester allein. Vermutlich ist sie gar nicht mehr da, wenn ich nach Hause komme.“
„Höchst gediegen, höchst gediegen“, murmelt der Beamte vor sich hin. „Da werden wir mal gleich Ihre Frau einbestellen, um Ihre Angaben zu überprüfen.“
„Die Mühe können Sie sich sparen“, möchte ich dem Wachhabenden entgegenkommen, der schließlich auch nur seine Pflicht tut.
„Meine Frau hat uns schon vor zwei Monaten verlassen. Ganz plötzlich. Ohne Angabe von Gründen“, verfalle ich in den Jargon des Polizisten, ohne dass ich ihn parodieren möchte.
„Aber wie ich meine Gudrun kenne, kommt sie auch nicht mehr zurück. Dazu ist sie viel zu stur. Wenn sie einmal einen Entschluss gefasst hat …“
Ich unterschreibe die Vermisstenanzeige, aber viel Hoffnung habe ich nicht, dass dieser Sesselpupser tätig wird.
Jedenfalls wundere ich mich nicht, dass bei so viel amtlicher Gleichgültigkeit immer mehr Familien in Deutschland auseinanderbrechen.
 


Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Diethelm Reiner Kaminski).
Der Beitrag wurde von Diethelm Reiner Kaminski auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Diethelm Reiner Kaminski als Lieblingsautor markieren

Buch von Diethelm Reiner Kaminski:

cover

Von Schindludern und Fliedermäusen: Unglaubliche Geschichten um Großvater, Ole und Irmi von Diethelm Reiner Kaminski



Erzieht Großvater seine Enkel Ole und Irmi, oder erziehen Ole und Irmi ihren Großvater?
Das ist nicht immer leicht zu entscheiden in den 48 munteren Geschichten.

Auf jeden Fall ist Großvater ebenso gut im Lügen und Erfinden von fantastischen Erlebnissen im Fahrstuhl, auf dem Mond, in Afrika oder auf dem heimischen Gemüsemarkt wie Ole und Irmi im Erfinden von Spielen oder Ausreden.
Erfolgreich wehren sie mit vereinten Kinderkräften Großvaters unermüdliche Erziehungsversuche ab.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Satire" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Diethelm Reiner Kaminski

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Großmutters Geheimnis von Diethelm Reiner Kaminski (Lebensgeschichten & Schicksale)
TATORT KINDERSPIELPLATZ - URWALD WIESE von Julia Thompson Sowa (Satire)
Mörderisch makellos von Claudia Savelsberg (Leidenschaft)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen