Diethelm Reiner Kaminski

Lauscher an der Wand



Mit etwa sieben Jahren begann ich mich für das Leben der Erwachsenen zu interessieren. Ich belauschte ihre Gespräche bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Es war günstig, dass ich in einem Raum neben der Küche schlief, in der meine Eltern,  und wenn sie Besuch hatten, auch diese, meistens zusammen saßen, weil es dort am wärmsten war, und aßen, tranken, Karten spielten und redeten. Ich schloss die Tür nie ganz, so dass ich heimlich durch den Spalt spähen und die Gespräche belauschen konnte.
Meine Enttäuschung war enorm. Zu meiner großen Empörung kam ich, ganz anders als erwartet, in diesen Gesprächen gar nicht vor. Ja, existierte ich nicht für die Erwachsenen? Interessierten sie sich überhaupt nicht für mich?
Meine Eltern hatten mich mehrmals dabei ertappt, dass ich lauschte. Dann pflegten sie zu sagen: „Deine Ohren, Charly, sind schon wieder ganz groß. Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand´. Lass es besser bleiben.“
Ich ließ es aber nicht bleiben. Auch wenn ich nichts über mich hörte, so erweiterte ich doch zumindest meinen Wortschatz. Unbekannte Wörter wie „Nutte“, „Puff“, „Flittchen“, „Freier“, „bumsen“, „Pariser“, „Abtreibung“, „schwul“ oder „Porno“ schaute ich gleich am nächsten Morgen im Wörterbuch nach und übernahm sie bei meinen Gesprächen mit meinen Mitschülern auch umgehend in meinen aktiven Wortschatz. Auch meine Rechtschreibung festigte sich auf diese Weise beträchtlich, musste ich doch in aller Regel lange suchen, bevor ich das entsprechende Wort fand. Dabei blieben meine Augen an vielen anderen Wörtern hängen.
Meistens waren die Erwachsenengespräche aber eher langweilig. Die Männer sprachen über Krieg und Politik, Autos und Arbeit, Fußball und Olympische Spiele, die Frauen über Mode und Kosmetik, Urlaub und vor allem über die faulen Nachbarinnen und fiesen Freundinnen.
Doch dann kam der Abend, an dem ich endlich im Mittelpunkt stand. Meine Eltern saßen allein in der Küche. Sie schienen lauter als sonst zu sprechen. Jedenfalls verstand ich jedes Wort. Und jedes Wort brannte sich mir in die wunde Seele ein.
„Was machen wir nun mit dem kleinen Nichtsnutz? Wir müssen noch heute eine Entscheidung treffen“, eröffnete mein Vater das Gespräch.
„Gib ihm doch noch eine letzte Chance“, sagte meine Mutter. „Wir könnten Karl ja vielleicht in ein Internat stecken. Da könnte er uns wenigstens zweimal im Jahr besuchen. In den Sommerferien und zu Weihnachten.“
Meine Mutter nannte mich stets bei meinem richtigen Namen, während mein Vater es sich angewöhnt hatte, mich Charly zu nennen, wie Charly Brown, den Tollpatsch aus dem gleichnamigen Comic.
„Ich bin dagegen“, sagte mein Vater streng, „das kostet unnötig Geld, und in einem Internat wird erst recht kein vernünftiger Mensch aus ihm. Und im Sommer und zu Weihnachten möchte ich meine Ruhe haben.“
Ich traute meinen Ohren nicht. Was hatten die mit mir vor? So schlimm hätte ich mir meinen Stand in der Familie nie und nimmer vorgestellt.
Aber es kam noch viel schlimmer. „Wir verkaufen Charly in die Fremdenlegion. Nach Marokko oder Algerien“, sagte mein Vater. „Dort brauchen sie kleine Jungen als Stiefelputzer und Tellerwäscher. Sie zahlen 1 000 Mark pro Kind. Könnte ich gut gebrauchen, damit ich mir endlich ein gebrauchtes Auto kaufen kann.“
Meine Mutter zögerte noch: „Meinst du wirklich, dass die Fremdenlegion das Beste für unseren Karl ist? Die Legionäre werden doch auch im Krieg eingesetzt, nicht wahr?“
„Nun mach doch keine Panik, Else“, wehrte mein Vater den Einwand ab. „An der Front gibt es bestimmt noch mehr Stiefel zu putzen und Kochgeschirre zu reinigen. Das kann dem verwöhnten Charly nur gut tun.“
„Wenn du meinst“, gab meine Mutter kleinlaut nach, „aber könnten wir ihn denn nicht wenigstens gegen ein Mädchen eintauschen, das uns beim Abwaschen und Kochen zur Hand geht?“
Das war zu viel für mich. Mich gegen ein Mädchen eintauschen? So wenig war ich meinen Eltern wert? Ich riss die Zwischentür auf und stürzte wutentbrannt in die Küche, um meinen Zorn hinauszubrüllen.
Ich lief geradewegs in die ausgebreiteten Arme meiner Eltern, die sich vor Lachen nicht mehr einkriegen konnten. „Na, Charly, hast du schon wieder gelauscht? Jetzt wo unsere geheimen Pläne vorzeitig bekannt geworden sind, müssen wir sie wohl oder übel begraben.“ Meine Eltern besiegelten ihre jähe Meinungsänderung mit einem liebevollen langen Kuss und schickten mich wieder ins Bett.
Gleich am nächsten Morgen schaute ich im Wörterbuch unter dem Stichwort „Fremdenlegion“ nach. Was für eine spannende Sache. Ich sah mich schon als Fremdenlegionär gegen schwarze Krieger und mächtige Löwen in der Wüste kämpfen. Noch war ich dafür zu jung, aber wenn mich ein Erwachsener fragte: „Was möchtest du denn später mal werden, Charly?“, behauptete ich steif und fest: „Fremdenlegionär“, woraufhin der Frager ganz große Ohren kriegte.
Die Lust am Lauschen war mir durch den Streich meiner Eltern durchaus nicht vergangen, nur dass ich noch vorsichtiger wurde, um nicht wieder erwischt zu werden.
Rückblickend kann ich sagen, dass ich meinem frühkindlichen  Lauschen ein schönes Stück Wissen zu verdanken habe. Schande hat es mir nicht gebracht.
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.01.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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