Lucía M.

Wortlos

 
An mein letztes Gespräch mit Patrick erinnere ich mich nicht mehr.
 
Ich war zu bekifft, um solche Belanglosigkeiten im Gedächtnis behalten zu können.
An unseren letzten gemeinsamen Joint erinnere ich mich jedoch. Gutes Zeug, Freddy hatte es mitgebracht. Zu gutes Zeug.
 
Patrick saß auf der grauen Couch... Nein, nein, falsch. Er lag. Er lag auf der grauen Couch, trug seine grüne Mütze. Seine grüne Mütze von Bench war sein ständiger Begleiter.
Patrick, Freddy, Tille und ich. Es war ein Abend wie jeder andere. An jenem Abend waren wir nur zu viert. Das Zeug war zu viel für die Jungs und mich.
 
Eine Chance, sich zu verabschieden, hatte er nicht. Weder von seinem Vater, der ihn fast so sehr liebte, wie die nächtliche Flasche Whisky, noch von seiner Mutter, die vor einem halben Jahr zu dem sieben Jahre jüngeren Schotten zwei Dörfer weiter gezogen war. Auch nicht von seinem älteren Bruder, der zum Zeitpunkt Patricks Todes auf Erkundungsreise in Südafrika war.
Er hatte keine Chance, sich von uns zu verabschieden.
 
Die Vergangenheit lässt sich nicht noch einmal überarbeiten.
Sie verfolgt dich und klagt an. Schweigend schreit sie dir ununterbrochen hinterher: Du bist schuld! Keine Begründung, nur die Anklage. Immer wieder diese Anklage. Freddy klagt sie an, Tille und mich. Den rasenden Mercedes klagt sie an.
Es hätte alles anders ablaufen können. Wir hätten Patrick davon abhalten können, mitten in seinem Rausch sich auf der Bundesstraße auf den Weg zu seiner Freundin zu machen. Der rasende Fahrer im Mercedes hätte die Musik nicht so laut stellen sollen, dann hätte er sich besser konzentriert und Patrick rechtzeitig im Dunkeln erkennen können. Wir hätten den letzten Joint nicht anhauen sollen.
Dann hätte Patrick sich nicht völlig bekifft mit Kopfhörern auf den Ohren auf die Straße gesetzt. „Er saß einfach da, im Schneidersitz, bewegte sich nicht!“, erklärte der Fahrer im Mercedes verzweifelt. Er hatte Patrick zu spät bemerkt.
 
Hätte, sollte, könnte, wäre. Verdammt. Nein, die Vergangenheit lässt sich nicht noch einmal überarbeiten. Und sie verfolgt dich und klagt an.
 
Heute sitze ich mit Tille auf der grauen Couch. Starre auf die Tür und warte auf Freddy. „Alter“, gibt Tille von sich, als er sich eine Kippe zwischen die trockenen Lippen klemmt. „Wo bleibt'n der Junge?“ Freddy ist spät dran. Und wir warten auf ihn, auf das Gras, das er bringen soll. Es ist ein Abend wie jeder andere zuvor.
Fast.
Der Raum füllt sich mit dem scharfen Rauch der Zigarette. Tille raucht, eine nach der anderen. Zieht, pustet. Zieht, lang und tief in seine Lunge, bläst den Rauch durch den halb geöffneten Mund wieder hinaus. Und ich starre durch den vernebelten Raum auf die Tür am anderen Ende des Zimmers.
 
Melanie.
Sie lässt sich nicht mehr blicken. Schließt sich in ihrem Zimmer ein, spricht nicht, mit keinem. „Sie will niemanden sehen, tut mir leid“, erklärte ihre Mutter vorsichtig, als Tille und ich vor ihrer Haustür stehen.
Melanie schweigt und wünscht ihm einen qualvollen Tod, dem Fahrer im Mercedes, der ihre zweijährige Beziehung zu Patrick beendet hatte.
 
 
Ja, auch ich versuche, den Schmerz des Verlust mithilfe von flüssigem Salz aus mir herauszuschwemmen. Weine und schluchze, wochenlang an meine feuchte Bettwäsche geklammert. Bis schließlich meine Mutter vorsichtig das verdunkelte, stickige Elendsloch betritt, sich auf dem schmalen Bett an mich schmiegt und mich umklammert mit ihrer ganzen Kraft ihres kleinen, zierlichen Körpers. Erst wehre ich mich, schreie. Aber sie hält mich weiter fest und fordert mich mit fester Stimme auf, mich zu beruhigen. Wieder und wieder. Sie umarmt und streichelt mich und ich weine wieder, fühle mich schwach in ihren Armen. „Lenk dich ab. Denk nicht mehr dran, du machst dich verrückt. Vergiss es, hörst du?“
 
Sie redet Stuss. Vergessen kann man nicht. Man kann es außer Acht lassen.
Ich nicht.
 
Vielleicht ist das der Grund, warum Fred am heutigen Abend zur Tür hereinkommt und nicht die übliche Bestellung mitbringt. Es ist ein Papierbriefchen mit feinem, schneeweißen Pulver, das er uns auf den Schoß wirft. Wortlos.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.12.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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