Helmut Wurm

Welche ist Deine Pensionärs-Rolle?

 


Lieber Kollege/liebe Kollegin....

 

weil wir schon früher als Sie in den dritten Lebensabschnitt entlassen oder auch abgeschoben wurden (der 1. Lebensabschnitt ist die Jugend, der 2. die Berufszeit, der 3. die Pensionärszeit), möchten wir für Sie einige Vorhersagen wagen, wie es nach ihrer Pensionierung kommen könnte. Wir halten uns dabei an das Muster einer klugen Wettervorhersage, die sich nicht festlegt, sondern alles offen lässt - nach der Devise: „Wenn es nicht regnet, scheint die Sonne, wenn es nicht kalt wird, wird es warm“. Also: Was kann Sie erwarten?

 

1. Szenario – das Negativ-Szenario:

 

 - Ab dem Zeitpunkt, an dem Sie die Schulschlüssel abgegeben haben, fühlen Sie eine Tür hinter sich zugeschlagen. Sie stehen jetzt vor der Tür, Sie sind aus dem Verein draußen, in dem Sie so viele Jahre Mitglied waren. Man hat Ihnen die Insignien der Zugehörigkeit abgenommen. Sie fühlen sich wie Robinson Crusoe auf einem unbekannten Eiland gestrandet.

 

 - Da Sie keine Strukturen mehr in Ihrer Zeit haben (als Lehrer unterschied man die Wochentage nach dem jeweiligen Unterrichtspensum, nach Aufsicht und Konferenzen) verrinnen die Wochentage wie bei den Eingeborenen im tropischen Regenwald ohne Jahreszeiten, die nicht wissen, ob es Frühling oder Herbst ist und wie viele Jahre sie bereits gelebt haben. Sie unterscheiden die Zeit künftig wie diese Eingeborenen nur noch nach „vor kurzem“ oder „vor längerer Zeit“. Ihre Frau/Ihr Mann muss Sie dann daran erinnern, dass es heute Dienstag ist und Sie zum Steuerberater bestellt sind.

 

 - Sie beginnen sich immer mehr zu langweilen. Jeder Tag ist gleich leer, ohne Anforderungen, ohne Verpflichtungen, ohne Stress. Sie fühlen sich wie ein Gefangener, der ohne Arbeitsverpflichtung seine Zeit absitzt – nur bezüglich der Wohnqualität geht es Ihnen besser als einem Gefangenen. Die Mahlzeiten allein bringen noch etwas wie Abschnitte in Ihren Tagesablauf. Sie beginnen dauernd zu telefonieren, Leute einzuladen, stundenlang am Fenster zu sitzen und die Straßen und Leute zu beobachten. Eine Lieblingsbeschäftigung wird werden, von der Vergangenheit zu erzählen, obwohl alle Ihre Geschichten schon längst kennen. Es kann sogar vorkommen, dass Sie tagelang das Bett nicht mehr verlassen und nur stumpf an die Zimmerdecke starren. Sie träumen nachts von Schülern, die die Hände flehendlich nach Ihnen ausstrecken und rufen:“ Sie waren der beste Lehrer, lassen Sie uns nicht allein, kommen Sie zurück“. Jeder Tag ist grau, auch wenn die Sonne scheint.

 

 - Sie altern schnell, sehen bald aus wie Ihr eigener Urgroßvater/Ihre eigene Urgroßmutter, schlurfen durch die Wohnung, vornüber gebeugt, seufzend, depressiv, hypochondrisch. Die Ärzte freuen sich, dass es Sie gibt, denn sie verdienen an Ihnen gut, obwohl Sie eigentlich nicht richtig krank sind. Aber Krankheit, eingebildet oder echt, ist noch das Einzige, mit dem Sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Und wenn Sie dann ab und zu vor das Haus schlurfen, sagen die Nachbarn frei nach Wilhelm Busch: „Ei der Dauz, der alte Kauz/die alte Käuzin lebt noch“.

 

2. Szenario – das Positiv-Szenario:

 

 - Sobald Sie den Schulschlüssel abgegeben haben, durchläuft Sie ein nicht zu beschreibendes Glückgefühl. Endlich sind Sie raus aus diesem Berufskorsett, endlich ist man frei, jetzt beginnt das große Rentnerglück, jetzt sind die Ketten

gelöst. Diese Schlüssel wollen Sie nie wieder haben. Mit einem befreienden Schrei der Freude verlassen Sie das Schulbüro.

 

 - Jetzt endlich kommt eine Struktur in Ihr Leben, eine beglückende Struktur anstelle der lästigen Pflichtstruktur. Montag ist z.B. Schwimmtag, Dienstag vielleicht Tennistag, Mittwoch Radfahrtag, Donnerstag Joggingtag, Freitag ist Wandertag, Samstag ist Besuchstag mit Grillabend und Sonntag ist der Tag einer Landpartie in die Umgebung usw. (hier sollte man Passendes aus der  jeweiligen Interessenlage des Betreffenden/der Betreffenden auswählen). Anstelle des hastigen Frühstücks morgens vor der Schule wird jetzt in Ruhe, mit der Zeitung daneben, gefrühstückt: Ei, Butter, Honig, Marmelade, Quark, guter Kaffee... Das Abendessen steht nicht unter dem Druck, sich danach noch vorbereiten oder korrigieren zu müssen, sondern beschließt in Ruhe den Rentnertag. Anschließend werden die Füße hochgelegt, ein Glas Wein getrunken und Musik gehört. Sie könnten jauchzend verrückt werden vor Freude, wenn Sie nur daran denken.

 

 - Sie können sich jetzt endlich intensiv mit dem beschäftigen, was Sie schon immer als eigentlichen Lebenssinn tun wollten, z. B. ein Buch schreiben, weite  Reisen machen, Bilder malen, den Garten gestalten ... (hier sollte man wieder Passendes aus der Interessenlage des/der Betreffenden auswählen).

 

 - Jeder Tag ist ein Sonnentag, auch wenn der Himmel grau ist und es regnet. Sie werden täglich frischer, lebhafter und jünger. Die grauen Haare werden wieder farbig und wachsen dort wieder nach, wo sie schon fehlen. Ihre Haut wird straffer, alle Falten verschwinden, Sie gehen aufrecht und federn. Ihre ganzes Denken wird positiv und unternehmungslustig. Wenn Sie das Haus verlassen, fragen sich die Nachbarn: „Ist er es oder sein bisher verschwiegener Sohn/seine verschwiegene Tochter“? Und Ihre Frau/Ihr Mann fragt sich verunsichert: Macht er/sie heimlich eine ganz neuartige Verjüngungskur?...

 

Vermutlich wird, ähnlich einer klugen Wettervorhersage, die Wirklichkeit Ihres neuen Pensionärslebens zwischen diesen beiden Möglichkeiten verlaufen. Aber es wird Ihnen sicher von allen gewünscht, dass sich Ihr Pensionärsleben mehr nach dem Muster des Glücks-Szenario entwickelt. Und wer Sie gut kennt weiß, dass für das hier beschriebene Glücks-Szenario bei Ihnen die Voraussetzungen vorhanden sind. Machen Sie deswegen nicht den Fehler, sich noch im letzten Moment überreden zu lassen z. B. Vertretungsunterricht zu geben. Geben Sie die Schlüssel ab. 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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