Lucía M.

Mitten ins Herz

Ich lag auf dem Bett und hielt mir die Ohren zu. Presste die kalten, feuchten Hände an meinen Kopf und versuchte, meinem dumpfen Herzschlag zu lauschen. Vergeblich. Es wurde von dem Gebrüll im Flur übertönt. Das Gekreische meiner Mutter und die Faust des Mannes, die auf den Tisch schlug. Das unbändige, verzweifelte Schluchzen. „Aufhören zu flennen, hab ich gesagt! Lieber in Zukunft besser überlegen, wessen Geld du heimlich versäufst, elendige Schlampe!“

 

Es war nicht zu ertragen. Nie war es zu ertragen, nicht ein einziger verdammter Tag.

 

Ein Zucken durchfuhr meinen Körper, als ein lautes, klirrendes Geräusch ertönte, sobald eine Glasflasche gegen die Wand geschleudert wurde. Vor meinem geistigen Auge sah ich den Whiskey, wie er bedrohlich über den beigefarbenen Teppich floss, den Tante Elena uns im Jahr zuvor zu Weihnachten geschenkt hatte. Der schöne, teure Teppich - versaut durch einen hässlichen, braunen Fleck, um den sich niemand kümmern würde.

 

Es wird alles gut, bald ist es vorbei. Morgen, ja morgen schon wird es besser. Dann sieht die Welt wieder ganz anders aus.

Wie an einen Rettungsring auf dem offenen Meer klammerte ich mich an diese Hoffnung.

Immer wieder, jeden Tag.

Meine Zimmertür öffnete sich einen Spalt breit. Mein kleiner Bruder zwängte sich durch diesen hindurch und schloss die Tür danach wieder, sanft und geräuschlos. In seinem blau-weißen Schlafanzug stand er da, barfuß, umklammerte seinen weißen Plüschhasen. Sah mich an, ausdruckslos. Er weinte nicht. Vor langer Zeit schon hatte er sich abgewöhnt zu weinen.

„Komm her, Leo. Komm her“, flüsterte ich und löste den Druck meiner Hände auf meinen Ohren. Schlurfend näherte der Junge sich meinem Bett, kletterte hinauf und warf sich dann in meine Arme. Ich streichelte seinen Kopf und hätte mir gewünscht, dass er doch zu weinen begann. Er sollte es nicht unterdrücken, in sich hineinfressen, nein, nicht so wie ich. Denn ich befürchtete, dass so viel geschluckter Kummer wohl kaum in ein so kleines Geschöpf wie er es war, hineinpassen würde. Dort würde es sich ansammeln, stapeln und eines Tages würde er zusammenbrechen, der zarte, junge Körper. „Lass es raus“, hätte ich ihm am liebsten eingeredet, aber ich wusste, dass er nicht auf mich hören würde.

„Eines Tages...“ hauchte ich stattdessen mit dünner Stimme in sein Ohr und wiegte ihn sanft hin und her. Mit geschlossenen Augen schmiegte er sich an meinen zitternden Körper. „...Eines Tages hol ich uns da raus, versprochen.“

Ich hörte, wie die Haustür knallte und die Schreie meiner Mutter schließlich erstickten. Er war weg, endlich. Und sie war allein, sie und die zerbrochene Whiskey-Flasche. Sie schaute nicht in unsere Zimmer, erkundigte sich nicht nach uns. Sie tat es nie.

Behutsam legte ich Leo neben mich auf das Kissen und strich ihm eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die ihm an seiner verschwitzten Stirn klebte.

 

Und mein Herzschlag setzte für einen Moment aus.

 

Fassungslos stand ich dann auf und tapste ans andere Ende des Zimmers, wo ich auf dem unordentlichen Schreibtisch hastig nach meinem Handy kramte.

 

Das Herz pochte mir schmerzlich gegen die Brust, lange lauschte ich dem Anrufton. Bis es endlich von der warmen, tiefen Stimme unterbrochen wurde.

„Hab ich dich geweckt?“, war meine übliche Frage. Ich flüsterte. Marco beschwerte sich nie, wenn ich ihn mitten in der Nacht aus dem Bett holte. Besorgt erkundigte er sich stattdessen nach meinem Befinden. „Ich halt's nicht mehr aus“, erklärte ich verzweifelt. „Seit Stunden geht das wieder so.“ Ich hörte einen tiefes Seufzen am anderen Ende der Leitung. Schweigen. Räuspern. „Aber das ist nicht alles. Da ist noch etwas anderes, Marco. ...Ich...“ Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals und ich versuchte, ihn hinunterzuschlucken. Tränen schossen mir in die Augen, nahmen mir die klare Sicht im Halbdunkeln. Mit zusammengeraffter Kraft zwang ich die Worte über meine trockenen Lippen.

„Leo ist verletzt. Auf seiner Stirn habe ich eben die Wunde entdeckt, eine wirklich grausame Wunde, das Blut ist zwar schon zu einer Kruste getrocknet, aber...“ Plötzliches Schluchzen unterbrach meinen Wortschwall. „...Blaue Flecken an seiner Wange. Und ich hab's erst jetzt gemerkt, weißt du, erst jetzt, es ist ja auch die ganze Zeit so dunkel gewesen im Zimmer... Eben erst hab ich es bemerkt, aber zu spät, verdammt. Dieses Schwein hat es schon wieder getan, hat den Jungen schon wieder geschlagen. Ihr Aktueller, mein ich...“ Meine Stimme schien zu ersticken. Meine zitternden Knie drohten einzuknicken. Ich lehnte mich an die rissige Tapete, meine Beine sackten ein und ich glitt die Wand entlang auf den Boden, setzte mich. Ließ meinen Tränen freien Lauf. Stützte mit den feuchten Händen meinen Kopf und ließ den Krampf über mich ergehen. Ich konnte, wollte nichts dagegen tun.

All die Wochen, Monate. Seit langer Zeit hielt ich meinen Gefühlsausbruch der Verzweiflung nun nicht mehr zurück. Ich schluchzte, weinte, lange und heftig.

„Scheiße“, war die Reaktion meines Freundes. „Schatz, reiß dich zusammen, du schaffst das, hörst du? Bitte glaub mir. Wir kriegen das alles hin, gemeinsam. Ich bin für dich da.“ Ein Satz, bedeutungsvoller als tausend weitere Worte. Ich verspürte den starken Wunsch, bei ihm zu liegen in seinen Armen, den vertrauten Duft einzuatmen, die Wärme zu spüren.

Mit beruhigenden Sätzen redete er behutsam auf mich ein und es war, als säße er direkt hier, neben mir. Ich schloss die nassen Augen, konzentrierte mich auf seine Stimme und ignorierte die Tränen, die mir unaufhörlich die Wange entlang flossen. Er hatte recht, er war für mich da. Ich wusste es und war ihm so unendlich dankbar dafür.

Nach einer Weile erweckte ich den Eindruck, mich beruhigt zu haben und wir beendeten das Telefonat, weil ich zu einem Dialog nicht fähig zu scheinen vermochte. Benommen rappelte ich mich auf, fühlte mich wie nach einem üblen Trip. Und gegen meinen Willen spielte mein überfordertes Hirn plötzlich mit dem Gedanken, einen ordentlichen Trip ausnahmsweise mal wieder möglich zu machen, sehnte sich nach einem Rausch, wie ich ihn so oft schon hatte, damals...

Aber nein!, schlug mir die Vernunft diesen Teufelsgedanken rechtzeitig aus dem Kopf. Und machte mich stolz. Damit fängst du nicht wieder an, schließlich hast du bisher auch durchhalten können!, dachte ich halbwegs erleichtert und legte mich in das Bett, neben Leo. Streichelte zärtlich seine Wange, die unverletzte. Nein, du brauchst es nicht, jetzt nicht mehr, denn du hast ihn. Marco.

Diese Erkenntnis wurde durch das vibrierende Handy in meiner Hand bestätigt, vor allem als ich die eben erhaltene SMS öffnete.

 

Ich kann es nicht ertragen, wenn du leidest, das weißt du. Lass dir die Last von deinem Herzen nehmen, damit sie dich nicht erdrücken kann, Liebes. Vergiss nicht diesen Glanz in deinen Augen, den ich so an dir liebe, wenn du glücklich bist und das Lächeln auf deinen wunderbaren Lippen, du darfst es nicht verlieren. Ich würde es so sehr an dir vermissen. Weißt du... Ich habe so schreckliche Angst. Um dich. Davor, dass du dem Druck nachgibst und dich verlierst. Uns verlierst. Sei stark, wie du es immer schon warst. Bleib stark. Du bist nicht alleine, ich bin bei dir und ich verspreche dir, dass wir es zusammen schaffen können.

 

„Aber wie?“, war meine Frage, an die Dunkelheit gerichtet.

 

Pause. Dann eine zweite SMS.

 

Vertrau mir. Okay? Ich liebe, liebe, liebe dich so sehr, mein Engel, da musst du immer dran denken.

 

Es war wie ein heimlicher Zauber. Er hatte es wieder geschafft. Meinen Schmerz zu lindern. Tränen der Trauer verwandelten sich in Tränen der Rührung. „Ja, das werde ich“, flüsterte ich lächelnd. Und ich wusste, dass ihn das Lächeln erreichte. Ihn berührte, mitten im Herzen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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