Diethelm Reiner Kaminski

Falsche Zeugnisse



Mit sieben Jahren ist die Welt noch voller Rätsel. Wissen und Wörter reichen nicht aus, sie sich zu erklären, und wer zu schüchtern ist zu fragen, legt sie sich auf seine eigene unvollkommene Weise zurecht.
Im Religionsunterricht hatten wir über die zehn Gebote gesprochen. Ich war beruhigt. Nur zehn. Zu Hause gab es sehr viel mehr, jeden Tag neue. Herr Ambrosius hatte sich auf das siebente Gebot beschränkt. Auch da kam ich gut bei weg. Bei dem Wenigen, was sie im Portemonnaie hatten, hätten meine Eltern den kleinsten Diebstahl sofort bemerkt. Ich war aber neugierig geworden auf die übrigen neun Gebote, um zu sehen, wie tief ich schon im Sündenpfuhl steckte. Die standen hinten im Gesangbuch, in gotischer Schrift, die ich mit Mühe entzifferte.
Eins und zwei übersprang ist, die waren mir zu unverständlich, an den Feiertagen, Nr. 3, hielt ich mich notgedrungen brav zu Hause auf, weil mich meine Eltern zu Küchen- und Gartenarbeit verdonnerten und sich zu Ausbrüchen und Abenteuern keine Gelegenheit bot. Nr. 4 kannten wir Kinder schon in der leicht abgeänderten Form: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wenn sie dich schlagen, sollst du dich wehren …“ Dass ich diesen Rat nicht befolgte, lag allein an dem ungleichen Kräfteverhältnis. Nr. 5 bezog ich auf alles, was zwei oder vier Beine hatte, nicht jedoch auf unbedeutendes Kleingetier wie Spinnen, Regenwürmer, Käfer, Schmetterlinge oder Fliegen, die wir Kinder mit Vorliebe bei lebendigem Leibe in ihre Bestandteile zerlegten, aufspießten oder auf der glühenden Herdplatte verbrannten. Nr. 6, ehebrechen, Nr. 9 und 10, fremde Häuser und fremde Frauen begehren, kam schon deswegen nicht in Betracht, weil alle Bekannten und Nachbarn in schäbigen Mietwohnungen untergebracht waren und keine eigenen Häuser besaßen, und wozu ich fremde Frauen hätte haben wollen, leuchtete mir noch weniger ein. Die Bilanz war positiv. Alles in allem stand ich sündenfrei da. Ich ging die Liste noch einmal durch. Ein Gebot hatte ich vergessen: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Ich zerbrach mir den Kopf. Was sollte das bedeuten? Meine Nächsten – das waren Vater, Mutter, Geschwister, Onkel, Tanten … Aber „falsch Zeugnis“? Hieß das „gefälschte Zeugnisse“? Ich verstand die Aufregung gar nicht. Erstens waren meine Noten in der Grundschule sehr gut, so dass ich keinen Grund gehabt hätte, sie zu verschweigen. Zweitens mussten die Zeugnisse, von Vater oder Mutter unterschrieben, dem Klassenlehrer zurückgegeben werden. Vielleicht war das vor über 2 000 Jahren, als die Gebote niedergeschrieben wurden, ja noch anders gewesen. Vielleicht hatte damals auch jeder ein eigenes Haus. So „erfüllte“ ich noch jahrelang das achte Gebot, während ich meine Geschwister ruchloser Vergehen beschuldigte, die sie nie begangen hatten, schlecht über Freunde und Klassenkameraden redete, ohne mir etwas dabei zu denken, und selbst meine Eltern vor Verleumdungen und Verdächtigungen nicht verschonte.
Erst im Konfirmandenunterricht sieben Jahre später kam ich mit den zehn Geboten wieder in Berührung. Mein Verständnis hatte sich inzwischen beträchtlich erweitert. Nr. 6, ehebrechen, lag zwar immer noch außerhalb meiner Vorstellungswelt, aber Nr. 10 begann sich langsam mit Inhalt zu füllen. So begehrte, oder besser: meinte ich zu begehren des Pfarrers hübsche Tochter, obwohl sie fast zehn Jahre älter war als ich. Oder war es gar des Pfarrers rechtmäßig anvertrautes Weib? Kleingetier tötete ich nicht mehr, dafür aber in Gedanken unliebsame Lehrer und Rivalen. Von den Eltern wurde ich in diesem Alter nicht mehr gezüchtigt, so dass ich sie mühelos wieder ehren konnte. Groß was zu stehlen gab es immer noch nicht, sodass sich die Versuchungen, denen ich ausgesetzt war, in Grenzen hielten. Den Irrtum, in dem ich bei Nr. 8, dem falschen Zeugnis, lange befangen gewesen war, hatte ich inzwischen erkannt. Meine Noten hatten sich in der Pubertät dramatisch verschlechtert. Das konnte ich meinen Eltern, stolz wie sie auf ihren einzigen Sohn waren, nicht antun. Ich besserte die Noten mit Rasierklinge und Radiergummi vorsichtig nach. Gefahrlos, denn die eingesammelten unterschriebenen Zeugnisse wurden offenbar nie kontrolliert.
Mit meinen Äußerungen über andere indes war ich vorsichtig geworden, gemäß dem Sprichwort: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Und im Alter von 14 gibt es eine Menge, dessen man von anderen – meist zu Recht – beschuldigt werden kann.
 


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