Diethelm Reiner Kaminski

Stimmlos



Der Intendant der Städtischen Oper rief die Sängerinnen und Sänger des Ensembles zusammen: „Meine Damen und Herren, Sie haben mich tief enttäuscht. Alle Appelle an Ihre Vernunft haben wenig gefruchtet. Die meisten von Ihnen führen weiterhin einen Lebenswandel, der Ihren kostbaren Stimmen äußerst abträglich ist. Sie gehen spät schlafen. Sie hocken nachts in verräucherten Kneipen. Sie konsumieren Unmengen von Alkohol. Ich bin nicht länger bereit, den damit verbundenen rapiden Qualitätsverlust des Ensembles hinzunehmen. Ab heute lasse ich Ihre Stimmen nach der Vorstellung einsammeln. Sie kriegen Sie pünktlich zu den Proben am Vormittag wieder ausgehändigt.“
„Und was ist zwischendurch?“, fragte ein Tenor. „Sollen wir da etwa schweigen?“
„Genau das ist beabsichtigt“, sagte der Intendant. „Damit sich Ihre strapazierten Stimmen wieder erholen können, verordne ich bis auf Weiteres eine Schweigephase.Dann sehen wir weiter. Wer die Notwendigkeit dieser Maßnahme nicht einsieht, bitte – es steht Ihnen offen, sich anderweitig zu bewerben. Und nun öffnen Sie , bitte, den Mund, damit unsere Platzanweiserinnen und Garderobefrauen, die ich mit dieser kleinen Zusatzaufgabe betraut habe, ihre Stimmen einsammeln können.“
„Und was geschieht mit unseren Stimmen?“, fragte eine Sopranistin.
„Keine Sorge, sie werden beschriftet und ordentlich aufgehängt. Unser Wachdienst ist angewiesen, ein besonders wachsames Auge auf sie zu haben. Zusätzlich habe ich einen Hals-, Nasen- und Ohrenarzt, übrigens ein großer Opernfan, damit beauftragt, die Stimmen auf eventuelle Schädigungen zu untersuchen und gegebenenfalls zu reparieren.“
Ausnahmslos alle öffneten ihren Mund für die schmerzlose Stimmentnahme. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Wo hätten sie so schnell eine neues Engagement herkriegen sollen? Es gab ein Überangebot an Sängern, und es wurden immer mehr.
Die zwangsverordneten Stummphasen waren ungewohnt, aber was für eine Wohltat, eine Weile nicht mehr schwätzen zu müssen, wie erholsam, daheim, in der Familie, keine lästigen Fragen mehr beantworten zu müssen. Endlich Zeit, in sich zu gehen und über sich und sein Leben nachzudenken. Und wie das die Sinne schärfte. Auf einmal nahmen die Sänger Gesten und Gesichtsausdrücke ihrer Kolleginnen und Kollegen, aber auch ihrer Lebenspartner und Kinder wahr, die sie, abgelenkt durch Diskussionen, Streitgespräche und eitle Selbstdarstellungen, nie bemerkt hatten.
Das Erfreulichste aber: In wenigen Wochen waren ihre Stimmen aufgefrischt und in Form wie schon lange nicht mehr.
„Meine Anordnung, zu der ich mich leider gezwungen sah, war ein voller Erfolg. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und für Ihre Disziplin. Ich denke, wir können jetzt wieder zur Normalität übergehen“, verkündete der Intendant.
Die Platzanweiserinnen und Garderobefrauen kehrten nach langer Suche mit leeren Händen und bedrückten Gesichtern zurück: „Weg, alle weg. Und der Wachmann, der eigentlich bis 9.00 Uhr Dienst hat, ist auch verschwunden.“
Der Intendant gab sich untröstlich. „Das ist mein Ruin, was sage ich, unser aller Ruin. Ausgerechnet der Wachmann, der Ihre Stimmen beschützen sollte. Ich bin außer mir.“
Noch gab es zwar keinen Markt für Opernstimmen, aber kein Zweifel, der würde sich bald international herausbilden.
Der Intendant rieb sich insgeheim die Hände. Den ausgehandelten Gewinnanteil von 40 Prozent für den Wachmann würde er auch noch drastisch reduzieren.


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