Hermann Weigl

Die Drachenreiter von Arctera (Teil 3)

Es waren tatsächlich Reiter des Königs, die nach ihr gesucht hatten. Sie führten ein zusätzliches Pferd mit sich, auf das sich die Prinzessin schwang. Sie erzählte nicht die ganze Wahrheit, sondern meinte nur, ein Bär hätte ihr Pferd erschreckt, und sie sei aus dem Sattel gestürzt. Bär und Pferd seien davongelaufen.

Nach der üblichen Schelte umarmte sie ihren Vater,  der ihr im Grunde seines Herzens gar nicht böse sein konnte, und zog sich dann in ihre Gemächer zurück.
Lange konnte Elisabietha in dieser Nacht nicht einschlafen. Unruhig drehte sie sich hin und her. Ihre Gedanken kreisten um das heute Erlebte. Immer wieder erschien der Bär vor ihrem geistigen Auge, fletschte das riesige Gebiss mit den scharfen Fangzähnen, die sie hätten mühelos zerreißen können.
Und dann sah sie Unari, das mächtigste Lebewesen, dem sie jemals begegnet war, den geschuppten Körper, der im Sonnenlicht glänzte, und ihre eindrucksvollen Augen. Ein tiefes Glücksgefühl machte sich in ihr breit, und sie dachte voller Liebe und Wärme an ihre neu gewonnene Freundin.
Irgendwann dämmerte sie dann doch in den Schlaf hinüber.

Am nächsten Morgen überlegte die Prinzessin, wie sie nun vorgehen sollte. Zuallererst wollte sie den Gelehrten Gaius sprechen, der sie viele Jahre lang unterrichtet hatte. Sie schätzte den alten Mann, sein Wissen um die Naturwissenschaften, und seine ruhige, nachdenkliche Art. Ihre Dienerinnen schickte sie mit Aufträgen weg. Dann legte sie sich einen alten, schmucklosen Umhang um, und verließ ihre Gemächer. Der Raum, den der Gelehrte bewohnte, befand sich im Westflügel der Burg. Die Kapuze über den Kopf gezogen eilte sie durch die Gänge, mied die breiten Haupttreppen, und nutzte stattdessen diejenigen, die für die Bediensteten vorgesehen waren.  
Gaius besaß das Privileg, einen eigenen großen Raum zu bewohnen, den er gleichzeitig als Labor, und für seine Studien benutzte. Die Prinzessin klopfte an der breiten Türe, obwohl sie das als Königstochter hätte gar nicht tun müssen. Aber sie respektierte den Gelehrten, und wollte nicht unangemeldet in seine Studien hineinplatzen. Als Elisabietha seine Aufforderung zum Eintreten vernahm, zog sie die Tür einen Spalt auf und schlüpfte in den Raum hinein.
Hohe Regale voller Bücher bedeckten die Wände des Zimmers, das wohl doppelt so groß wie ihr eigenes war. Auf einem massiven Holztisch standen allerlei Gläser, Reagenzien, Schalen, ein Mörser und vielerlei anderes Gerät. Eine giftgrüne Flüssigkeit kochte blubbernd vor sich hin. Die Königstochter kam an einem weiteren Tisch vorbei, den eine Unmenge an Büchern bedeckte, von denen einige aufgeschlagen waren. Im Hintergrund war ein Bereich durch einen Vorhang abgetrennt. Dort befand sich die Schlafstelle des Gelehrten. Daneben war ein offener Kamin an die Wand gebaut, der um diese Jahreszeit nicht beheizt wurde, und davor hatte man einen niedrigen Tisch und zwei bequeme Sessel platziert. Links davon sah sie den breiten Schreibtisch, der neben dem größten Fenster des Raumes stand. Er war überladen mit Büchern und Schriftrollen aller Art. Und dahinter erblickte sie den wirren, grauen Haarschopf des Gelehrten. Sie hörte das kratzende Geräusch, das eine Schreibfeder auf einem Pergament verursachte, und wartete geduldig, dass der Mann seine Arbeit beendete. Irgendwann hörte er zu schreiben auf, hob den Kopf über die Ebene seines Arbeitstisches, und sein Gesicht nahm einen erstaunten Eindruck an.
„Oh, Majestät. Euch hatte ich nicht erwartet.“ Er erhob sich aus dem hochlehnigen Ledersessel und kam um den Tisch herum auf die Prinzessin zu, um sich vor ihr zu verneigen.
„Ich grüße Euch, ehrenwerter Gaius“, sagte sie und lächelte den alten Mann an.
„Wie kann ich Euch helfen, Prinzessin?“
Elisabietha hatte sich ihre Worte zurechtgelegt, wie sie die Fragen vorbringen wollte. Aber nun warf sie alles über den Haufen. „Mir ist etwas zu Ohren gekommen, das ich nicht glauben will. Ihr seid der klügste Mann, den ich kenne. Und vielleicht könnt Ihr mir sagen, ob es der Wahrheit entspricht.“
„Nun. Ich werde mein Möglichstes tun, Majestät. Worum geht es?“
„Sagt mir, habt Ihr jemals von einer Kopfstimme gehört?“
Überraschung zeigte sich auf dem faltigen Gesicht des Gelehrten. „Verzeiht mir?“
„Ich hörte, dass manche Menschen die Begabung haben, sich mit Gleichgesinnten ohne Worte zu unterhalten.“
„Ihr meint womöglich einen Bauchredner?“
„Nein. Die Sätze bilden sich direkt im Kopf des Angesprochenen.“
„Hm“, meinte er und kratzte sich am Kinn. „Kopfstimme. Man sagt auch Gedankenstimme. Ich glaube, mich daran erinnern zu können, einmal davon gelesen zu haben. Es war während meiner Studien an der Universität in Xandria. Es war...“ Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn. „Es war nur ein einziger Hinweis. Die Rede war von Zwillingen, die sich auf diese höchst sonderbare Art und Weise verständigen konnten. Man brachte sie in unterschiedliche Räume, und der eine Mann konnte berichten, was in dem anderen Raum gesprochen wurde. Äußerst merkwürdig. Aber es kann auch Scharlatanerie gewesen sein. Solcherlei Quellen sind oft nicht zuverlässig.“
„Aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht?“
„Der Autor muss seine Gründe gehabt haben, dieses Ereignis niederzuschreiben, auch wenn es keine anderen Bestätigungen für seine Beobachtungen gibt.“
Die Prinzessin erinnerte sich an das eigenartige Prickeln, das sie überkommen hatte, bevor die Drachin zu ihr gesprochen hatte. Es war keine Einbildung gewesen, dessen war sie sich sicher.
„Vielen Dank, Gaius. Ihr habt mir sehr geholfen.“
Verwundert sah er sie an. „Nun. Stets zu Euren Diensten.“
„Noch ein Gedanke beschäftigt mich.“
„Bitte, sprecht, Majestät.“
„Die Jäger, die aus den Sümpfen zurückkehren, berichten oft von eigenartigen Kreaturen, die dort leben. Was haltet Ihr davon, Gaius? Gibt es dort Drachen?“
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber eine ganze Weile nicht mehr. Eine Augenbraue wanderte ein Stück nach oben, und er sprach: „Die Einsamkeit und zuviel Kräuterschnaps lassen die Menschen bisweilen Dinge sehen, die gar nicht da sind. Aber...“ Er trat an eines der Regale heran, und fuhr mit dem Finger über die Rückseiten einiger Bücher, bis er eines hervorholte. Es war kleiner als die anderen Folianten, in Leder eingeschlagen, und schien schon sehr alt zu sein. „Einige behaupten, in grauer Vorzeit hätte es diese Lebewesen wirklich gegeben. Andere sagen, sie entstammten nur der Phantasie irgendwelcher Geschichtenerzähler, die sich wichtig machen wollen. Aber seht selbst.“
Gaius schlug das Buch auf, blätterte darin, und hielt der Prinzessin eine Zeichnung hin.
Elisabietha nahm das Buch entgegen und trat näher ans Fenster heran, um besser sehen zu können. Und sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können, bei dem was sie dort sah.
Es war eine detailgetreue Zeichnung von Unari.
„Gaius, ich möchte dieses Buch in Ruhe studieren. Ihr erlaubt doch, dass ich es mit mir nehme.“
„Aber selbstverständlich, Prinzessin. Aber gebt bitte gut darauf Acht. Es ist sehr alt, und auch sehr wertvoll. Ich habe es von meinem Vater geerbt, und der hat es von seinem.“
„Ich werde darauf achten. Habt vielen Dank, Gaius.“ Mit diesen Worten wollte sie sich zum Gehen wenden.
„Prinzessin, ich kenne Euch schon Euer ganzes Leben lang. Deswegen erlaubt mir eine Bemerkung.“
„Bitte sprecht, Gaius.“
„Man spricht über Euch. Ihr solltet nicht alleine ausreiten. Ihr könntet dort draußen auf große Gefahren stoßen.“
„Oder auf etwas Wunderbares...“ Sie drehte sich noch einmal zu dem Gelehrten um, und blickte in sein verwundertes Gesicht. „Bitte behaltet dieses Gespräch für Euch. Versprecht es mir.“
„Ihr habt mein Wort.“
Die Prinzessin drückte das Buch gegen ihre Brust, als wäre es ein kostbarer Schatz, und eilte aus dem Raum.
Als nächstes wollte sie mit einem der Jäger sprechen. Tief in Gedanken versunken, ging sie quer über den Burghof in Richtung der Ställe, und wäre beinahe mit dem Hauptmann der Wache zusammengestoßen. Glücklicherweise erkannte er sie nicht. Im Stall fragte sie den Burschen, der ihr Pferd versorgte, welche Jäger derzeit in der Burg verweilten. Es war nur einer, und der war zum Ausmisten der Ställe verdonnert worden, weil er mal wieder ‚Was ausgefressen hatte’, wie der Junge sagte.
In der hintersten Box traf Elisabietha auf den Mann. Missmutig stocherte er mit einer Heugabel im alten Stroh herum, das den Boden bedeckte.
„Bist du ein Jäger?“, fragte die Prinzessin.
Er hielt in seiner Bewegung inne, richtete sich auf, und wandte sich ihr zu. Sein grobporiges Gesicht wurde von einem monumentalen Schnurrbart beherrscht. Buschige Augenbrauen, eine große, knollige, gerötete Nase, und funkelnde kleine Augen verliehen ihm eine äußerst Respekt gebietende Miene.
Der Mann nahm seine Mütze ab, und verbeugte sich tief. „Ja, Prinzessin. Zumindest war ich einer. Jetzt wurde ich aber mit wichtigeren Aufgaben betreut“, sagte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. Dabei wies er mit seinem Werkzeug auf den schmutzigen Boden.
„Komm für einen Augenblick mit ins Freie. Ich muss dir ein paar Fragen stellen.“
Der Jäger warf die Heugabel voller Zorn in eine Ecke und folgte ihr.
„Wie oft warst du schon in den Sümpfen?“, wollte die Prinzessin wissen.
Er kratzte sich am Kopf. „Wohl schon mehr als zwei Dutzend Mal. Aber warum fragt Ihr das, Majestät?“
„Beantworte nur meine Fragen, und ich werde mit dem Stallmeister darüber reden, dass er dir eine andere Arbeit gibt.“
„Sehr wohl, Majestät.“
„Ich habe gehört, dort solle es eigenartige Tiere geben - solcher Art, wie man sie hier nirgends zu sehen bekommt.“
„Ihr wollt Euch doch nicht über mich lustig machen?“
Der Mann hatte wohl schon unangenehme Erfahrungen gesammelt, oder, wie Gaius gesagt hatte, man hatte seine Beobachtungen dem Kräuterschnaps zugeschrieben.
Die Prinzessin schlug das Buch auf und zeigte dem Mann die Abbildung des Drachen.
Die Augen des Jägers traten beinahe aus den Höhlen, und er sah sich erst nach allen Seiten um, bevor er antwortete. „Ich bitte Euch, Prinzessin. Sagt keinem Menschen, was ich Euch nun erzählen werde.“
„Ich verspreche es dir. Kein Wort darüber wird über meine Lippen kommen.“
„Es war vor drei oder vier Jahren. Im Herbst hatte ich mich auf den Weg in die Sümpfe gemacht. Vorher geht es nicht, wegen der vielen Mücken. Ich habe dort eine Hütte gebaut, und von da aus gehe ich zur Jagd. Und eines Tages. Es war gegen Abend. Ich war gerade auf dem Weg zurück zu meiner Hütte. Ich schwöre, ich hatte an dem Tag noch keinen Tropfen getrunken. Es gibt dort eine Stelle, wo man durch eine enge Schlucht geht, und dann an einem See herauskommt. Ich trat aus dem Schatten ins Sonnenlicht hinaus, und kniete am Wasser nieder um zu trinken. Ich hatte nicht auf das andere Ufer geachtet, und die Sonne blendete mich. Da sah ich etwas Ungeheures, das sich im Wasser spiegelte.“ Er deutete auf das Buch, und setzte hastig fort. „Ich wagte kaum zu atmen, hob langsam den Kopf, und sah zum anderen Ufer hinüber. Und dort saß der Drache - keinen halben Steinwurf entfernt. Er war größer als eine achtspännige Kutsche samt Pferde. Und er hatte mich bemerkt, denn er drehte den Kopf an seinem langen Hals in meine Richtung, und blickte mich aus riesigen Augen an. Ich dachte schon, dass jetzt mein letztes Stündchen geschlagen hat. Aber er tat mir nichts. Er beobachtete mich eine Weile, dann entfaltete er Flügel, die so groß wie das Dach des Stalls waren, und schwang sich in die Lüfte.“
Der Mann beendete seine Geschichte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich im Laufe seiner Erzählung dort gebildet hatte.
„Von welcher Farbe war der Drache?“
„Braun“, überlegte der Mann. „Sehr dunkel. Fast schwarz.“
Dann konnte es also nicht Unari gewesen sein. Alles was die Drachin erzählt hatte, schien der Wahrheit zu entsprechen, überlegte die Prinzessin.
„Ihr glaubt mir doch, Prinzessin?“, fragte der Jäger, und sah sie flehend an.
„Ich bin davon überzeugt, dass du die Wahrheit sprichst. Aber du solltest zu keinem Menschen ein Wort von diesem Gespräch sagen. Zumindest vorerst noch nicht.“
„Vorerst? Was hat das zu bedeuten?“
„Du wirst wissen, wenn es so weit ist“, sagte die Prinzessin mit einem verschmitzten Lächeln, und begab sich auf die Suche nach dem Stallmeister, um ihr Versprechen zu halten.

(C) 2011 Hermann Weigl

Fortsetzung folgt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.02.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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