Birgit Althöfer

Ein Wintermärchen

Es liegt schon ein eisiger Winterhauch über dem Silbersee am Waldrand. Die Tiere des Waldes wissen, was das bedeutet. Bald zieht der Winter ins Land mit Schnee und eisigen Stürmen, mit Kälte und Hunger. Die Tiere des Waldes fürchten diese Zeit im Jahr. Sie suchen zwar Schutz in ihren Höhlen und Verstecken, aber zwischendurch müssen sie hinaus in Eis und Schnee, nach Nahrung suchen.
In diesem Winter war alles anders.
Viel zu früh und überraschend zog der Winter ins Land und bedeckte alles mit einer weißen Haube. Der Boden war schon sehr früh hart gefroren und die meisten Tiere hatten keine Zeit, Vorräte anzulegen oder sich eine kleine Speckschicht anzufuttern. Das brachte sie in Not. Es breitete sich unter den Tieren eine seltsame Stimmung aus Neid, Missgunst und der Sorge, nicht genug zu fressen zu haben, aus.
Und es kam noch schlimmer.
Es war ein paar Tage vor Weihnachten, und in früheren Jahren feierten die Tiere des Waldes dieses Fest gemeinsam, der Wolf neben den Hasen, die Wildkatze neben dem Fasan, in friedlicher Eintracht. Sie trugen jedes Jahr all ihre Vorräte an Futter zusammen, luden alles auf  der großen Waldlichtung ab und bis Weihnachten sammelte sich so Speise um Speise und alle hatten genug zu fressen. Doch dieses Jahr hatte jeder Angst um sein Futter, jedes wollte alles für sich behalten aus Sorge vor Hunger. Obwohl es all die Jahre gut funktioniert hatte und durch das Zusammentragen jeder genug abbekam, wollte es diese Jahr nicht klappen und das gemeinsame Fest war in Gefahr.
Aber die Lage wurde noch dramatischer.
Bald begannen die stärkeren Tiere damit, den schwächeren ihre Beute abzujagen, die sie mühsam nach langen Wanderungen nach Hause brachten und einige wurden bei diesen Raubzügen sogar verletzt.
Eine ganze Weile sah sich die Weihnachtsfee mit besorgter Miene die Geschehnisse auf der Erde an und grübelte darüber, wie sie die Geschicke in eine andere Richtung lenken könnte. Als die Situation unter den Tieren immer dramatischer wurde, beschloss sie etwas zu unternehmen. Es war vier Tage vor Weihnachten und eines nachts, als alle schliefen, sammelte sie alle Jungtiere mit ihrem Sternenstrahl zusammen und führte sie in eine geheime Höhle. Die Jungen hatten keine Angst, denn sie kannten die Weihnachtsfee gut aus ihren vielen Träumen und sie wussten sicher, dass sie Gutes vorhatte und ihnen kein Leid geschehen würde.
Am nächsten Morgen wurde der sonst stille Winterwald schon sehr früh von vielen Stimmen aus verschiedenen Richtungen durchdrungen. Die ersten Tiereltern hatten bemerkt, dass ihre Jungen nicht mehr da waren und sie liefen rufend im Wald umher. Die Rufe wurden immer lauter und sorgenvoller und bald war der Wald durchdrungen von verzweifelten Stimmen. Die Tiere versammelten sich auf der großen Lichtung, wo sie zuvor schon viele schöne Weihnachtsfeste gefeiert hatten. Vergessen waren die Jagd nach Futter und die unschönen Szenen, die sich Tage zuvor im Wald abgespielt hatten. Aufgeregt versammelten sich die Tiere und sprachen wild durcheinander, bis der alte weise Uhu das Wort ergriff.
„Seid ruhig“ rief er mit lauter, klarer Stimme. „Ihr alle hier, die ihr versammelt seid, glaubt ihr denn, es ist Zufall, dass in einer Nacht all unsere Jungen, unser kostbarstes Gut, unsere Zukunft, so einfach verschwinden? Wir müssen uns fragen, was dahinter steckt, und ich glaube, jeder von uns weiß die Antwort. All die vielen Jahre haben wir vor Weihnachten einträchtig unsere Gaben bereitgestellt und geteilt und jeder hatte genug. In diesem Jahr haben wir diese wunderbare Vorbereitung auf das Weihnachtsfest mit Füßen getreten, jeder hat nur an sich gedacht, aus Angst ja, aber es war kein gutes Ergebnis. Seht euch an, es gab sogar Verletzte dabei und wir haben es nicht gut gemacht. Und, was noch wichtiger ist, wir haben unseren Jungen kein gutes Vorbild gegeben, was sollen sie denken, dass es richtig ist, einem Anderen die schwer erkämpfte Beute abzujagen und nur an sich zu denken? Und dabei Andere zu verletzen? Nein, das ist nicht das Weihnachtsgebot, nach dem wir all die Jahre gelebt haben. Wir hatten schöne Feste und es blieb kaum ein Wunsch offen. Deshalb geht in Euch und überlegt, ob wir unser Weihnachtsfest noch retten können, zum Wohle unserer Jungen und unser selbst. Ich erwarte die Antwort morgen früh auf unserer Lichtung, also schlaft gut und habt friedliche Träume.“
Wie immer in problematischen Situationen traf der alte, weise Uhu in seinen Reden genau den Punkt und sie achteten ihn dafür sehr. Beschämt sah jeder den Anderen an und sie gingen schweigend und in Gedanken versunken in ihre Behausungen.
Doch in der Nacht geschah noch etwas.
Die Weihnachtsfee, die eigentlich nur die Kinderträume besuchte, schickte jedem von ihnen eine einfache Botschaft, feiert euer Weihnachtsfest wie bisher, in Gemeinschaft und Harmonie.
Seltsam beseelt und friedlich erwachte jedes Tier am Morgen und alle begannen, ihre Vorräte und Habseligkeiten auf die Lichtung zu tragen, Einer nach dem Anderen. Die Rede des Uhus, der Schlaf und der Traum hatten Einsicht und Frieden unter den Tieren verbreitet. Es kam eine Menge zusammen, jedoch betrachteten die Tiere mit Sorge ihre Habseligkeiten und sie wussten, es würde nicht reichen für alle. Sie trugen ihr Anliegen dem Uhu vor. Der weise, alte Uhu kannte die Sage um die Weihnachtsfee von seinen Ahnen und er glaubte auch daran, dass es sie gab. In diesem festen Glauben sagte er zu den Tieren: „Lasst uns einfach weiter machen mit unseren Weihnachtsvorbereitungen, sammelt Holz für ein schönes helles Feuer, schmückt die Bäume und haltet Ausschau nach unseren Jungen, denn es sind nur noch zwei Tage bis Heiligabend.“
Ganz leise und schüchtern aus den hinteren Reihen fragte eine Rehmutter: „Aber was tun wir, lieber Uhu, wenn unsere Jungen am heiligen Abend nicht zurück sind?“ Alle schauten sich ein wenig hilflos und zweifelnd an, doch der Uhu sprach: „Ich bin meiner absolut sicher, dass uns die Weihnachtsfee unsere Jungen wohlbehalten zurückbringt. Sie hat sicherlich beobachtet, mit wie viel Mühe und Zusammenhalt wir in diesen schwierigen Zeiten unser Weihnachtsfest vorbereitet und dass wir einen Weg aus unseren Streitigkeiten gefunden haben. Wir müssen und können jetzt einfach nur noch warten und geduldig sein.“
Mit diesen Worten verließ der Uhu die Lichtung, die schon festlich geschmückt war. Auf den Bäumen glitzerte Eis und Sonne wie tausend kleine Lämpchen. Von jedem Baum hingen Ketten von Zapfen, Kastanien und Eicheln, die ebenfalls mit zartem Glitzern überzogen waren. Das Lager rund um das Feuer war ausgepolstert mit Moos und Tannenzweigen. Es sah sehr gemütlich und einladend aus und mit diesem letzten Bild ging ein jedes Tier schlafen. Sie träumten vom Wiedersehen mit ihren Jungen und von einem friedlichen Weihnachtsfest.
Es war der 23. Dezember. Alle Tiere hatten sich auf der Lichtung versammelt und einem jeden Tier sah man die große Enttäuschung an. Keine Spur von ihren Jungen, jeder hatte gehofft, dass sie zurückgekommen wären, aber es war weit und breit nichts von ihnen zu sehen.
Sie murmelten alle irgendetwas und einer, der Dachs, sprach aus, was alle dachten: „Wir werden sie niemals wieder sehen, sie bleiben verschwunden.“
Da flatterte der alte Uhu herbei und ermahnte sie mit freundlichen Worten: „Habt Geduld, meine Freunde, es ist noch nicht zu spät und es ist ein langer Weg herab vom Sternentraumhimmel zurück zur Erde.“ Er war sich absolut sicher, dass alles gut ausgehen und sie alle am nächsten Tag ein wunderschönes Fest feiern würden, zusammen mit all ihren Jungen. Der restliche Tag verlief sehr still und schweigsam. Jedes Tier versuchte sich so gut es ging mit den letzten Vorbereitungen abzulenken. Sehr früh zogen sich die Tiere in ihre Höhlen und Verstecke zurück.
Doch plötzlich ließ sie ein heller Schein, grell und strahlend zugleich, aus ihren Höhlen erscheinen. Sie standen alle geblendet und staunend da. Niemand bekam ein Wort heraus und keiner wagte es, sich zu rühren. Was sie dann sahen, übertraf ihre kühnsten Vorstellungen und Phantasien.
Auf einem gleißenden Silberstrahl, der wie eine Treppe aus tausend Sternen aussah, stiegen nach und nach ihre Jungen zur Erde herab; die Eichhörnchen, die Füchse, die Dachse, die Rehe, die kleinen Enten, die Mäuse, die Hasen, die Fasanenhühner, die Wölfe, die Wildkatzen, die Adler, die Bären, die Spechte, die vielen verschiedenen Vogelarten wie die Zaunkönige, die Meisen, die Buchfinken und die Tiere des Waldes und er Felder. Nach und nach, Tier für Tier, stiegen sie auf dem gleißendem Licht herab und ihre Tiereltern empfingen sie glücklich. Alle jubelten und freuten sich, denn kein einziges Junges fehlte.
Und überall auf der Erde, wo der mächtige Sternenstrahl den Boden berührte, verwandelte sich das auftreffende Licht in Nahrung für die Tiere: Körner und Mais für die Vögel und Rehe, Grünzeug für die Hasen, Fleisch für die Wölfe und Dachse; für jeden war etwas dabei. Die Freude und der Jubel der Tiere wurde immer lauter, denn jetzt hatten sie genug Futter für ein wunderbares Weihnachtsfest.
Mit einem wohlwollenden Lächeln grüsste die Weihnachtsfee die Tiere. Sie stand da, in ein wunderbar warmes Licht getaucht und zum ersten Mal sprach sie direkt zu den Tieren: „Liebe Tiere des Waldes, ihr habt jetzt alles, was ihr für ein schönes Weihnachtsfest braucht. Feiert ein friedliches Weihnachten, erfreut euch an euren Jungen und zeigt ihnen eure Liebe. Und lasst den Geist der Weihnacht in eure Herzen ziehen. Denkt für immer an diese Zeit vor Weihnachten und vergesst nie, euch gegenseitig zu helfen und zu stützen. Lebt wohl, meine Tiere des Waldes und frohe Weihnachten!“
Mit diesen Worten entschwand die Weihnachtsfee auf ihrem Sternenstrahl und schickte noch einen wunderbaren Sternschnuppenregen zur Erde, der den Wald glitzern und die Tiere staunen ließ. Noch bis tief in die Nacht durchdrangen fröhliche Stimmen den Wald und in der Luft schwangen zwei Worte: „Frohe Weihnachten“
 
Dezember 2010
Birgit Althöfer

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