Diethelm Reiner Kaminski

Ausgerutscht



Wieder eine dieser überflüssigen Meldungen im Regionalfernsehen. Dreißig Prozent mehr Glatteisopfer in diesem Winter als im Vorjahr. Das muss ich nicht aus den Medien erfahren. Ich brauche nur durch die Stadt zu gehen und zu zählen. Die Fernsehfuzzis übertreiben, das ist mal klar, sie leben von der Sensation, da mache ich mir lieber mein eigenes Bild. Ich möchte aber den Typen nicht noch in die Hände spielen und die Statistik verbessern helfen. Deshalb schnalle ich meine Winterspikes unter, bevor ich das Haus verlasse. Mich bringt das neuerliche Blitzeis nicht zu Fall. Das Hinknallen mit anschließendem Krankenhausaufhalt überlasse ich den Leichtsinnigen, den Ignoranten, denen, die denken, ein Schutzengel begleite sie. Da liegen auch schon die ersten. Ohne Schutzengel an der Seite. Ich zähle fünf auf einer Länge von hundert Metern. Einige müssen da schon länger liegen, denn sie sind ganz weiß beschneit. Typisch mal wieder für unsere Stadt. Dass sie im Winter Sand oder Salz streut, erwartet man schon gar nicht mehr, aber dass sie nun offensichtlich auch schon den medizinischen Räumdienst eingestellt haben, ist echt ein Ding. Da liegen sie nun und behindern den Verkehr. Könnte man sie denn nicht wenigstens an die Seite schieben? Aber so? Manche mitten auf der Straße. So schwer verletzt können sie doch eigentlich gar nicht sein, dass sie sich nicht aus eigener Kraft auf den Bürgersteig schleppen könnten. Ich stippe einen probeweise mit meinen Spikes an, aber der rührt sich nicht mehr. Wer weiß, wie lange er hier schon zur Staubildung beiträgt. Viele Autofahrer sind vernünftiger, sie haben ihr Auto gar nicht erst aus der Garage geholt. Es sind die Rentnerinnen und Rentner, die es nicht lassen können. Rein in die Sommerslipper mit Ledersohlen, und dann bei Glatteis auf die Piste. Eigensinnige Sippe. Aber hinterher jammern und anderen die Schuld geben. Ich mache mir zu viele Gedanken. Jetzt habe ich mich verzählt. Wie viele waren es von der Haustür bis zum Kaiserplatz? Einundzwanzig oder zweiundzwanzig? Auf jeden Fall deutlich mehr als im vorigen Jahr zur gleichen Zeit. Und mehr Totalausfälle. Vielleicht sind unsere Medien doch nicht so gewissenlos. Meine kleine persönliche Stichprobe kann nicht repräsentativ sein, das weiß ich selber, aber eine dreißigprozentige Steigerung erscheint mir als gar nicht mehr übertrieben nach meiner persönlichen Inaugenscheinnahme. Da kann ich beruhigt umkehren. Verdammt, au, so ein Mist, jetzt bin ich doch tatsächlich über einen dieser steifgefrorenen Kerle gestolpert. Das ausgerechnet mir, wo ich doch aufgepasst habe wie ein Luchs. Kein Räumdienst in Sicht. Und keine Spaziergänger. Die pflastern anscheinend alle schon die Straßen, und der Rest kommt nicht mehr durch. Ich versuche vergeblich an den Straßenrand zu robben. Meine Hüfte, mein Arm, mein Kopf, alles schmerzt höllisch. Klar ist zumindest: Unseren Medien habe ich Unrecht getan. Das muss ich wieder ausbügeln. Aber woher beziehen die eigentlich ihre präzisen Informationen, wo sie sich doch fast nie in der Öffentlichkeit blicken lassen. Aus den Krankenhäusern und Kliniken jedenfalls nicht, denn dort kommt ja kaum jemand an. Vielleicht durch Luftüberwachung vom Hubschrauber aus? Jetzt umringt von einem Fernsehteam mit elektronischen Kameras und wärmenden Scheinwerfern … Zu schön, um wahr zu sein. Ich hätte denen ganz schön was zu erzählen.

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