Helena Ugrenovic

Willkommen im Willdall

Irgendwann vor einigen Wochen, als ich meiner Zuckertaube über die Schulter schielte, weil ich vor Neugierde platzte, was sie wohl während ihrem Chat-Marathon so schreibt, erhaschte ich einen Blick auf ihren Spitznamen, weil sie blitzschnell beide Hände auf den Bildschirm geklatscht hatte, um mir die Sicht zu versperren und mich empört anstarrte. Wenigstens wusste ich nun, wie sie sich nannte. „LatinaLove21“. „LatinaLove“, weil sie sich als feurigen Christina-Shakira-Mix-Verschnitt ausgab. Über die Zahl „21“ war ich mir in diesem Moment nicht so ganz im Klaren. Da ich Zuckertaube schon seit Jahren hoch und heilig versprochen hatte, ihre Intimsphäre zu achten und zu respektieren, keine an sie adressierten Briefe über den Dampfkessel zu halten, wie es der General seinerzeit bei mir gemacht hatte und auch des weiteren Vertrauen vor misstrauischer Bespitzelung würde walten lassen, hatte ich keine andere Wahl, als mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln wieder von Dannen zu ziehen. Einen Schritt rückwärts. Vielleicht würde sich doch noch eine Möglichkeit bieten, eine Zeile des hochspannenden Chat-Repertoires zwischen Zuckertaubes bildschirmverschmutzenden Fingern zu lesen. Es musste sich in der Tat um etwas Hochexplosives und Interessantes handeln, da sie stundenlang wie in Trance vor dem Bildschirm hockte und meinen Computer beschlag-nahmte.

„Mam! Schäm Dich! Das ist privat, ich lese auch keine Deiner Emails! Na ja...ich mache sie für Dich auf, aber ich lese sie nicht! Ich bin ein Kind, ich habe aber auch eine Privatsphäre!“

Ich schämte mich wirklich. Doch überwogen in diesem Moment Neugierde und die Angst davor, was sich wohl für Typen im Chat tummelten, denen sie, gutgläubig und ahnungslos wie sie war, womöglich noch unsere Adresse und genauen Standort des Fernsehers, Stereoanlage und sonstiger kleiner Schätze petzen konnte. Man konnte nie wissen.

„Aber du schreibst unsere Adresse und so nicht hin, oder? Du gibst auch keine Auskünfte über dich oder mich, oder?“ Wilde Fantasien, geschürt durch Mutterängste, überschlugen sich in meinem Kopf. „Bin ich blöd?! Ich checke schon, was ich schreiben darf und was nicht und dass die sowieso alle lügen...ich lüge auch ein bisschen, aber nur ein bisschen.“

Ich war stolz auf meine kluge Tochter und darauf, dass gewisse Sätze einer Mutter doch noch
im Kopf eines Teenagers gelagert und gespeichert wurden.

Ein paar Tage später, als meine Neugierde nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden konnte, verabschiedete ich mich mit dem Hinweis von meiner Zuckertaube, ein bisschen durch die benachbarte Metropole zu bummeln. Sie versprach, während meiner Abwesenheit auf Haus und Hof, vor allem aber auf den Computer, aufzupassen. Sie würde ein bisschen im Internet surfen und die Augen offen halten, falls wieder ein fieser Trojaner oder gemeiner Virus sich bei uns einzuloggen versuchten.

Ich wollte nicht bummeln. Ich wollte auf eine Tastatur hauen, meine Neugierde stillen und mich nach Jahren der Abstinenz wieder mit fiktiven Menschen unterhalten. Vor allem jedoch war ich daran interessiert, mit einer bestimmten Person zu chatten. Mit meiner Zuckertaube. Nachdem ich vor langer Zeit, als blutige Anfängerin und unter dem Namen „Pearldrop“ in einem Chatroom von sämtlichen Teilnehmern ausgebuht wurde, weil ich keinen Schimmer hatte, woher der Name „Deep Space Nine“ stammte, dies öffentlich gefragt hatte und mit Worten aufs Gemeinste beleidigt wurde, wagte ich mich wieder unter die Cyberheroes, indem ich, als Älteste unter kichernden Teenagern, auf einem Hocker in einem der Internetcafés sass und mich in Zuckertaubes „Wildall-Chatroom“ einloggte.

Ninja15:“ Hey, willste mit mir geh’n?“
Claudia2003:“ Du Sau! Wer will schon mit Dir geh’n?!“
Blackfighter betritt das All.
Maus20 verlässt das All.
Nikita2000 betritt das All. Sie ist ein neuer Stern im All.
LatinaLove21:“ Seid ihr bekloppt?“
Nikita2000:“ Wer chattet mit mir?“
Blackfighter:“ Heij, Ninja, wie siehst Du überhaupt aus? Hast Du Lust auf CS?“
Claudia2003:“ Sie ist ‚ne Sau!“
Nikita2000:“ Wer chattet mit mir?“
Mariechen:“ Hallo, ist da wer?“
Blackfighter:“ Na, Ninja15, traust Dich wohl nicht?! Los, sag schon, wie siehste aus?! Ein bisschen CS würde dir nicht schaden! He-he-he!“
Ninja15:“ Was biste überhaupt! Boy oder Girl?“
Nikita2000:“ Wer chattet mit mir? Warum chattet keiner mit mir???!!!“
Maus20 betritt das All.
Maus20:“ Ich will mit Dir gehen Ninja 15. Bist Du geil??“
LatinaLove21:“ Ihr seid wirklich so was von blöd, Mann! Wenn der OP das liest werdet ihr aus
dem All verbannt!“
OP:“ Keine Panik, sehe alles...hält sich noch im Rahmen des Erlaubten. Blackfighter, lass deine Einladung zu Cybersex alias CS, verstanden?“
Nikita2000:“ Warum chattet keiner mit mir??!! Ich will chatten!“
LatinaLove21:“ Hey Nikita2000...ich chatte mit Dir! Wie alt bist Du?“
Nikita2000:“ 15....Du?“
LatinaLove21:“ 21...bist Du ein Girl?“
Blackfighter:“ Hahaha...guck Dir mal diese beiden Weichmemmen an! Heij Ninja...wie ist
es nun...biste geil? Willste mit mir gehen...treffen wir uns allein auf dem Kuschelplaneten?“
Nikita2000:“ Bin ein Girl...biste auch ein Girl LatinaLove21?“
LatinaLove21:“ Jaaaa! Woher kommst Du?“
Blackfighter verlässt das All.
Ninja15 verlässt den Raum.
Nikita2000:“ Aus der Schweiz. Und Du?“
LatinaLove21:“ Hey cool! Ich auch!“
Nikita2000:“ Wow! Aus welcher Ecke denn? Wo lebst Du? Gehst Du noch zu Schule?
LatinaLove21:“ Darf den Ort nicht sagen, meine Mama macht sonst Stress...ja, ich gehe noch
zur Schule.“
Claudia2003:“ Huhuhu....seid ihr zwei Langweilerinnen, Nikita2000 und LatinaLove21 sind
saudoof!“
Maus20:“ Heij Claudia 2003, hau doch einfach ab!“
Nikita2000:“ Deine Mama hat Recht LatinaLove21...meine Mama sagt das Gleiche! Wie lebst
Du so? Was sind Deine Hobbies?“
LatinaLove21:“ Meine Eltern sind Anwälte, haben eine eigene Firma, wir wohnen in einer Villa
mit Swimming-Pool und Solarium, weil meine Mama Bleichgesichter hasst. Ich habe noch drei Geschwister und meine Hobbies sind shoppen und Computer. Meine Eltern haben mir ein
i-Book geschenkt, cool, was? Im Sommer fliegen wir nach Miami...sie müssen das viele Geld irgendwie loswerden, das sie verdienen, sagen meine Eltern!“
Nikita2000:“ Wow! Du hast aber coole Eltern! Ich wollte, ich hätte so Eltern wie Du! Ich bin arm wie eine Kirchenmaus!“
LatinaLove21:“ Ooooch Nikita2000...sei nicht traurig! Wie bist Du in der Schule? Meine Mama sagt: gute Noten, gute Ausbildung, guter Job, viel Geld!“
Nikita2000:“ Deine Mama hat schon wieder Recht! Du hast wirklich eine tolle Mama! Hast du ein gutes Verhältnis zu Deiner Mama? Meine ist nicht übel...wie ist denn Deine so? Nervt sie auch so herum?“
LatinaLove21:“ Na ja...sie ist schon cool, aber sie kann ganz schön stressen! Hast Du ein Handy? Ich habe das Nokia mit Bildübertragung. Meine Eltern haben gesagt, ich brauche unbedingt eines, damit ich sie von unterwegs immer anrufen kann. Sie bezahlen alles, egal wie oft ich telefonieren!“
Nikita:“ Wow! Das ist ja so was von cool! Ich darf kein Handy haben, weil meine Mutter mir meine Luxuswünsche nicht finanzieren will, wie sie sagt. Ich finde das saugemein! Alle haben eines, nur ich nicht! Ich bin ein richtiger Aussenseiter!“
LatinaLove21:“ Sei nicht traurig, Nikita2000....du wirst sicher auch bald eines bekommen! Du musst sie nur lange genug damit bombardieren, das funktioniert immer! Glaub’ es mir!“
Nikita2000:“ Heij....ich muss gehen...meine Stunde ist abgelaufen....komme morgen wieder um die gleiche Zeit ins Internetcafé und werde dir schreiben, O.K. LatinaLove21?“
LatinaLove21:“ Ciao Nikita2000...bis morgen...wir gehen heute Abend alle ins Kino und anschliessend essen wir auswärts...jo weisch...das viele Geld.....“
Nikita2000 verlässt das All.

LatinaLove21 chattet munter weiter.

„Nikita2000“ war mein Pseudonym unter welchem ich als neuer Stern im All glänzte. Das meiner Zuckertaube und Chatpartnerin bekannter weise „LatinaLove21“. Während „LatinaLove21“ aller Wahrscheinlichkeit nach weiter den fetten Macker heraushängen lassen würde, realisierte ich, dass es die, von Zuckertaube als „mach-dir-keine-Sorgen-Mam-das-sind-doch-alles-nur-Kinder“ titulierten Cyberkids, faustdick hinter den Ohren hatten. Ich erfuhr, dass es sich beim Kürzel CS nicht um „Crédit Suisse“ oder „Cyber Story“, sondern um Cybersex handelte und die Kids damit den OPerator, den Wächter des Chatrooms, irreführen wollten. Worin sie natürlich sehr erfolgreich waren.

Des weiteren erfuhr ich, dass ich nicht alleinerziehende Mutter, sondern verheiratet, solariumgeil und ein Stresskopf war. Als Anwältin mit einem sozial und beruflich gleichgestellten Gemahl gesegnet, gehörte mir eine Firma, wohnte ich feudal mit meinen vier Kindern in einer Villa mit Pool und wusste vor lauter Geld nicht, wo ich es verschleudern konnte. Aus diesem Grund verprasste ich es in Notebooks für ein elfjähriges Mädchen, das sich als 21-Jährige Mieze ausgab, in Miami-Reisen, weil wir keine geizigen Eltern waren, sondern unsere Kinder an Alibabas Schatz teilhaben liessen und in ausgedehnte Kinoabende mit anschliessendem Festessen investierten. Nachdem mir Zuckertaube seit sieben Monaten damit in den Ohren gelegen hatte, dass sie unbedingt ein Handy braucht, weil alle ohne Ausnahme eines hätten, nur sie wieder einmal nicht und ich die gemeinste aller Mütter sei, war sie in der Zwischenzeit stolze Besitzerin eines solchen geworden. Wie „LatinaLove21“ gerade geprahlt hatte, bezahlte ich sämtliche Kosten. Ich war wirklich eine coole Mam.
Sie hatte sogar preisgegeben, was ich schon immer geahnt hatte, aber nie richtig glauben wollte, nämlich, dass sie nicht nur ein pubertierender sondern ein listiger Teenie war, der genau wusste, wie sie ihre Mam übers Ohr hauen und Sachen von ihr erpressen konnte. Indem sie mich nur lange genug damit weichgekocht hatte, bis ich vor Verzweiflung ihrer immer länger werdenden Wunschliste nachgab.

Wenigstens hatte ich noch etwas in Erfahrung gebracht. Dass „LatinaLove21“ sich an unsere Abmachung hielt und keine detaillierten Informationen über uns im Internet verstreute und dass noch weitere Sätze aus den langweiligen und nervtötenden Predigten von Müttern sich in ihr eingeprägt hatten. Zudem war sie bezüglich ihrer Shopping- und Computerleidenschaft ehrlich und ausserdem ein gutherziges Kind, weil sie die bettelarme „Nikita2000“ so lieb getröstet hatte.

Ich würde „LatinaLove21“ alias Zuckertaube nichts von meinem Ausflug zu den kichernden Teenies im Internetcafé verraten. Versprochen ist versprochen und ich würde morgen zur gleichen Zeit wieder auf dem Hocker herumrutschen und mich ins Wildall einloggen.

Nur würde ich dieses Mal ein anderes Pseudonym wählen. Ich würde mich „Loverboy“ nennen und mal testen, wie „Latinalove21“ zu „CS“ stand.

Mutter zu sein hiess schliesslich nicht, weg vom Fenster zu sein und die Trickkiste für immer geschlossen zu halten!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.01.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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