Christa Astl

Letzte Reise

 


Sie ist alt. Sie ist einsam. Sie sitzt im Rollstuhl. Fast den ganzen Tag verbringt sie im Zimmer, nur zum Essen wird sie in den Speisesaal gefahren. Auch dort ist sie allein, obwohl sie zusammen mit einigen Frauen am Tisch sitzt. Sie hört sehr schlecht, ist an beiden Ohren fast taub. Sie hört die Stimmen, sieht, dass die anderen miteinander reden, doch sie versteht nur einzelne Worte, die für sie keinen Zusammenhang bilden. Dadurch kann sie an keinem Gespräch teilnehmen. Sie getraut sich nicht, immer nachzufragen, so wendet sie sich ab, sitzt teilnahmslos dabei. Die anderen glauben, sie will nicht mit ihnen reden, sie sei stolz, eingebildet, möchte was Besseres sein, eine, die mit Namen angesprochen werden will, und lassen sie links liegen. Doch sie ist traurig, einsam, fühlt sich alleingelassen, übergangen, uninteressant, unbeachtet, wertlos.
Am liebsten sitzt sie in ihrem Zimmer. Vertraute Möbel, Zeitungen und Illustrierte auf dem Tisch, der Blick aus dem Fenster. Dem Fernseher schenkt sie kaum Beachtung. Die Zimmernachbarin hat sich aufgeregt, weil er ihr zu laut war, und so schaltet sie ihn kaum mehr ein. Auch die Sehkraft hat nachgelassen und das genaue Hinschauen wird bald zu anstrengend. Einzige Zerstreuung bietet die Zeitung, die sie noch jeden Tag genau studiert.
Oft sitzt sie nur da, starrt auf die gegenüberliegende weiße Wand. Bilder hätte sie mitnehmen sollen von zu Hause, denkt sie, doch sie wurde gleich von der Klinik in dieses Heim gebracht. Die nötigste Bekleidung hat man ihr nachgeliefert, die Wohnung wurde ausgeräumt und alles landete auf dem Müll. Traurig denkt sie an manche Erinnerungsstücke. Besonders um die reichhaltige Bibliothek ist es ihr Leid. Die Bücher nochmals zu lesen würde sie zwar nicht mehr schaffen, aber schon ihr Äußeres erinnert an den Inhalt und weckt Erinnerungen.
Bei klarem Wetter lässt sie gerne den Blick durchs Fenster auf die fernen Berge schweifen, Berge, die sie in frühen Jahren fast alle erstiegen hat. Längst vergangen ist die Zeit, dann musste sie zu Hause bleiben und die kranke Mutter pflegen. Und nun ist sie selbst ein Pflegefall, doch sie hat keine Kinder. Sie war nie verheiratet, ein gewisser Freundeskreis hatte ihr genügt. Die Freunde sind verstorben, sie allein muss noch bleiben.
Wieder einmal lässt sie sich nach dem Essen gleich ins Zimmer fahren. Eigentlich hätte sie sich niederlegen sollen, sie fühlte sich nicht recht gut. Doch sagt sie in ihrer Bescheidenheit nichts, damit die Schwestern nicht unnütze Arbeit hätten.
Allein im Zimmer, hangelt sie sich mühsam zum Bett, zieht sich die Wolldecke herüber. Es kostet sie viel Mühe, die Decke auseinanderzufalten und über die Beine zu legen. Sie friert. Mit leerem Blick starrt sie wieder wie schon so oft zur weißen Wand.
Doch plötzlich – beginnt sich das Weiß zu bewegen, zu drehen, Kreise, ineinander verschlungen, entstehen, rötlich, blau, gelb, pastellfarbig verändern sie sich, verwandeln sich in Spiralen, Linien, Ornamente, die sich wieder verwandeln in Wege, umsäumt von Bäumen, Häusern, Menschen, die ihr zuwinken, sie einladen mitzukommen in eine sonnenumflossene Landschaft.
Sie erkennt Freunde, Bekannte, Arbeitskolleginnen, sogar ihre Eltern, so wie sie auf dem Hochzeitsbild im Schlafzimmer ausgesehen haben. Mit dem Ruf „Mutter! - Vater!“ steht sie auf, läuft ihnen entgegen. – Licht und warm und hell wird es um sie, sie braucht keine Decke mehr. – Sie braucht gar nichts mehr.

 

 
 
ChA. - 28.11.10

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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