Marcel Hartlage

Fels

Diese Geschichte ist die Fortsetzung von "Eisen" und "Stahl".


Er kauerte abseits des Weges.
Tief im Gebüsch versteck konnte man ihn nicht sehen. Er war wie eines der Chamäleons, die ihre Farbe ihrer Umgebung nach anpassten, um sich zu tarnen. Nur die Chamäleons taten das zu ihrem Schutz. Er aber tat das, um zu warten.
Um auf ein Opfer zu warten.
Der Wald neben der Stadt war groß. Am Wochenende gingen hier viele Leute spazieren; manche mit Anzug, manche noch jung, auch Kinder, viele mit einem Eis in der Hand. Sie gingen hier gerne spazieren, weil sie die Ruhe des Waldes mochten. Viele Wanderwege führten wie ein verstricktes Netz aus Wegen und Abzweigungen unter das Geäst des Waldes daher. Er fühlte sich wohl unter den Schatten. Sie gaben ihm das Gefühl, nicht beobachtet zu werden. Er mochte es nicht, beobachtet zu werden. Deswegen fand er sie gut.
Jetzt war seine massive Gestalt – mit einem breiten Kreuz und großen Händen – im Gebüsch versteckt und wartete. Geduldig. Er konnte lange warten, wenn er wollte. Eine Ewigkeit, wenn es sein musste. Doch meistens kamen die Opfer schnell.
Und er hörte sie, noch bevor ein Hund sie hätte riechen können.
Deswegen war er auch so gut auf alles vorbereitet. Es sei denn, etwas Unerwartetes kam zwischen ihm und das Ritual. Dann hatte er seinen Hör- und Geruchssinn nicht geschärft. Das war aber eher seltener vorgekommen.
Während Corper im Gebüsch versteckt auf sein Opfer wartete, erinnerte er sich an den Mann in der U-Bahn, der ihn bei seinem Ritual gestört hatte. Das war ein dreckiger kleiner Mann gewesen. Selber schuld. Er hätte nicht in den Waggon kommen müssen.
Corper dachte an vieles in letzter Zeit, und das meistens gleichzeitig. An die Dinge, die er hatte, und an die Dinge, die er nicht hatte. Er hatte sein Stahl, er benutze manchmal das Eisen, aber ein Leben, so wie es die anderen hatten, nein, das hatte er nicht. Brauchte er das denn? Nein, nein, das brauchte er nicht, und das wollte er auch nicht. Aber er wusste, dass er gejagt wurde. Von Männern. Männern mit Hunden.
Und auch von Männern mit weißen Kitteln.
Aber all das machte nichts, sagte er sich dann wieder. Er erinnerte sich an die Dinge, die er alle schon getan hatte, und sein Herz horchte auf. Wie schön die Rituale doch waren! Und das sollte er aufgeben, nur im normal zu sein. So normal wie die anderen? Wie die Männer in den weißen Kitteln?
In zweihundert Meter Entfernung, hinter mehreren Kurven, trat ein Schuh auf einen Ast. Der Ast brach.
Und Corper hörte es.
Jetzt machte er sich bereit. Es war nur ein Mensch, aber einer würde für heute genügen. Er brauchte nicht viele, es mussten nicht viele sein. Hauptsache, sie gaben das, was er von ihnen brauchte.
Blut, Herz und Hirn.
Immer wieder durchströmte ihn dieser Gedanke. Und immer, wenn ihn dieser Gedanke durchströmte, lächelte er.
Die Schritte eines Mannes erklangen in einhundert Metern Entfernung. Sie kamen näher, und Corper machte sich bereit.
Sein Stahl hatte er bereits in den Händen. Die schöne Klinge in seinen Händen, die irgendwie glänzend und beruhigend war.
Es begann zu regnen.
Der Mann näherte sich auf fünfzig Meter.
Nur wenige Tropfen vielen für die ersten Sekunden durch das Blätterdach, doch dann begann es laut zu prasseln, als der Schutz der Schatten dem Wasser seinen Weg gehen ließ.
Corper mochte Wasser. Wenn es über seine Haut lief, wenn es im Wald auf den Blättern knisterte, während die Tropfen sanft aufschlugen und davonliefen. Er mochte Wasser gerne im Sommer, weil der Sommer so heiß war. Das Wasser war im Sommer eine gute Abkühlung.
Zwanzig Meter.
Die Schritte waren jetzt sehr deutlich. Corper konnte sie auch trotz des Regens hören.
Er sah den Mann. Er kam den Weg entlang. Es war ein breiter Mann. Mit vielen Muskeln. Er war mindestens zwei Meter groß.
Nichts desto trotz war Corper zwei Köpfe größer.
Sollte er ihn vorbeigehen lassen, oder vor ihm springen? Der Mann sah mächtig aus, und sicher war er auch mächtig, also entschied Corper, vor ihn zu springen.
Der Mann war jetzt zwei Meter vor der Hecke.
Corper bäumte sich auf.
Am Himmel begann es zu donnern.
Corper sprang auf den Weg.
In Sekundenbruchteilen zuckte er sein Stahl hervor, um es den Mann in die Brust zu stechen. Er spürte schon jetzt den Geschmack des Blutes.
Des Herzens.
Des Hirns.
Aber der Mann drehte sich plötzlich um.
So sollte das Ganze nicht geschehen! Der Mann wollte wegrennen!
Corper sah sein Stahl für den Bruchteil einer Sekunde an. Dann warf er es, wie er es schon in der U-Bahn geworfen hatte.
Als es am Himmel donnerte, traf es den rennenden Mann im Rücken.
Er schrie auf, unter Schmerzen leidend, und viel vorne über zu Boden. Blut strömte aus seinen Rücken. Es vermischte sich mit dem Regen, viel hinab auf den Weg, floss in sanften Bächen die Rillen entlang.
Corpers Stahl lugte aus dem Rücken des Mannes hervor.
Langsam ging Corper auf den Mann zu. So leicht sollte er doch nicht davon kommen! Noch nie war jemand seinem Ritual entwichen. Sie alle hatten es am Ende eingesehen.
Corper trat über den Mann und zog sein Stahl, die schöne Klinge, aus dem Rücken des Mannes.
Dieser überraschte Corper plötzlich.
Er sprang mit einem Mal auf, das Gesicht verzerrt von Schmerz und überströmt mit blutigen Rissen. Aber er rannte nicht weg. Nein, er holte mit seinem Fuß aus und trat Corper sein Stahl aus der Hand.
Am Himmel donnerte es, blitzte.
Und zum ersten Mal in seinem Leben verspürte Corper Zorn. Richtigen Zorn.
Für einen Augenblick stand er dem Mann nur gegenüber, sie hätten alte Freunde sein können, die sich durch Zufall über den Weg gelaufen kamen. Doch Corper war sauer.
Für diesen Augenblick vergaß er sein Ritual.
Er ballte seine Hand zur Faust, holte aus und schlug dem Mann ins Gesicht. Er hörte die Nase brechen und sah zwei Zähne im Regen aus dem Mund fliegen. Sie landeten auf dem Weg und wurden überströmt vom Regen.
Der Mann stöhnte auf und taumelte. Er hielt sich die Hände vors Gesicht, Blut tropfte zwischen ihnen hervor. Corper holte ein weiteres Mal aus und schlug auf die Hände des Mannes. Sie knackten.
Der Mann schrie. Taumelte. Drohte umzukippen.
Aber Corper war noch nicht fertig. Er sah sich um, suchte den Rand des Weges ab und entdeckte etwas.
Fels.
Einen Stein.
Ohne auf den Mann zu achten, der schrie und fluchte, der nicht mehr bei Sinnen vor Schmerz, hob Corper den Fels langsam auf und musterte ihn. Ein Stein, so groß wie ein Fußball. Schwer. Er trug ihn mit einer Hand. In der anderen war noch sein Stahl.
Als es erneut blitze, holte Corper ein drittes und letztes Mal aus.
Der Fels zerschmetterte den Kopf des Mannes.
Wenige Sekunden später antwortete der Donner dem Blitz.
Corper sah den Mann stumm am Boden liegen. Jedenfalls seinen Körper. Was hatte er da getan? Er hatte sein Ritual missachtet, hatte sich leiten lassen von Wut und Zorn, war nicht Eins gewesen mit seinem Stahl. Oh, das war nicht gut, dass war überhaupt nicht gut. Er würde sich bestrafen müssen. Irgendwie. Er hatte sich selbst verraten.
Dennoch würde er das Ritual zum Teil ausführen. Auch wenn vom Gehirn nichts mehr da war.
Corper kniete sich im Regen nieder und vollendete sein Werk.
Während er das tat, dachte er nach, wie er sich bestrafen musste. Sein Stahl duldete das nicht. Er hatte den Fels genommen. Fels war nicht glänzend und auch nicht beruhigend.
Er dachte nach, während das Ritual sich dem Ende entgegenwandte.
Er sah, hörte und achtete nicht auf die beiden Personen, die mit Kinderwagen um die Ecke kamen.
Am Himmel donnerte es wieder.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.02.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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