Helena Ugrenovic

Das Zauberwort

Nachdem Sie sich an den Gedanken gewöhnt und mit der neuen Situation angefreundet haben, dass mit der Geburt ihres Kindes noch ein weiterer Mensch in ihrem Schlafzimmer atmet und es sich bei diesem um ihr eigen Fleisch und Blut und nicht um einen Einbrecher handelt, holt Sie das Pflichtenheft ein. Ihr eigen Fleisch und Blut ist nicht nur schnuckelig und süss, zum schmusen ideal geeignet oder ein rosafarbener Pokal, mit dem Sie bei Ihren Kolleginnen damit angeben können, es bald als Baby-Model zu vermarkten. Es ist auch kein besonders gemeines Baby, weil es sich von den Babys Ihrer Freundinnen darin unterscheidet, indem es das einzige ist, welches keine Nacht durchschläft, jede Stunde gefüttert werden muss und dies mit viel Gebrüll mitteilt, mit 24 Monaten noch gewickelt wird, das Töpfchen als Hut benutzt oder weil es Ihnen den Schnuller zwischen die frisch geschminkten Lippen schiebt und dazu fünf Versuche braucht, bis es endlich Ihren Mund getroffen und Ihr Gesicht verschmiert hat. Es will erzogen werden.

Zuerst lächeln Sie verzückt, wenn 70 Zentimeter Grösse mit barschem Tonfall „Will essen! Will Barbie! Will nicht schlafen! Will spielen! Will keine Küsschen geben!“ sagen und staunen über eine bläuliche geschwollene Zornesfalte an der Stirn ihres süssen Nachwuchses. Die ersten Forderungen des Windelträgers haben Sie noch belächelt und unter „wie süss!“ verbucht, bis Sie realisieren, dass es sich keineswegs um unschuldige Patzer eines niedlichen Kleinkindes handelt, sondern um dessen strategisch klar formulierte und gesetzte Ziele, sowie intuitive Taktiken, welche dieses kompromisslos und eiskalt durchzusetzen weiss.

„Mit mir?“ denken Sie, „Nie im Leben!“

Spätestens hier kapieren Sie, dass es an der Zeit ist, Ihr Pflichtenheft hervorzuholen und mit Regel Nummer Eins zu beginnen. Die Regel, dass zwischen Ihnen und Ihrem, zwar noch sehr kleinen aber sehr selbstbewussten, Kleinkind, soeben ein Machtkampf begonnen hat, den nur Sie gewinnen können. Gewinnen müssen. Sie demonstrieren, dass Sie der Boss sind. Was natürlichen auf erbitterten Widerstand stösst, da Ihr eigen Fleisch und Blut über einen untrüglichen Instinkt und angeborene Siegeslust verfügt, die Sie ihm in diesem Moment austreiben wollen.
V, politischer Zugehörigkeit, seinen Vorlieben und in diesem Fall –seiner Grösse-, seines Alters und der Tatsache, dass es Ihnen fies lächelnd den letzten Nerv raubt. Also gewöhnen Sie sich an, dieses zu bitten, etwas zu tun und meiden Verordnungen und Befehle. Sie streben schliesslich ein humanes, verständnisvolles Miteinander an, weil Sie aus dem Kleinkind einen höflichen, wohlzerzogenen Menschen machen wollen, der sich aber trotz seines angenehmen Charakters durchzusetzen weiss. Nur soll er sich erst dann und dort durchsetzen, wo Sie nicht mehr im Schussfeld stehen und weder finanziell noch erzieherisch für diesen verantwortlich sind.

Nach einigen Jahren praktischer Umsetzung als General, Familienoberhaupt, Erzieherin, beste Freundin, Kumpel, Clown, lebender Bankomat, Ernährerin, Seelsorgerin, Pickel-Killer-Tipps-Verteilerin, Liebeskummer-Trösterin, heisse-Kartoffeln-aus-dem-Ofen-Holerin begreifen Sie, dass Regel Nummer Drei, die Funktion einer Artistin, Sie schleichend eingeholt hat und dass Sie, ohne es bemerkt zu haben, auf einer ewigen Gratwanderung zwischen Böser-Mami-Guter-Mami balancieren.

Hat sich aus dem Töpfchen schleppenden, zahnenden, Barbie spielenden Kleinkind, ein Poster sammelnder, pubertierender, sich selber suchender und Autoritäten verpönender Teenie entwickelt, haben Sie soeben das Grat eines der höchsten Berge dieser Welt erklommen.

Egal ob Sie in die Schlucht blicken oder verzweifelt zum Himmel starren – Sie müssen gut angeschnallt sein.

Seit Wochen leiden Sie unter den hormonellen Störungen Ihres pubertierenden, schmollenden, beleidigten, sensiblen und sofort in Tränen ausbrechenden Erben, denn alles was Sie sagen, um alles was Sie diesen bitten, alles was Sie kochen, schlicht gesagt: alles was Sie tun, wird mit einem verächtlichen „pah“, „bäh“, „igitt“, „goht’s no?“, „immer ich!“, „jo-ho!“, hochgezogener Augenbraue und wütendem Türeknallen honoriert.

Nachdem Sie im 12-Stunden-Rhythmus von Pontius nach Pilatus gerannt sind, zwischendurch eingekauft, Hausaufgaben kontrolliert, Vokabeln geübt, das Geschirr gewaschen, gebügelt, in der ganzen Wohnung verstreutes, persönliches Eigentum Ihres Teenies aufgelesen, sich den neusten Schulkolleginnen-Tratsch angehört und aufgrund Zeitmangels in zwei Bissen ein ganzes Steak verschluckt haben, gönnen Sie sich eine wohlverdiente Ruhepause.

Entspannt haben Sie sich im Klo eingebunkert, blättern in einem Magazin, vergessen den Stress um Sie herum und können das erste Mal an diesem Tag lächeln. Bis der Umstand einer fehlende Klopapierrolle erneut Ihren soeben gesunkenen Blutdruck in die Höhen schnellen lässt und Sie entnervt die Augen rollen.

Sie packen die Gelegenheit beim Schopf und fragen Ihre summende, erstaunlich gut gelaunte und sich vor dem Spiegel zur neusten Blondie-CD verrenkende Zuckerpuppe, ob sie Ihnen eine Klopapierrolle bringen kann. Was diese ohne zu murren macht. Bevor Sie jedoch aufatmen oder gar übermütig werden können, realisieren Sie aus dem Augenwinkel heraus, dass wieder ein weiterer Mensch neben Ihnen in einem Raum atmet.

Gebieterisch, mit hervorgestreckter Brust und einem Gesichtsausdruck wie dem von Fräulein Rottenmeier aus „Heidi“, hat sich Ihr eigen Fleisch und Blut vor Ihnen aufgebaut, jongliert mit der Klopapierrolle und schnaubt ein erwartungsvolles „Ähem, ähem!“, welches Sie in diesem Moment nicht einordnen können, weil Sie gerade in die neuste Studie über Welleness-Hotels vertieft waren. Fragend blicken Sie Fräulein Rottenmeier an und finden sich in einem Rollentausch wieder.

Mit erhobenem, hin und her wackelndem Zeigefinger erklärt Ihnen Ihre Zuckerpuppe, dass sie vergessen haben „Bitte“ zu sagen, dass sie schliesslich auch ein Mensch mit Gefühlen ist, dass sie, trotz ihres kindlichen Alters, ein Anrecht auf einen höflichen und wohlerzogenen Umgangston hat, dass sie, genau wie Sie immer, ob frechen und schnippischen Sätzen, verletzt ist. Grausam verletzt.

Es fällt Ihnen wie Schuppen von den Augen und Sie gewinnen eine neue Erkenntnis. Nämlich diese, dass Regel Nummer Zwei mit dem Passus ‚Zwei A’ erweitert hätte werden müssen und dass kommentarlose und absolute Verordnungen wie „nein“, „es ist einfach so“, „ohne Diskussion“, „mach es einfach“, „nein, es gibt kein Geld als Belohnung“, „weil ich der Boss bin“, keineswegs das Heranwachsen Ihres Nachwuchses oder dessen zarte Psyche beeinträchtigt hätten.

Sie gehen sogar weiter und sinnieren über eine weitere Regel nach. Regel Nummer ‚Zwei b’.

Dass es Sie manchmal so richtig in den Fingern juckt, Ihr eigen Fleisch und Blut zu verhauen und dies mit Regel Nummer ‚Zwei b’ legitimiert wäre.

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