Hans Werner

Das Gleichnis vom Feigenbaum

Erzählung von

Hans Werner



Wieder einmal legte sich Johannes Reimer zu Bett, innerlich unruhig und mit seinem privaten Leben unzufrieden. Da war er heimgekommen aus der Kirche. Es war eine kleine Orgeleinführung und eine ältere Frau, die regelmäßig auf dem Instrument spielte, hatte sich, im Umgang mit dem Kirchenmusikdirektor, in sehr wichtigem Tone aufgespielt. Nichts Schlimmes, bei Gott, nichts Schlimmes. Aber Johannes hatte sich ein bisschen darüber geärgert, denn er hatte ein sehr dünnhäutiges Gemüt. Und seine Seele geriet immer schnell in Wallung. Wie er heimkam, wollte er seiner Gemahlin von seinem Gefühl erzählen, es ihr mitteilen. Doch kam er damit schlecht an. Er erhielt eine Abfuhr, so von oben herab, in dem Sinne, dass er offenbar hier auf diesem Gebiet nichts vertragen könne und dass sein ganzer Ärger unbegründet sei und vielleicht eben in einem eigenen Charakterfehler seine Ursache habe. Aus Nichtigkeiten entstehen so schnell Streitereien. Es kam zu einem kurzen, aber heftigen Wortwechsel. Und Johannes beging den Tag an der Seite seiner Gemahlin und es wurden, auch während des langen Spazierganges, nur die nötigsten Worte gewechselt. Wobei ein jedes Wort anstrengte. Johannes fühlte sich wie ein Wanderer in der Wüste.



Wie er sich abends zu Bett legte, kam ihm die eigene Lebenssituation so einsam und so öde vor. Er spielte mit dem Gedanken, aus einem Leben, das ihm offenbar nicht gelingen wollte, freiwillig zu scheiden. Noch nie, oder höchst selten, in großen seelischen Abgründen, war ihm ein solcher Gedanke gekommen. Er verwarf ihn im Augenblick des Entstehens. Er war darüber entsetzt, dass ihm dieser Gedanke überhaupt gekommen war. Schließlich tat er etwas, was er schon seit Monaten nicht mehr gemacht hatte. Er öffnete die kleine grüne Ausgabe des Neuen Testamentes, die auf seinem Nachttisch lag. Und geriet zufällig an eine Textstelle, aus Lukas, die ihm wie eine Antwort auf seine Seelennot vorkam. Es war das „Gleichnis vom Feigenbaum“.



„Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum, und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft. Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge: vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.“



Johannes Reimer hatte Tränen in den Augen, als er diese Zeilen gelesen hatte. Ja, sagte er zu sich selbst, meine Ehe ist wie dieser Feigenbaum. Ich will um sie graben und sie düngen. Ach, Gott, ich bin immer so schnell verzagt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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