Bernd Schmerl

Der Fluß

Mein Fluß entspringt irgendwo in hohen, fremden Bergen und endet im weiten, unbekannten Meer. Dieser Fluß ist nicht irgendein Fluß, es ist der Fluß meines Lebens.
Würde seine Quelle zerstört, sollte man meinen, daß auch er stirbt. Aber dem ist nicht so. Die Kraft des Wassers ist stark, sie ist der Wille des Lebens zum Leben. Darum wird der Fluß neu erwachen - vielleicht aus einer anderen Quelle - wird seinen Lauf nehmen, Berge und Täler durchfließen, sich über jedes Hindernis hinwegsetzen, Stromschnellen bilden, Täler hinabstürzen, neue Seen und Teiche formen, Mensch und Tier, Gräser, Bäume und Sträucher mit seinem kühlen Naß erfreuen.
Langsam wird er dann werden, aber auch mächtig und mit großer Kraft hinausziehen in das weite, unbekannte Meer.
Ich bin es, als ich Kind war, ich bin es als
Erwachsener, und auch als Sterbender, werde ich es sein. Du und ich, wir werden uns wieder treffen, in unserem Tode werden wir uns an einem Fluß erfreuen, wenn er unsere Seelen auf seinen glitzernden Wellen tanzen läßt! Und wir werden wieder mit ihm reisen, von der Quelle bis zum Meer. Alles, was wir im Leben taten, haben wir uns selbst getan, und alle, die uns im Leben kannten, werden
uns im Tode verzeihen.
Mein Fluß ist ein wunderbares Geschöpf. Klar und freundlich ist er, liebevoll und fröhlich, wenn er als kleines Bächlein in den Bergen plätschert. Idyllische Bergseen wird er bilden. Kleine und große. Er wird mit seiner befruchtenden Feuchtigkeit die karge Erde segnen, überall erfrischendes Grün spenden, und Wiesen mit tausend Blumen. Schön ist mein Fluß und Vögel werden überall auf seinem Wege singen. Aber er kann auch stark sein, furchtbar zornig wird er sich anhören, wenn er das erste mal eine Felswand hinunterstürzt. Aber ähnelt sein Tosen nicht dem Klang einer Orgel?
Breit und groß wird mein Fluß sein, wird sich biegen und winden durch manche Lande, einer riesigen Schlange gleich. Zwar älter geworden, ruhiger und träger, doch wird er nun die vielen Geschöpfe des Waldes und des Landes zu sich, an seine stillen Ufer, ziehen.

Menschen werden kommen, Dörfer und Städte werden sie gründen in meiner Nähe. Erst mit Lehm, Holz, Sand und Steinen. Dann werden sie Beton und Eisen verwenden, Fabriken und Metropolen entstehen lassen. Sie werden mir Schmerzen zufügen, versuchen mich zu zähmen und einzusperren, wie ein wildes Tier. Ihre Dämme und
Deiche werden wachsen, sie werden versuchen meinen natürlichen Lauf zu "begradigen". Sie werden kein Gewissen haben, ihr Gift in meine Fluten leiten, ihren Unrat in mir verklappen, Autos an meinen Ufern waschen.
Aber nur in Freiheit und Ehrlichkeit liegt wahre Kraft, wer das vom Fluß lernen kann, wird glücklich sein auf dieser Welt. So wird die Zeit kommen für mein Lied, das ich, der Fluß, selbst singen werde:

Geboren aus Mutter Erde, frisch und frei
zog ich an manchem schönen Tal vorbei,
in mir war Freude, Lachen und Gesang
als ich vom Berg fiel, mit tosendem Klang!

Durch Wiesen und Felder bin ich gegangen,
Seen und Bäche haben mich freundlich empfangen.
Viele habe ich glücklich gemacht,
wir haben gesungen, geweint und gelacht!

Den Rest des Weges wollte ich träumen,
doch - plötzlich fing ich an zu schäumen!
Ich wurde schwarz, grün und dann braun,
konnt' niemandem in die Augen schau'n.

Sah weder Baum, noch Mensch, noch Tier,
was war geschehen nur mit mir!
Die Menschen sind so ungestüm
und ich nun bald ein Ungetüm!

Ich bin es doch, euer Große Fluß,
doch niemand hebt die Hand zum Gruß.
So zieh ich fort von dieser Stadt
ein Herz für mich hier niemand hat...


Ihr kennt dieses Lied und habt es schon vernommen, es gibt euch Hoffnung, macht euch aber auch bestürzt..
Die Geduld in der Natur ist groß, aber eines Tages wird der Große Fluß zurückschlagen, mit seiner furchtbaren Kraft wird er wütend Dörfer und Städte fortreißen.
Reinigen wird er das Land von allem Schmutz, Unrat und Öl. Wie einst die Pest wird er durch das Land ziehen, um selbst wieder leben zu können.

Wenn dies geschehen sein wird, kehrt der Fluß
zurück zu seinem Bette und wird wieder liebevoll und geruhsam dahin ziehen. Zurücklassen wird er Menschen, die über das, was geschehen war, sehr verbittert sind und andere, die nachdenklich sein werden. Aber für alle muß ein neuer Anfang gemacht werden und wir werden uns einigen müssen mit dem Fluß.
Dann wird auch bald wieder alles gedeihen, die Lebewesen sich wieder wohl fühlen, und auch die Menschen werden sich wieder freuen, an seinen Ufern sitzen und ihm danken. Die Bauern werden wieder fröhlich ihre Felder bestellen können.
Dann wird er, einst der kleine zarte Bach unseres Daseins, sich dem großen Meere unseres Herzens nähern können.
Auch darin sind die Menschen dem Flusse gleich: Geboren von der Erde, ist sie unser beider Mutter.

BERND SCHMERL, Hamburg

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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