Johannes Schlögl

Der Betriebssystemdesigner oder ...

Der Betriebssystemdesigner oder

Strg+Alt+Entf Service Pack 1


Thorsten Linuit saß seit zwei Stunden in der Dankbar und trank seinen vierten Pinguin. Das Getränk wirkte kühlend auf sein heißblütiges Wesen. Die bläulichen Nordlichter, von versteckten Beamern produziert, erzeugten an der phosphoreszierenden Decke der Nachtbar ein kühles und ruhiges Ambiente. Und das hatte Thorsten Linuit bitter nötig, denn Dezember 2040 war in finanzieller Hinsicht für ihn kein guter Monat gewesen.
Thorsten kam regelmäßig in diese Bar, denn er liebte die hiesige Warteschleifenmusik, welche aus Dutzenden versteckter Lautsprecher ein heimeliges Raumklima schuf. Außerdem war er in dieser Bar unter seinesgleichen. Gegen 24 Uhr wimmelte es meistens in diesem Lokal von Designern der unterschiedlichsten Klassen, Qualitäten und Betriebssysteme. Nur die Drogendesigner hatten in den Räumlichkeiten Hausverbot. Gesprochen wurde in und an der Bar sehr wenig, denn gegen Mitternacht, wenn das Lokal voll besetzt war und über 50 Notebooks in der Hitze der Nacht sich immer lauter zu kühlten, der Warteschleifenmusikgenerator neuste lizenzfreie Kreationen an Synthesizermelodien in feinster Midi Qualität aus seinen Lautsprechern didel- und düdelte, war das Heavy Digital Feeling der Designer fast erreicht. Thorsten Linuit kannte alle ihre Spitznamen. Seine Blicke schweiften über die Ansammlung an „Fenstermachern“, „Sägefischen“, „Zwergeformern“ und friedlichen Atombombensimulationsprogrammdesignern, die es sich an den vielen kleinen runden Wiener Kaffeehaustischchen gemütlich gemacht hatten. Natürlich hatte jeder von ihnen beim Türsteher eine Einzelplatzlizenz für 20€ erworben und sich registrieren lassen. Diese Möglichkeit wurde von allen, aber besonders von den Mitarbeitern und Designern des Konzerns „Fenster & Kompanie“, dankend angenommen. Ein Einzelplatz bedeutete ein eigenes Tischchen mit nur einer einzigen Sitzgelegenheit. Im übrigen war das ganze Nachtlokal mit solchen Einzelplätzen bestückt, abgesehen von den 12 Barhockern am aus ionitrierten Flüssigkristallen gefertigten Tresen. Nur aus dem Separee des Lokals drang durch die schallgedämmte Tür harte unverfälschte Rockmusik. Einmal in der Woche versammelten sich darin die klügsten Programmierer und Designer für freie, kostenlose Betriebssysteme der Stadt und feierten ihren sogenannten „Release Day“. Auf Grund der Musik dürfte es sich diesmal um den längst erwarteten neuen Audioplayer „Ampere 4“ handeln, der heute Nacht frei verfügbar und gratis für jeden ins Netz gestellt werden würde, vermutete Thorsten. Da sein Getränk zur Neige ging, bestellte sich Linuit ein neues gut gefülltes Glas. Dazu steckte er die Kreditkarte in den vorgesehenen Schlitz auf seinem runden Tischchen und tippte am kleinen Touch Screen neben dem Kartenlesegerät die Nummer des Getränks ein. Die Bedienung erfolgte rasch und wortlos.
Thorsten nahm einen großen Schluck. Allmählich sank sein IQ auf ein erträgliches Maß und er spürte, wie sich wohlige Wärme von seinem Magen aus über den ganzen Körper ausbreitete. Seit zwei Wochen arbeitete er bis zu 16 Stunden am Tag an einem neuen Aussehen für die Desktop Oberfläche seines neuen schnellen Betriebssystems, das er, durch Zufall im Internet entdeckt, sich von einem kleinen ihm unbekannten privaten Home Server namens „JD 2040“ „organisieren“ konnte. Aber nach allen logischen, psychologischen und neurologischen Überlegungen hatte er eine Desktop Oberfläche kreiert, welche – im eigentlichen Sinn – keine war. Das Display seines Notebooks erstrahlte in schönstem Himmelblau. Keine Icons, keine Startleiste, keine Mausfunktionen – Nichts. Er hatte die Reduktion bis zur digitalen Schmerzgrenze ausgereizt. Thorsten war so übermüdet und gestresst, dass er nicht einmal mehr wusste, ob es sich noch um seine Desktop Oberfläche handelte, oder ob das System bereits abgestürzt war.
Würde er dieses Design überhaupt an die Frau oder den Mann bringen, also verkaufen können? Thorsten nahm einen kräftigen Schluck und überlegte. Aus dem Separee drangt schallendes Gelächter und anschließend das Knallen Dutzender Sektkorken.
Nachdem Thorsten längere Zeit die Desktop Oberfläche des Notebooks eines „Fenstermachers“ am Nebentischchen betrachtet und die wütenden Blicke des davor sitzenden Designers geerntet hatte, weil dieser Thorstens neugierige Blicke anscheinend bereits als geistigen Diebstahl und Verletzung seines Urheberrechts ansah, beschloss Thorsten Linuit, sich auf den Heimweg zu machen. Er war schon dabei, sein Notebook einzupacken, als sich die Tür des Separees öffnete und eine hübsche junge Frau heraustrat. Er erkannte sie sofort. Es war eine Bekannte von ihm. Ella Green! Auch sie hatte ihn sogleich gesehen und ging geradewegs lachend auf ihn zu. Nach einer langen und herzlichen Begrüßung forderte sie ihn auf, doch einfach mit ins Separee zu kommen. Auf Thorstens Frage, ob denn die Lizenz für das Betreten des Separees sehr teuer sei, er war knapp bei Kasse, musste Ella schallend lachen und erntete verwunderte Blicke von diversen Lokalbesuchern, die sich durch ihre offene und fröhliche Art irgendwie gestört fühlten. Sie nahm Thorstens linke Hand und zog ihn mit sich zurück ins Separee. Ella ließ ihm beinahe kaum Zeit, seinen Computer mit zu nehmen.
Es herrschte ein reges Treiben und viel Gelächter im Raum. Die Tische waren im Kreis aufgestellt, sodass jeder alle anderen deutlich sehen konnte. Während sich ein Teil der Anwesenden an einer improvisierten Sektbar vergnügte und in unterhaltsame Gespräche vertieft war , tippte der Rest des Festgemeinde eifrig in die Tasten ihrer Notebooks und schien einen mordsmäßigen Spaß dabei zu haben. Außerdem hatten sie alle ihre Rechner an einen in der Mitte des kleinen Saales stehenden riesigen Server, mit eingebauten 200 Watt Stereoboxen an seinen Flanken, angekabelt. Thorsten hatte schon von solchen legendären Serverboxen gehört, aber noch nie einen dieser Exoten zu Gesicht bekommen. Die letzten dieser digitalen Dinosaurier wurden im Jahr 2030 produziert. Sie waren damals schon nicht mehr die schnellsten. Aber dafür waren sie billig und liefen sehr stabil. Des weiteren konnten sie von eingebauten ROM-Festplatten lauten, lizenzfreien Hardrock aus den 60-er und 70-er Jahren des vorigen Jahrhunderts wiedergeben. Ella holte einen unbenutzten Sessel aus einer Ecke des Raums und stellte diesen neben ihrem eigenen Stuhl an den Tisch. Als beide Platz genommen hatten, sprang plötzlich ein junger Mann, der ihnen gegenüber in der Runde saß, auf und schrie, „Blue! – ganze 10 Sekunden!“ Die Menge tobte und klatschte Beifall. Ella sah, dass Thorsten keine Ahnung hatte, was hier abging. Also erklärte sie ihm das sogenannte „Spiel“. Sie nannte es das „Blue Screen Spiel“. Vor etwa einem Monat hatte ein gewisser Joshua Dent ein freies offenes und kostenloses Betriebssystem entwickelt, von dem er behauptete, dass es nicht mehr abstürzen könne. Und um dies unter Beweis zu stellen, hat er es vorläufig verschlüsselt und zum weltweiten kostenlosen Download ins Netz gestellt. Des weiteren hat er angekündigt, den ersten 3 Personen 100000€ zu zahlen, denen es gelänge, das System derart zu schädigen, dass es nicht nur abstürzte, sondern sich selbst überhaupt nicht mehr am Rechner hochfahren lassen konnte. Auf Thorstens Frage, ob dies denn schon gelungen sei, antwortete Ella, dass der Rekord einer Blue Screen Anzeige, also ein kurzer Systemabsturz, bei 3 Minuten läge. Erst dann hätte sich das Betriebssystem wieder erholt und weiter fehlerfrei funktioniert – und aus den „Fehlern“ gelernt. Diese Erfahrung wurde dann vom Betriebssystem selbstständig ins Internet gestellt, damit alle anderen von Dent entwickelten Systeme aus diesen Fehlern „lernen“ konnten. Und genau das machte die Sache schwierig. Auch würde Joshua Dent die ersten 3 Personen mit je 20000€ belohnen, welche es schafften, einen totalen System Crash von mindestens 30 Minuten zu erreichen. Als Thorsten Linuit Ellas Geschichte gehört hatte, wurde es ihm plötzlich gleichzeitig heiß und kalt, denn der Name „Joshua Dent“, abgekürzt „JD“, kam ihm bekannt vor. Er stellte sein Notebook auf den Tisch und klappte das Display hoch. Die Desktop Oberfläche leuchtete immer noch in hellstem Blau. Mit seinen schweißnassen Händen drückte Thorsten die universale und zugleich magisch zeitlose Tastenkombination: „Strg+Alt+Entf“. 10 Sekunden lang war keine Veränderung auf dem Bildschirm zu bemerken. Dann erschien auf dem Desktop eine Botschaft, die Thorstens Leben grundlegend verändern sollte. „System crashed! Darunter blinkte eine Zeitangabe. Diese zeigte an, dass bereits 30 Minuten seit dem Absturz vergangen waren und es dem System seitdem noch nicht gelungen war, sich zu rekonfigurieren. Aber das wichtigste für Thorsten Linuit war die Information ganz rechts unten auf dem Bildschirm: „designed and developed by Joshua Dent –November 2040. Wie in Trance erhob sich Thorsten aus seinem Sessel und sprach ganz leise, mehr zu sich selbst, als zu den anderen im Separee: „Blue! – 31 Minuten!“ .....J.


(Anm. d. Autors: die „Dankbar“, “Ella Green“, „Joshua Dent“ sowie „Ampere 4“ sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu Personen, Lokalen und Softwareprodukten, die solche Namen tragen wären rein zufällig und nicht im Sinne des Autors. Bei dem Namen „Linuit“ handelt es sich um keinen Inuit (eig. Name der Eskimo) der Linux auf seinem Computer installiert hat! „linuit“ ist eine Konjugation des lateinischen Zeitwortes „lino 3. levi, litum .....(be-)streichen“ - ....hoff’ ich zumindest, und kommt in der „Vulgata“ (= lat. Bibelübersetzung) vor; und zwar in der Geschichte von der Heilung des Blinden)

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Johannes Schlögl).
Der Beitrag wurde von Johannes Schlögl auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Johannes Schlögl als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Tantenfieber von Volker König



Walter Semmler ist extrem kurzsichtig, ein lausiger Bankangestellter, über vierzig, Mutters Söhnchen und Jungfrau.

Als sich die geheimnisvoll attraktive und junge Tante Goutiette bei ihm einnistet und so sein streng geordnetes Leben bedroht, steht für Semmler fest: Er muss sie loswerden!

Bei dem Versuch stößt der verpeilte Eigenbrötler schnell an seine Grenzen. Kann ihm die nette Frau aus der Bibliothek helfen? Was haben die freundliche Nachbarin oder gar seine Mutter vor? Stimmt mit ihm selbst etwas nicht? Oder steckt hinter all der plötzlichen Unordnung in seinem Leben am Ende doch etwas ganz anderes?

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Satire" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Johannes Schlögl

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Supergau des Super – DAU ... von Johannes Schlögl (Sonstige)
Der Igel von Kerstin Köppel (Satire)
Der Stiefvater von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen