Diethelm Reiner Kaminski

Die Hausbesichtigung



 
Jenny war der Einladung des Architekten nur widerstrebend gefolgt, aber sie wollte ihn, den langjährigen Freund und Unterstützer ihrer Familie, nicht vollständig verprellen. Zu oft schon hatte sie ihm eine Absage bei Einladungen zu Essen, Konzerten oder Empfängen erteilt. Und im Gegensatz zu gemeinsamen Auftritten in der Öffentlichkeit, die sie unbedingt vermeiden wollte, um nicht ins Gerede zu kommen, war die Besichtigung eines von Thorwald entworfenen und fertig gestellten Gebäudes, von dessen Einzigartigkeit er ihr schon häufiger vorgeschwärmt hatte, neutral und unverdächtig. Sie könnte ja die Bauherrin oder eine interessierte Mieterin sein.
Von außen unterschied sich das Gebäude nicht sehr von denen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Nüchtern, hell, transparent, Glas als vorherrschendes Bauelement. Nur vier Stockwerke hoch. Auch das kleine Foyer mit zwei Fahrstühlen schien Jenny keine architektonische Glanzleistung zu sein. Thorwald bemerkte Jennys skeptischen Blick „Warte nur ab“, sagte er und drückte den Fahrstuhlknopf.
„In welchen Stock fahren wir?“, wollte Jenny nun wissen. „In den fünften.“
„In den fünften?“, fragte Jenny nach, „ich denke, das Haus hat nur vier Stockwerke. Wie zählst du denn?“ Thorwald hatte den Fahrstuhlknopf schon betätigt, als er antwortete. „Auf jeden Fall richtig. Wir fahren ja auch nicht nach oben, sondern nach unten. Das Besondere meines Gebäudes liegt unter der Erde. Das da oben ist langweilig.“ Aber da waren sie auch schon im fünften Stock - unterirdisch - angekommen. „Und was soll das Ganze? Wozu dieser Aufwand?“, fragte Jenny, leicht beklommen. „Die Auftragsarbeit eines bekannten Unternehmers, dessen Namen ich natürlich nicht preisgeben darf. So eine Art Bunker, aber ein sehr behaglicher, wie du gleich sehen wirst. Zwar nur fünf Räume, aber mit allem Komfort ausgestattet. Da kann man es sich schon eine Weile gemütlich machen.“
„Das wäre nichts für mich“, sagte Jenny, „künstliches Licht, künstliche Belüftung, ich hätte das Gefühl, lebendig begraben zu sein.“
„Ach“, winkte Thorwald ab, „der Mensch gewöhnt sich an alles. Vor allem, wenn er keine andere Wahl hat.“ Von einem kleinen Zettel las er den Sicherungscode ab und tippte ihn in eine an der Eingangstür angebrachte Tastatur ein. Als sie eingetreten waren, sagte er: “Jetzt schau dir doch bloß diese unglaubliche Ausstattung aus. Eine wahre Königinnensuite.“
In einem schmalen Gang, ganz in mattem Rot, gab es auf jeder Seite zwei Türen, eine fünfte dann noch auf der Stirnseite. Die Türen waren mit großen Buchstaben kenntlich gemacht. Thorwald öffnete die Tür mit dem Buchstaben J. „Das ist die Küche. Der Vorrat in den Kühl- und Gefrierschränken reicht, um mindestens ein Jahr ohne Nachschub zu überleben.“
„Und wenn der Krieg länger als ein Jahr dauert?“, wollte Jenny wissen. „Dann hat man hier unten wenigstens ein Jahr lang gut gelebt und vielleicht sogar seinen Spaß gehabt, während die da oben gehungert und gelitten haben. „Und das hier ist der Salon, das Wort Wohnzimmer wäre nicht ganz angemessen, das findest du doch auch, oder?“ Jenny konnte angesichts der Größe und der luxuriösen Möblierung nur zustimmen.“ Als sie wieder hinaus auf den Gang traten, schaute Jenny auf die Tür. Ein großes E prangte darauf. „Was bedeuten eigentlich die Buchstaben auf den Türen?“, fragte sie, obwohl sie bereits eine finstere Ahnung beschlich. „Das wirst du gleich erfahren“, wich Thorwald aus. Hinter dem Buchstaben N verbarg sich das Schlafzimmer, noch größer und üppiger als der Salon. „Aber das N ist ja doppelt“, rief Jenny aus. „Weil Schlafzimmer und Bad eine Einheit bilden. Deswegen liegen sie auch nebeneinander. Die einzigen Räume, die durch eine Tür miteinander verbunden sind.“
„Mit wie vielen Personen gedenkt der Unternehmer, für den du das gebaut hast, denn hier zu hausen?“, fragte Jenny. Absichtlich gebrauchte sie das Wort „hausen“ statt „wohnen“, um ihren Abscheu auszudrücken. Angst lag in ihrer Stimme.
„Für zwei. Für sich und für die Frau, die er auf anderem Wege nicht erringen konnte. Möchtest du nicht noch einen Blick in die Bibliothek werfen? Alle Geschmäcker vertreten, und alle Medien. Kein halbwegs gebildeter und interessierter Mensch könnte sich hier langweilen.“
„Und Telefone?“, fragte Jenny. „Ich habe nirgends ein Telefon gesehen.
„Überflüssig. Die Verbindungen wären im Ernstfall sowieso unterbrochen.“
„Aber ist dir nicht heiß?“, fragte Thorwald. „Leg doch deinen Mantel ab.“
„Ich glaube, mir bekommt die künstliche Luft nicht. Könnten wir jetzt wieder …?“
„Das geht leider nicht“, unterbrach Thorwald sie. „Wir werden etwas länger bleiben.“
„Was soll das heißen. Lass uns jetzt bitte sofort …“
„Unmöglich. Selbst wenn ich wollte. Es geht nicht. Wir werden gemeinsam hier unten auskommen müssen. Die Eingangstür hat sich automatisch geschlossen und lässt sich nur mit einem Zahlencode wieder öffnen.
„Dann gib ihn doch ein“, sagte Jenny, die immer mehr in Panik geriet.
„Auch das ist leider unmöglich. Kein normaler Mensch kann sich zwanzig Zahlen merken.“
„Aber wir sind doch auch reingekommen.“, schluchzte Jenny, die einem Weinkrampf nahe war.
„Da habe ich die Kombination von einem Zettel abgelesen.“
„Und wo ist der Zettel, verdammt noch mal?“
„Den habe ich verschluckt, meine Königin. Könnt Ihr mir noch einmal verzeihen? Bestraft mich, wenn Ihr wollt. Ich habe es verdient.“
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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