Melanie Jack

Alle Jahre wieder

Die Sonne brannte vom strahlend blauen Augusthimmel, eine azurgetünchte Leinwand, nur hier und da von ein paar Deckweißwölkchen durchbrochen. Fast wie auf einem der Bilder, die wir alle im Kindergarten voller Inbrunst zu tausenden mit Wasser -oder Wachsmalfarben immer und immer wieder zu Papier gebracht haben. Ein gutgelaunter Chor aus Amseln, Drosseln, Fink und Star lieferte den passenden Soundtrack. Der perfekte Sommertag.
„Aaaahhh, herrlich“, dachte Sandra und räkelte sich genüsslich im Liegestuhl. Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment klingelte es an der Haustür auch schon Sturm, das schrille Scheppern torpedierte die Idylle so abrupt wie ein Furz die Sonntagspredigt.
„Na super, die SOKO Christmas ist da.“ Sandra erhob sich betont langsam aus dem bequemen Mobiliar und machte sich noch langsamer auf den Weg über die Terrasse. Sehnsuchtsvoll blickte sie noch einmal zum Kindergartenhimmel, es kam ihr allerdings so vor, als hätte ein überaus mies gelauntes Balg soeben eine pechschwarze Gewitterwolke mitten ins Bild geschmiert. Vielleicht war es aber auch nur das Wissen um das Unwetter, das sich soeben in ihren eigenen vier Wänden manifestierte.
-Momentchen mal, werden Sie sich jetzt sagen „SOKO Christmas“?? Wir waren doch gerade noch beim perfekten Sommertag. Ich kann Sie beruhigen, weder ist die Klimakatastrophe vollends über uns hereingebrochen noch befinden wir uns bei mehr oder weniger TV-tauglichen Auswanderern in Kapstadt. –
Seit Sandra denken konnte traf sich ihre Familie bereits im Hochsommer, um das monumentale Jahresendereignis akribisch vorzubereiten, man kann ja nie früh genug damit anfangen. Allerdings endete bereits die Planung nicht selten in der totalen Apokalypse, und diese kündete sich bereits an.
Im Wohnzimmer wurde Sandra von einem gereizten Stimmengewirr empfangen, wo ihr Mann Thomas gerade versuchte, einer Horde streitender Rentner Herr zu werden.
„Ich will keine Pute verdammt noch mal. Immer du und deine Pute, seit über 35 Jahren“. -„Ach Lisbeth jetzt lass doch komm doch erstmal rein“-„Nein ich bin mir sicher, du hast den Wagen nicht abgeschlossen, ich hab`s doch gesehen!“ –„Dann solltest du mal den Optiker wechseln, natürlich habe ich abgeschlossen“.
„Mama, Papa“ rief Sandra in das Löwenrudel. “Lisbeth, Hans! Ihr seid ja alle zusammen gekommen, wie schön!“ Der leichte Anflug von Panik in ihrer Stimme ließ sich trotz größter Mühe nicht unterdrücken und auch auf Thomas´ Stirn zeigten sich die ersten Schweißperlen.
„Kommt doch erstmal in den Garten, es ist so ein schöner Tag.“ -„WAR“ zischte eine kleine gehässige Stimme in ihrem Hinterkopf.
In diesem Jahr war sie nun also an der Reihe, die komplette Familie Strömker/Sandmann an diesem höchsten christlichen Fest für einen Abend zu beherbergen und zu verköstigen. Was aber Ihre Eltern und Schwiegereltern nicht davon abhielt, die komplette Organisation mit gichtigen Klauen an sich zu reißen und sich dabei fast schon traditionell zu zerfleischen.
Dass dabei bisher niemand ernsthaft verletzt worden war, vielleicht bis auf ein paar Gefühle, grenzte an ein Wunder. Wann und warum dieser Planungsmarathon seinen Ursprung genommen hatte, entzog sich ihrer Kenntnis. Aber eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen war die, dass sie an einem Sommertag wie diesem im Garten gespielt und sich gewundert hatte, warum ihr Vater einen viel zu großen roten Mantel trug, ihre Mutter mit geschätzten 500 Stecknadeln im Mund zu seinen Füssen kniete und ihn, so gut es eben ging mit derart viel Metall zwischen den Zähnen , anschrie, er möge jetzt doch bitte mal still stehen. Allerdings hatte sie die gesegnete Eigenschaft der kindlichen Naivität diese und andere ähnlich skurrile Situationen nicht weiter hinterfragen lassen. Vielleicht war es aber auch nur eine Frühform der Verdrängung, die sie und ebenso ihre jüngere Schwester sich sogar über das Grundschulalter hinaus bewahren konnten.
 
 
 
Auch wenn beiden natürlich bereits klar war, dass ihre Familie in dieser Hinsicht offensichtlich etwas anders war, als die ihrer Mitschüler. Spätestens als ihre Schwester Nina in der 4. Klasse kurz nach den Sommerferien in einem Aufsatz über „Einen Ferientag bei uns zuhause“ beschrieben hatte, ihr Vater habe versucht einem Esel ein gebrochenes Bein anzukleben und anschließend das Baby mit Nagellackentferner saubergemacht, zeigte sich auch ihre Lehrerin leicht besorgt über die familiären Zustände im Hause Strömker. Als Sandras Mutter im daraufhin anberaumten Gespräch erklärte, es hätte sich bei diesem Szenario lediglich um Reparaturarbeiten an der Krippe gehandelt, sorgte dies nur geringfügig für Entspannung des Lehrkörpers.
Richtig fies wurde es dann in der Pubertät, eine Zeit, in der man seine Eltern ja schon von Natur aus für bescheuert erklärt. Aber unter diesen Umständen potenzierte sich der Generationenkonflikt ins unermessliche und zwischen ihrem 13. und 16. Lebensjahr traute sich Sandra von August bis Dezember nur noch einen kleinen eingeweihten Kreis ihrer besten Freundinnen nach Hause einzuladen, die der Anblick ihrer Erzeuger beim Lichterkettenfunktionstest oder Probeplätzchenbacken nicht mehr erschüttern konnte. Ihre ersten Anbandelungsversuche mit dem anderen Geschlecht waren ebenfalls entsprechend saisonal.
Im Laufe der Jahre hatte sie es dann tatsächlich geschafft, diese Macke ihrer Mutter( ihr Vater war im Grunde ja auch nur bedingt freiwilliger Mittäter) mit Humor zu nehmen und mit dem Auszug aus dem Elternhaus wurde der Vorweihnachtsterror auf ein zumindest für Strömker- Verhältnisse Mindestmaß reduziert. Auch die Lage an der Männerfront entspannte sich zusehends, nur in einem Fall konnte Sandra das Ende ihrer Beziehung nachweislich auf die festuelle Belästigung ihrer Mutter zurückführen, die ihren damaligen Freund während einer Grillparty schon mal vorsorglich gefragt hatte, ob seine Band „ The Brain Splatters“ denn auch „Oh du fröhliche“ im Repertoire hätte.
Dann hatte sie vor 6 Jahren Thomas kennen gelernt und es stellte sich heraus, dass sie mit ihren weihnachtswütigen Eltern kein Einzelschicksal darstellte. In Thomas´ Familie startete die Festplanung zwar erst Ende September, aber dafür mischte im bunten Reigen auch noch seine Großmutter väterlicherseits mit und sorgte bis zu ihrem Ableben für kriegsähnliche Zustände, was in einem Jahr fast zur Scheidung seiner Eltern geführt hätte, der genaue Streitpunkt ließ sich nicht mehr exakt eruieren, aber man munkelte es ging um die Farbe der Christbaumkugeln.
So begab es sich also, dass sich in Frau Anne Strömker und Elisabeth Sandmann 2 Gleichgesinnte fanden und alsbald auf weihnachtlichem Sektor fusionierten. Schon während des Sektempfangs nach Sandras und Thomas` Trauung wurden Soßenrezepte getauscht und der Grundstein für eine langjährige Zusammenarbeit gelegt. Man kann sich allerdings ausmalen, was passiert, wenn zwei Perfektionisten ihren Weihnachtsfetischismus gleichermaßen und vor allem gemeinsam ausleben wollen. Jetzt hatte es Sandra mit gleich 2 Lagern zu tun, die sich an der Festtagsfront nicht nur untereinander sondern auch gegenseitig bekriegten.
 
 
 
Mittlerweile saß der vollständige Kriegsrat, Sandras Schwester Nina und auch Sven, Thomas´ großer Bruder waren inzwischen ebenfalls dazu gestoßen, auf der Terrasse und die Stimmung war auf dem Siedepunkt.
„Gulasch, wieso den Gulasch??? Du wirst ja senil!“ brüllte ihr Schwiegervater gerade seine Frau an. „Außerdem hab ich keinen Bock mehr, den Weihnachtsmann für die Kinder zu spielen, das kann mal schön Thomas übernehmen. Ist ja schließlich sein Haus!“ Thomas spülte seine Verzweiflung soeben mit dem gefühlt 10ten Pils herunter.
„Ich schmeiß dann mal den Grill an“ presste er matt hervor, die Ansage ging allerdings in Ninas hysterischem Geheule völlig unter.
„Jedes Jahr die gleiche Kacke. Ihr könnt mich alle mal, ich flieg in die Karibik! Wieso können wir nicht so feiern, wie alle anderen?? Essen, trinken und fertig?! Ihr macht mich wahnsinnig!“ –„Ach so, alle anderen? Du willst doch sonst nicht so sein, wie alle anderen. Du bist doch die große Individualistin mit deiner Künstler-WG!“ – „Eben Künstler sind sensible Menschen, kann man da nicht mal drauf Rücksicht nehmen?“ „Kann Mirko eigentlich schon Blockflöte spielen? Das wär doch schön.“ – „ Nee bitte alles nur kein Sauerbraten!“ „ Ich wünsch mir ja schon lange mal Würstchen und Kartoffelsala…“- „ Hans bitte, wie gewöhnlich!“ „Sag mal, was machst du eigentlich da unten? Nimmst du an der Veranstaltung hier noch teil?“ Sven, Thomas Bruder band sich seit ungefähr einer halben Stunde die Schuhe zu, unter dem Tisch. Auch eine Art der Konfliktbewältigung. Der Rest schleuderte sich abwechselnd Dessertvorschläge, weihnachtliches Liedgut und Beleidigungen um die Ohren.
Sandra stand in der Küche und verfolgte die Szenerie durchs gekippte Fenster.´ Es soll ja tatsächlich Familien geben, in denen sich die Festplanung darauf beschränkt, allen Beteiligten eine Woche vorher telefonisch mitzuteilen, wer sich wo und zu welcher Uhrzeit einzufinden hat, und welches tote Tier in welcher Zubereitungsart auf den Tisch kommt. Traumhafte Vorstellung´, dachte Sandra während sie schon fast meditativ in ihrem Salatdressing rührte.
-Aber so geht wenigstens an so einem Abend nichts daneben, denken Sie jetzt mit Sicherheit. Gut geplant ist halb gewonnen. Ha wie naiv! Wie immer, wenn Ereignisse mit großen Erwartungen verknüpft sind, können diese zwangsläufig nur enttäuscht werden. Wenn diese Ereignisse dann auch noch generalstabsmäßig geplant werden, potenziert sich der Enttäuschungsfaktor um ein vielfaches. Meist reichen dann nämlich Kleinigkeiten, um sämtliche Tagesordnungspunkte über den Haufen zu werfen.
Einmal war es Sandras damals 8 Jahre alte Schwester, die heimlich vom (natürlich auch schon im Sommer aufgesetzten) Rumtopf naschte und sich pünktlich zur Bescherung sturzbachartig in den Weihnachtsbaum erbrach.
Vor 4 Jahren beim ersten gemeinsamen Heiligabend nach der Strömker/ Sandmann Fusion tranchierte Hans Sandmann feierlich zuerst sein Handgelenk anstatt der Pute und bescherte durch sein Handicap dem Vogel anschließend noch post mortem einen Freiflug quer über den Tisch mit Punktlandung im Schoß der eigenen Ehefrau. Wahrscheinlich resultierte daraus auch seine Abneigung gegen Geflügel am Weihnachtsabend, Lisbeth wollte bis heute nicht glauben, dass es sich bei dem Vorfall nicht um Vorsatz sondern lediglich um grobe Fahrlässigkeit handelte.
Unvergessen blieb auch das erste Fest bei Sven und seiner Frau Petra. Die beiden standen verständlicherweise unter einem enormen Erfolgsdruck, was allerdings nicht ohne Folgen blieb. Bei dem Versuch, das Haus mit kurzfristig günstig erworbenen, aber leider nicht TÜV geprüften Lichterketten zu illuminieren verursachte Sven einen kompletten und vor allem irreparablen Kurzschluss, und versuchen Sie mal an Heiligabend kurzfristig einen Elektriker zu bekommen. Offenbar haben solche Malheure nicht unbedingt Seltenheitswert, jedenfalls ließ der Fachmann satte 4 Stunden auf sich warten.
Um es kurz zu machen, man verbrachte den Abend mit mehr als zimmerwarmem Wein und gemischter Schnittchenplatte bei Kerzenschein. In der Retrospektive eigentlich sehr gemütlich, fand Sandra insgeheim.
Allerdings weigerte sich Petra fortan, dem Planungskomitee beizuwohnen. Sie wolle ihre Nerven bis zum Tag X schonen, da würden diese schon genug beansprucht. Vermutlich wollte sie aber auch ihren Sohn Mirko vor eventuellen psychischen Schäden bewahren und blieb deswegen mit ihm zuhause. Gesunde Entscheidung.
„Schatz, deine Hortensien haben aber auch schon mal besser ausgesehen!“ flötete ihre Mutter durch den Garten. Steilvorlage für Lisbeth: „Ich habe da neulich einen Artikel gelesen in „Dein Garten und Du“, irgendwas mit Kartoffelschalen. Das such ich dir noch mal rahaus!“
Die Zen – Dressing - Methode erfüllte nicht mehr ihren Zweck, Sandra schenkte sich ein Glas Prosecco ein. Wenn das so weiterging, wären Thomas und sie noch vor dem 1.Advent dem Alkoholismus verfallen.
„Warum machen wir denn nicht einfach Fondue? Ist doch schön gesellig und für jeden was dabei.“ Sven hatte sich von seinem gordischen Knoten gelöst und war mit einem seiner Meinung nach höchst diplomatischen Vorschlag an der Oberfläche aufgetaucht. Er wäre besser unten geblieben. „F-O-N-D-U-E ??????!!!“ Anne Strömkers Teint hatte schlagartig eine besorgniserregend ungesunde Farbe angenommen, und ihre Stimme zeugte von aufkeimender Hysterie. „So, jetzt kommt´s wieder“ stieß ihr Gatte resigniert hervor. „Thomas, mein Junge, ich äh geh dir mal zur Hand“. Mit einer für sein Alter beeindruckenden Geschwindigkeit entschwand er in Richtung Grill und überließ den Rest der Tafelrunde seinem Schicksal.
„Hat Sandra dir denn nie erzählt, was passiert ist, als ihr Vater und ich Silvester 2002 mit den Nachbarn Raclette gemacht haben? Es hat fast ein Jahr und meine gesamte Überzeugungskraft gebraucht , bis die Versicherung gezahlt hat.“ Sven wirkte sichtlich irritiert. „Ich muss mal aufs Klo“ tönte es in Stereo, Nina und Elisabeth flüchteten in einstudiert anmutender Choreographie ins Haus. Für einen kurzen Augenblick überlegte Hans ganz offensichtlich, mit welchem Schachzug er dem drohenden Monolog Annes entgehen könnte, beschloss dann aber mit maskuliner Tapferkeit seinem Sohn beizustehen.
Nur mit Mühe konnte Sandra den aufkeimenden Lachanfall unterdrücken, sie prustete leise in ihren Prosecco.
Ihr Vater war vermutlich der einzige Mensch, der es fertig gebracht hatte, mit einem Teflonpfännchen die komplette Sitzecke in Flammen aufgehen zu lassen, und damit dem Begriff Tischfeuerwerk eine völlig neue Bedeutung verliehen. Nicht auszudenken, was dieser Mann mit einem Fondue-Topf anstellen konnte, wahrscheinlich ganze Zivilisationen auslöschen. Wer brauchte schon Plutonium, wenn er im Besitz von Pflanzenfett und Klaus-Dieter Strömker war?
Zum Glück hatte George W. Bush seinerzeit nichts von diesem Vorfall erfahren, sonst hätte er ihren Vater wahrscheinlich umgehend zur Achse des Bösen erklärt und sie alle hätten die folgenden Jahre damit verbracht, Weihnachtspäckchen nach Guantanamo zu schicken. Na ja, wenigstens wärt ihr dann um den prä-festlichen Terrorismus der weiblichen Familienoberhäupter herumgekommen, flüsterte wieder die kleine gehässige Stimme. „Pfui“, Sandra verpasste dem imaginären Unruhestifter eine Kopfnuss.
Gerade war ihre Mutter mit der dramatischen Feuerteufel-Story fertig geworden. „…und dann willst du diesen Mann in die Nähe von heißem Fett lassen?? Klaus komm bitte da vom Grill weg, oder willst du uns alle umbringen? Gieß mal lieber diese armseligen Hortensien, das kann man ja gar nicht mit ansehen.“ Sandras Vater nahm es mit Fassung. 40 Jahre Ehe mit Anne Strömker hatten aus ihm einen unerschütterlichen Stoiker gemacht, die meisten Verbalattacken seiner Frau prallten an ihm ab oder wurden kurz und trocken kommentiert. Passiver Widerstand, Gandhi hätte bestimmt seinen Hut gezogen, Sandra jedenfalls tat es.
Sie kippte das inzwischen k. o. gerührte Dressing über den Salat, nahm noch einen Schluck Prosecco und wollte sich gerade wieder in die Arena wagen. Da schellte das Telefon.
`Na großartig, jetzt beschweren sich bestimmt die ersten Nachbarn über die Streithähne da draußen. Erst vor 2 Monaten eingezogen und schon unangenehm aufgefallen`. Sandra eilte in den Flur zum Telefon und stolperte dabei fast über ihre Schwester, die auf dem Treppenabsatz kauerte. „Ist sie fertig?“ zischte sie . „Wie oft hab ich die Geschichte schon gehört. Obwohl sie wirklich großartig ist, das muss ich sagen.“ „Los ab geh raus. Bring die Meute unter Kontrolle.“ Das Telefon klingelte unerbittlich.
„Sandmann“. –„Mein Gott Kindchen, das dauert aber. Ist euer Haus denn so groß? Denk dran, ich bin verdammt alt. Jeder Atemzug könnte mein letzter sein.“ –„Oma Lotti!!!“ Es war Lieselotte Boltenhausen, Sandras Großmutter mütterlicherseits. So gesehen die einzig vernünftige in der Familie, hatte sie es doch geschafft, sich in den letzten 30 Jahren aus allen vorweihnachtsbedingten Streitereien herauszuhalten. Sie glänzte nämlich schlicht und ergreifend durch Abwesenheit. Entweder hatte eine mysteriöse Virusinfektion sie niedergestreckt, der Hund hatte etwas Falsches gefressen oder ein Wasserrohrbruch hatte den Keller unter Wasser gesetzt. Nach einiger Zeit zweifelte auch das naivste Familienmitglied an einer reinen Zufälligkeit dieser Begebenheiten. Als Lieselotte dann auch noch verkündete, sie würde die Feiertage ab sofort lieber bei ihrer Freundin auf Gran Canaria verbringen, war die Katze aus dem Sack.
Anfangs war Sandra schwer getroffen, war ihre Großmutter doch das einzige Bollwerk im Kampf gegen diese gestörte Familie. „Kleines, ich liebe dich, und ich liebe deine Mutter. Aber wenn ich aus ihrem Mund noch ein einziges Mal die Worte Lametta, Serviettenring oder Vorsuppe höre, muss ich sie umbringen. Ich weiß wirklich nicht, wo sie diesen Spleen her hat, von mir jedenfalls nicht, und dein Großvater, Gott hab ihn selig, war auf diesem Sektor auch normal gepolt.“ Sandra hatte ihn nie kennen gelernt, er war vor kurz vor ihrer Geburt gestorben. Lotti hatte nie wieder geheiratet, sie wurde zur lustigen Witwe mit sehr viel Unternehmungsgeist und vor allem ihrem eigenen Kopf.
Deswegen war es auch nicht verwunderlich, dass sie vor 10 Jahren im zarten Alter von 71 Jahren endgültig nach Gran Canaria auswanderte. „Dieses Klima hier macht mich fertig, nix für meine Knochen, ihr versteht“. Vor allem verstand Sandra, dass weder Knochen noch Klima der Grund für die großmüttterliche Flucht aus der Heimat waren, sondern eher der dringende Wunsch nach Distanz zur eigenen Tochter, die meinte ihre Mutter mit fortschreitendem Alter immer mehr bevormunden zu müssen.
Diese Distanz gab Lotti lediglich zu besonderen Gelegenheiten temporär auf, wie zum Beispiel runde Geburtstage, Hochzeiten und Taufen. Allerdings hatte sie seit Sandras und Thomas´ Hochzeit deutschen Boden nicht mehr betreten.
„Wie geht´s dir denn da drüben so?“ „Ach Liebes, was soll ich sagen, 30 Grad, die Sonne lacht und wie immer weht ein laues Lüftchen. Ich kann mich nicht beklagen. Hab auf der Wetterkarte gesehen, bei euch ist auch endlich der Sommer eingeschlagen. Genießt du die Sonne? Die Ruhe im eigenen Garten?“-„Äh, ich, ja so ähnlich…“ „ Tiramisu????!! Da sind doch rohe Eier drin!! Ich will mir doch keine Salmonellen holen!“ „Herrgott noch mal, jetzt stell dich doch nicht so an, in Thailand hast du doch sogar Insekten gegessen.“-„Die waren frittiert!“ Sandra hatte es gewagt, das Wohnzimmer wieder zu betreten und sah sich augenblicklich wieder dem akustischen Inferno auf der Terrasse ausgesetzt. Aus der Ferne sah sie Thomas, der mit versteinertem Gesicht die Grillkohle mit Hilfe eines Blasebalgs malträtierte. Ihr Vater ertränkte derweil in aller Seelenruhe die Hortensien. „Du liebe Zeit, was ist denn da bei euch los? Hör ich da deine Mutter? Sag nicht…. Oh mein Gott, ist es schon wieder soweit?“ –„Jaaaa.“ Sandra spürte einen Kloß im Hals. „Dieses Jahr bei uns.“-„Ach Herrje, Kind das tut mir so leid. Wieso hast du dich denn darauf eingelassen? Die nehmen dir die Bude auseinander.“ „Was sollte ich denn machen? Jetzt wo wir das Haus haben. Früher oder später hätte sich das eh nicht umgehen lassen.“ „Ist sie denn schon blau angelaufen? Das fand ich immer besonders spektakulär.“ Anne Strömker schaffte es so ziemlich in jedem Jahr, der allgemeinen Verbalschlacht einen dramaturgischen Höhepunkt zu versetzen, in dem sie wahlweise hyperventilierte, kollabierte oder einen drohenden Herzinfarkt ankündigte. Die führte dazu, dass die meisten Entscheidungen zu ihren Gunsten ausfielen. Was folgte, war eine geradezu an ein Wunder grenzende Spontangenesung. There´s no business like showbusiness.
„Bislang hat sie uns das erspart.“ „Kleines, ich wünschte wirklich, ich könnte dir dabei helfen.“ Sandras Herz machte einen Hüpfer. „Das kannst du doch. Komm. Komm an Weihnachten einfach her, allein wenn du da bist, reißen sie sich zusammen.“ „ Du glaubst, diese vertitschte Familie reicht sich in Frieden die Hände, nur weil die Oma aus der Ferne anreist? Ich bin nicht der Messias, Schatz. Auch wenn deine Mutter mich das eine oder andere Mal liebend gern an ein Kreuz genagelt hätte. Außerdem, der Flug ist ja doch immer eine Strapaze.“ „Vier Stunden, Lotti..“ „Du darfst nicht vergessen, ich bin nicht mehr die jüngste. Das steckt man nicht so einfach weg.“ „Hallo? Du hast vor 2 Monaten einen Tauchschein gemacht! Und du gehst jedes Wochenende mit Gerda 5 Stunden wandern. Vom Windsurfing-Workshop möchte ich gar nicht erst anfangen. Veräppeln kann ich mich allein. Du bist fitter als wir alle zusammen.“ „Und wo soll ich bitteschön wohnen? Wohl kaum im Haus deiner Mutter, das gibt Mord und Totschlag! Und in ein Hotel gehe ich nicht, das weißt du. Ich sag nur Nichtraucherzimmer. Da seh ich ja schon die Schlagzeile: Seniorin beim Rauchen an offenem Fenster erfroren.“ „Oooooomaaaaa! Du wohnst natürlich bei uns. Wofür haben wir denn ein Gästezimmer? Biiiiittteeeee!!“ „Ich möchte euch aber nicht zur Last fallen.“ „Jetzt klingst du wie eine von diesen gebrechlichen Scheintoten, die sich mit genau diesen Worten in den Sessel fallen lassen und darauf warten, dass man ihnen das Essen in kleine Stückchen schneidet.“ Das hatte gesessen. Sandra konnte den grossmütterlichen Denkapparat förmlich routieren hören. Eine schier nicht enden wollende Minute hörte man rein gar nichts am anderen Ende der Leitung. Dann ein langes Seufzen. „Naaaaaa schöööön. Ich werde kommen, aber nur dir und deinem Göttergatten zuliebe. Nur damit dass klar ist. Und wenn ich schon mein spanisches Eiland extra dafür verlasse, stelle ich ein paar Bedingungen.“ ……
 
 
 
Eine halbe Stunde später betrat Sandra wieder die Terrasse. Sie schaute hinauf, die Gewitterwolke war ausradiert, der Himmel strahlte wieder in versöhnlichem blau. Sandra strahlte zurück. Auch der unvermindert hohe Lärmpegel konnte ihre Stimmung nicht mehr trüben. „Krieg…keine…Luft…mehr. Kann… ganz…schlecht….atmen. Bestimmt….mein…Asthma.“ „Seit wann hast du denn Asthma?“ Ihre Mutter läutete soeben mit einer neuen Kriegslist das Finale ein. ´Sie wird immer besser `der kleine Störenfried meldete sich wieder zu Wort. Sandra klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter. Nina wandte sich besorgt an ihre Schwester. „Du ich glaub, Mama geht’s nicht gut. Vielleicht sollten wir lieber einen Arzt… was grinst denn du so grenzdebil?“ Sandra stellte die Salatschüssel in die Tischmitte wie eine selbstgeschossene Trophäe und atmete tief durch. „Oma Lotti kommt an Weihnachten.“ Wieder spürte Sandra einen Kloß im Hals, aber diesmal vor lauter Erleichterung. „Waaaaaaaaaaas?“ Anne Strömker schien ihren bronchialen Engpass augenblicklich vergessen zu haben. Dafür hatte sie allerdings jegliche Gesichtsfarbe verloren und ihre Augäpfel drohten aus ihren heimischen Höhlen zu fallen. Weitere 5 Augenpaare starrten Sandra ungläubig an. Nach dem stundenlangen Radau herrschte für einen Moment lang im Garten eine fast unheimliche Stille. „Näääh. Wie geil ist das denn bitte?“, Nina erlangte als erste die Fassung wieder. „ Ja das ist ja ein Ding. Die Grand Dame gibt sich die Ehre. Wird bestimmt ein Mordsfest.“ Klaus-Dieter Strömker zwinkerte seinen Töchtern verschwörerisch zu. „ Ne Anne, dir springt die Freude ja förmlich aus dem Gesicht!“ Er tätschelte seiner Frau die Hand, Sandras Mutter machte den Eindruck als würde sie jeden Moment in die Salatschüssel speien. Lisbeth hingegen freute sich aufrichtig. „Ach wie nett. Wir haben sie ja seit eurer Hochzeit nicht mehr gesehen. Gibt es denn einen bestimmten Anlass?“ „Nein sie möchte uns einfach alle gern an Weihnachten um sich haben.“ Sandra kreuzte im Geiste schnell die Finger hinterm Rücke! n. Die S timme im Hinterkopf schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. „Und sie hat nur diese 2 Wünsche: zum Essen gibt es Tapas und Paella. Ach ja und keiner macht den Weihnachtsmann. Das konnte ich ihr doch nicht abschlagen, wenn sie extra den weiten Weg macht. Ich denke, ihr habt dafür alle Verständnis.“ Sandra übertraf sogar ihre Mutter mit dieser schauspielerischen Leistung, selbst ein Bohrhammer hätte das Lächeln nicht aus ihrem Gesicht bekommen. „Also ich freu mich total, und wir brauchen dann ja auch gar nicht mehr diskutieren, sondern können einfach diesen schönen Nachmittag genießen.“ – Amen. Mit diesen Worten verließ sie den sichtlich verstörten Rest der Gemeinde und schwebte zu Thomas, der vom plötzlichen Kriegsende lediglich den kurzen verbalen Ausbruch seiner Schwiegermutter mitbekommen hatte. Aber das merkwürdige Strahlen seiner Frau, bereitete ihm in anbetracht der vorangegangenen hitzigen Diskussionen doch ernsthaft Sorgen. „Was ist los, geht es dir gut? War alles ein bisschen viel heute, oder?“ Sie umarmte ihn wortlos aber heftig. „Schatz, du machst mir irgendwie Angst.“ Sandra schaute im lange und tief in die Augen. In diesem Moment wusste er, dass seine Panik völlig unbegründet war. Dann sagte sie drei Worte, drei Worte, die ihn augenblicklich sämtlichen Stress der letzten Stunden vergessen ließen. Drei Worte, für die die Welt still zu stehen schien: „ Lotti kommt Weihnachten“. Er spürte, dass seine Augen feucht wurden. Vielleicht war es die schiere Erleichterung, vielleicht aber auch der beißende Rauch der Würstchen, die soeben kollektiv auf dem Grill verkohlten. Völlig egal, Lotti würde kommen, es war, als würde sich ein Wunsch erfüllen, von dem man vorher gar nicht wusste, dass man ihn überhaupt hatte. Ein Gefühl ungetrübter Ruhe überkam ihn.
Nun war es an Thomas drei Worte zu sagen. „Ich liebe dich.“ Sandra legte ihren Kopf an seine Brust. Sie fühlte die wohlige Wärme der Sonne auf ihrer Haut. „Aaaahhh, herrlich!“
Es war ein perfekter Sommertag.
 
 
 
 
 
 
 
- ENDE-

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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