Hermann Weigl

Die Drachenreiter von Arctera (Teil 2)

Irgendwann kämpfte sich das Bewusstsein der Prinzessin wieder an die Oberfläche durch. Sie hörte Vögel zwitschern und Insekten zirpen. Langsam öffnete sie die Augen.
Sie lag auf einer Wiese, umgeben von hohem Gras. Sie sah Blüten und Insekten, die um sie herumschwirrten.
Der Bär kam ihr wieder in den Sinn. Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie bei dem Gedanken an das gefährliche Tier. Trotzdem richtete sie sich langsam auf, um sich umzusehen, und blickte genau in die Augen des Untiers, das vom Himmel herabgekommen war.
Die Prinzessin gab einen erschrockenen Laut von sich, und hielt in der Bewegung inne. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie überlegte, was sie nun tun sollte. Sie beschloss, langsam nach hinten zu kriechen, und dann irgendwann fortzulaufen, aber das Monster hielt sie mit seinem Blick fest.
Sie wagte kaum zu atmen, als könne die kleinste Bewegung das Tier zu einem Angriff veranlassen. Aber das Ungeheuer beobachtete sie nur.
Wenn es gewollt hätte, dann hätte es mich längst fressen können, überlegte die Prinzessin.
Allmählich siegte die Neugier der jungen Frau über ihre Furcht. Sie wagte es, den Blick von den Augen des Monstrums zu lösen, um es eingehender zu betrachten.
Dicke Knochenwülste schützten die Augen des Tieres. Dornartige Fortsätze auf dem Kopf standen schräg nach hinten ab. Die lange Schnauze lief nach vorne spitz zu, und ließ vermuten, dass sich im Maul des Tieres ein gewaltiges Gebiss befand. Der Kopf saß auf einem langen Hals, der wohl so breit wie der Rücken ihres Pferdes war. Der Hals ging in einen gewaltigen Rumpf über, dessen ganze Größe sie aus ihrem Blickwinkel nicht erfassen konnte. Schuppen bedeckten den Körper, die wie poliertes Messing glänzten. Die Seiten hoben und senkten sich unter den gleichmäßigen Atemzügen des Geschöpfes. Auf dem Rücken erblickte sie ein Paar zusammengefaltete Flügel. Das Tier hatte sich auf dem Boden niedergelassen, und die Beine mit den unterarmlangen, silbernen Krallen vor sich gelegt. Ein eigenartiger, aber nicht unangenehmer Geruch ging von ihm aus, der sie an den des schwarzen Olivenöls erinnerte.
Ihr Blick kehrte zu den Augen der Kreatur zurück, die sie noch immer betrachteten. Die Sehorgane waren weitaus größer als das ganze Gesicht der Prinzessin. Die Iris schimmerte in einem goldenen Farbton, und tiefschwarze handtellergroße Pupillen musterten sie. Eine eigenartige Faszination ging von diesen Seelenfenstern aus. Sie schienen nicht zu einem Untier passen zu wollen. Hätte sie diesen Blick bei einem Menschen gesehen, hätte sie daraus Güte und Weisheit gelesen. Aber hier...?
Die hornigen Lippen des Wesens bewegten sich, und formten Worte in ihrer Sprache. „Hab keine Angst. Der Bär ist fort.“
Der Prinzessin stockte der Atem. Das Tier hatte zu ihr gesprochen! Die Stimme war unglaublich tief, die Silben eigenartig betont, und erinnerte sie an die Sprechweise der Schauspieler in den historischen Theateraufführungen, zu denen sie ihr Vater immer mitnahm. Aber sie hatte jedes Wort verstanden.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, und sagte: „Du kannst sprechen?“
„Natürlich kann ich das.“
„Aber Tiere können doch nicht...“, platzte es aus ihr heraus.
„Ich bin kein Tier. Ich bin eine Drachin.“
„Ein Drache?“ Elisabietha hatte schon von diesen magischen Wesen gehört. Aber es waren nur Geschichten, die von Generation zu Generation weitererzählt wurden. Niemand wusste etwas Genaues. Keiner hatte jemals eines dieser magischen Geschöpfe gesehen. Aber die Geschichten existierten nun einmal. Und jede Sage hatte einen wahren Kern.
„Kein Drache. Eine Drachin“, korrigierte sie. „Und ich heiße Unari.“
„Unari“, wiederholte Elisabietha, und schluckte schwer. Eine sprechende Drachin hatte sie vor dem Angriff eines Bären geschützt. Das würde ihr wohl niemand glauben.
„Ich war noch nie einem Mensachen so nahe“, meinte Unari. „Bist du männlich oder weiblich?“
Die Frage verwunderte die Prinzessin. Sah man das denn nicht? „Ich bin eine Frau. Eine Prinzessin.“
„Eine Prinzessin? Was ist das?“
„Die Tochter des Königs!“
„Oh. Es tut mit leid. Das wusste ich nicht.“
„Schon gut.“
„Und wie ist dein Name, Prinzessin?“
„Elisabietha.“
Mit einemmal musste sie an ihre Stute denken. Suchend sah sie sich um.
Die Drachin schien ihre Unruhe bemerkt zu haben. „Was ist?“, fragte sie.
„Mein Pferd.“
„Dem ist nichts geschehen. Es ist weggelaufen.“
Elisabietha seufzte erleichtert auf.
„Du sorgst dich um das Tier?“, fragte Unari.
„Ja. Es ist so gutmütig.“
„Wenn du dich um andere Geschöpfe sorgst, dann beweist mir das, dass du ein gutes Herz hast, Prinzessin.“
„Ich danke dir, dass du mir geholfen hast. Hättest du den Bären nicht vertrieben, hätte er mich bestimmt getötet. Ein Glück, dass du in der Nähe warst.“
„Es war kein Zufall. Ich habe dich gehört - deine Kopfstimme. Du hattest Angst. Große Angst. Und du hast geschrieen - in höchster Not. Ich wollte dir helfen. Deswegen kam ich hierher.“
Die Prinzessin konnte sich nicht daran erinnern, überhaupt einen Laut von sich gegeben zu haben. „Kopfstimme?“
„Du weißt nicht, was das ist? Ist denn das Wissen um diese wunderbare Fähigkeit unter den Menschen verloren gegangen?“
„Ich habe noch nie davon gehört, obwohl mein Vater mich von den besten Gelehrten hat unterrichten lassen.“
„Das ist traurig. Sehr traurig. So viel ist vergessen worden.“ Die Drachin tat einen tiefen Schnaufer. Es hörte sich an wie der riesige Blasebalg in der Schmiede der Burg. „Aber du hast sie - diese besondere Gabe. Du hast die Kopfstimme.“
„Wie kann ich etwas besitzen, von dem ich nicht weiß, was es ist?“
„Es ist eine natürliche Begabung, die man mit der Geburt erhält. Alle Drachen haben diese Stimme. Aber unter Menschen ist sie nur selten - höchst selten.“
„Und was ist diese Kopfstimme?“
„Man kann sich damit verständigen, ohne die Worte auszusprechen.“
„Aber das ist doch nicht möglich...“
„Warte. Ich werde es dir zeigen.“
Die Prinzessin glaubte, ein leichtes Prickeln im Nacken zu verspüren, das sich allmählich nach oben über die ganze Kopfhaut ausbreitete.
Und dann vernahm sie die Stimme der Drachin in ihrem Bewusstsein: „Siehst du. Du hast diese besondere Begabung.“
„Aber...“
„Es erfordert viel Übung, um mit dieser Stimme sprechen zu können. Man muss lernen, sie an die richtige Person zu richten, sich gegen andere zu sperren. Man will auch nicht, dass alle eigenen Gedanken bloßliegen.“
Unari richtete sich plötzlich auf die Vorderbeine auf, hob den Kopf an seinem langen Hals weit nach oben, und schien einen Punkt in der Ferne zu suchen. Groß wie ein Turm ragte sie vor ihr auf. Dann beugte sie sich wieder zu der jungen Frau herunter. „Reiter nahen. Sie sind wohl auf der Suche nach dir. Ich muss jetzt verschwinden.“
„Werde ich dich wieder sehen?“
„Morgen. Wenn die Sonne am höchsten steht. Dann werde ich wieder hier sein.“
„Ich werde hier sein. Vielen Dank, Unari.“
Die Drachin wich etwas zurück, entfaltete die Schwingen, und erhob sich mit mächtigen Flügelschlägen in die Luft, um über den Wipfeln der Bäume zu verschwinden.
Elisabietha sah ihr nach, bis sie aus ihrem Blick entschwand.

(C) 2011 Hermann Weigl

Fortsetzung folgt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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