Ursula Hellmann

Kehraus

Tony wurde es allmählich heiß in seinem Krokodils-Kostüm. Die mollige Biene Maja hatte zwar keine Lücke in ihrem kuscheligen Fell, aber ansonsten sträubte sie sich nicht, wenn die Hände von ihrem Tänzer, dem grünen Reptil, auch an Stellen kamen, wo die Bienenhaut etwas dünner war. Tony bekam nach jedem Kuß Appetit auf mehr. Zu gerne wäre er mit Maja in einen stillen Bienenstock verschwunden und hätte nach süßem Honig gesucht. Dann war sie ihm aber im Gewühl entflogen und nicht mehr aufgetaucht. Mist! Tony schlug sich zur Theke durch. Da hatte es auch einen „Tünnes“ angespült. „Bist du dat, Anton?“ Der Tünn schlug Tony auf den Rücken, der Krokodilskopf schwappte nach vorne. „Dollmann, laß dat!“ Mit dem grellbunten Kölner Original kippte er noch zwei Kölsch, dann beschlossen die beiden, die Lokalität zu wechseln. „Nix mi loss hier,“ stöhnte Tünn, der morgen wieder Tonys Arbeitskollege Anton sein würde. Veilchendienstag feierten nur noch die ganz Jecken, als käme nach der fünften Jahreszeit keine andere mehr. „Sag bloß, du willst jetzt noch fahren?“ Tünn zeigte mit wackligem Finger auf Tonys Hand. Der klingelte mit dem Wagenschlüssel. „Meinste ich schaff dat nit? Da war ich schon ganz anders abjefüllt!“
„Weißte denn noch, wo du die Karre stehen hast?“ Tony tippte bloß mit dem Zeigefinger an die Krokodilsschnauze und bog um die nächste Straßenecke. Der Wagen stand im Halteverbot – aber an der Scheibe hing kein Knöllchen. Tony schloß auf, setzte sich und rief: „Nu komm, mach keine Fiesematenten!“ Anton murmelte vor sich hin, ließ sich dann aber auf den Beifahrersitz fallen. Trotz der Eiseskälte sprang der Motor brav an. Auf den Straßen war fast unheimlich wenig Verkehr. „Siehste, dat jeht doch wie jeschmiert!“

Vom Winterlager aus war es zufuß doch weiter, als Edmund gedacht hatte. Aber er wollte nun einmal mitten drin sein, wenn in dieser Karnevals-Hochburg gefeiert wurde. Nach einem passenden Kostüm mußte er nicht suchen. Das trug er sozusagen fast das ganze Jahr über. Seine drei Vettern und er waren eine der Attraktionen im Familienzirkus „Silbermond“. Mit einem Meter vierzig galt Edmund als der Größte unter den ach so lustigen, ungeschickten Clowns in der Zwergen-Verkleidung. Daß unter der Joppe und der vergilbten Hose keine Angora-Unterwäsche war, fiel im Wohnwagen und in der Manege niemandem auf – in den Abendstunden vom Veilchen-Dienstag, wo das Thermometer acht Grad unter Null zeigte, hätte Edmund sich selbst ins Hinterteil beißen können vor Ärger, daß er nicht das Braunbärfell gewählt hatte als Kostüm. Ein paar Euro hatte er sich in den letzten Wochen von seiner kargen Gage zurückgelegt. Die wollte er jetzt in einer Ur-Kölner Kneipe „auf den Kopf hauen“. Edmund steuerte auf ein Lokal zu. Die Tür ging auf. Ein Schwall Wärme und eine Welle aus Musik und Gegröle floß auf die Straße. Unter dem Arm eines Tigers, der sichtliche Gleichgewichtsprobleme hatte, schlüpfte Edmund in die Gaststube. Beine, Röcke und Hände – daß er die anderen zuerst einmal aus der Perspektive eines Kindes sah, daran war er kleinwüchsige junge Mann gewöhnt. An der Bar standen vier Figuren in braunen Mönchskutten, die Kapuzen noch auf dem Kopf. Edmund fand am Fenster einen Vierertisch, an dem nur ein einzelner Stuhl herumstand. „Vielleicht zieht es da fürchterlich,“ dachte er. „Dann ist das der richtige Platz für mich, keiner wird mich dumm anquatschen.“
Genau darin hatte er sich geirrt. Den Mönchen war es offenbar langweilig geworden. Einer sah sich um und entdeckte den Zwerg. „Wänn hammer denn da?“ Die vier kamen auf Edmund zu, hoben ihn, trotz Protest, auf und setzten ihn auf die Theke. „Hä, Köbes, vier Kurze für unseren Kurzen hier!“ Ehe sich Edmund versah, hatte ihm einer der Mönche den Mund aufgehalten und ein anderer vier klare Schnäpse eingeflößt. Edmund schüttelte sich und hustete. Die Mönche lachten, zogen ihn vom Tresen und warfen sich die kleine, recht leichte Gestalt zu wie einen Ball. „Hierröwwer!“ „Jetzt bei mich!“ Edmund gab auf. Er ließ sich werfen und fangen wie ein lebloser Sack. Dann ging wieder die Kneipentür auf, ein Pärchen schob sich in den Raum, engumschlungen. Die Mönche schauten zu den beiden hin, Edmund rutschte aus ihren Händen und schlug auf den Holzfußboden. In die kleine Gestalt kam Bewegung. Auf allen Vieren kroch er zur Tür, drückte die Schwinghälfte zur Seite und wurde von ihrem Rückschwung durch den schweren Vorhang zur Treppe befördert. In seinem Kopf drehte sich ein lautes Karussell, ihm war ein wenig übel. Wo sollte er hin? Er fror. Für ein Taxi hatte er nicht genügend Geld. Nur ab und zu rauschte ein Auto an ihm vorbei.. Irgendwo schlug es neun Uhr. „Eigentlich noch gar nicht so spät. Vielleicht gibt es doch noch irgendwo ein gemütliches Eckchen. Nur aufwärmen und ein bißchen mitsingen und eine Kleinigkeit essen – das würde schon reichen.“ Hier in der Nähe schien es nichts Interessantes zu geben. Die ganze Gegend lag dunkel und still da. Edmund wechselte die Straßenseite und sah hinüber zu dem Ort seiner Niederlage. Oben über dem Lokal baumelte etwas. Ach ja, davon hatte er gehört. Noch ein paar Stunden, und die Narren würden diese Strohpuppe vom Dach holen und sie in der Nähe feierlich verbrennen. Eine blöde Sitte – na ja, ging ihn ja nichts an. Wie mochten sie die da befestigt haben? Edmund trat drei Schritte rückwärts auf die Fahrbahn.
Tony saß wie versteinert hinterm Steuer. „Häst du dat jespürt?“ Anton nickte. Beide waren in dieser Sekunde stocknüchtern geworden. Die Fahrertür ging in Zeitlupentempo auf, Tony stieg aus dem Auto, seine Kniee fühlten sich an wie Butter. Vor den Rädern lag etwas. Anton hatte -wie im Traum- die Scheinwerfer ausgeschaltet. Im Dunkeln beugten sich die beiden über das stille Paket. Tony streckte zaghaft die Hand aus, vor ihm rührte sich nichts mehr. Der Wind wehte ein Jackenende hoch und fuhr unter eine Zipfelmütze. Da löste sich ein Muskel, in dem Bündel Stoff erschien ein Gesicht. Tony fuhr zurück, landete auf dem Hinterteil und stöhnte. Anton sprang auf, sah sich ängstlich um und fing an zu zittern. „Wat machen wir denn jetzz?“ Tony wollte die Worte herausschreien, aber es kam nur ein Flüstern aus ihm. Noch immer lag die Straße still und dunkel da. Kein Auto, kein Fußgänger, kein Laut. „Mann o Mann o Mann,“ war alles, was Anton dutzendmal wiederholte. Als würde er wacher als wach, ging Tony um sein Auto herum. Es war kein großer Schaden zu sehen, die Stoßstange hatte auch vorher schon nicht mehr ganz gerade gesessen. Anton faßte sich an den Kopf, trat von einem Fuß auf den anderen und schaute dann Richtung Nachthimmel. Plötzlich faßte er Tony fest am Arm. „Sühst du, wat ich seh?“
Tony folgte seinem Blick. Sein Atem stockte. „Wie willste dat denn machen?“ „Laß mer et flöck donn, ich weeß, wie mer dran kumme!“

Drei Stunden später ging die Tür zum Lokal weit auf, zehn oder zwölf nicht mehr nüchterne Gäste ließen eine hochprozentig angereicherte Schimpfkanonade los. Einer traute sich. Er setzte die Leiter an, stieg die vier Meter bis über die Dachrinne und holte den mannsgroßen „Nubbel“ von seinem kalten Aussichtsplatz. „Dänn hannt ihr äwwer nit schleiht ussjestopp!“ rief er herunter. Die schlabbrige Puppe hing ihm über die Schulter, die anderen nahmen sie entgegen und warfen sie auf eine zurechtgemachte Baudiehle. Unter Abgesang und lautem Geheule ging es einige Meter die Straße hinunter zu einem winzigen Parkstück. Ein paar Clevere hatten schon am Nachmittag eine Art Scheiterhaufen aufgebaut. Da lag der „Nubbel“ nun, verrenkt und doch noch erstaunlich ordentlich verpackt. Die Mönche zückten die Feuerzeuge, ein Clown und ein Rotkäppchen hatten plötzlich auch Fackeln in der Hand. Das Stroh, die Zweige, die Holzstücke – alles brannte lichterloh. Die Mütze vom „Nubbel“ fing Feuer, die Hose flammte auf, die trockenen Halme sprühten Funken. Zehn Minuten schauten alle fasziniert dem Feuer zu. Immer noch heulten und klagten die Frauen kunstvoll und übertrieben. Dann kam aus der ersten ein Schrei, als wär er aus der Hölle persönlich aufgestiegen. „Hat jemand Wasser?“ brüllte der Clown. „Das Feuer aus, los, das Feuer aus!“ Die beiden Feuerwehrmänner hatten bis dahin schunkelnderweise hinter der Gruppe gestanden. Jetzt schäumte der Löscher, die Menschen wichen erschrocken zurück.
Was es nach diesem Aschermittwoch noch zu untersuchen, zu ermitteln gab, das zog sich bis zum Sommeranfang hin. Viel war nicht übrig geblieben für die Spurensucher und Ermittler. Die moderne Kriminaltechnik hat es dann doch noch ans Licht gebracht, was sich im Dunkel der närrischen Nacht abgespielt hatte. Der oder die Täter wurden aber nicht gefunden.


Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ursula Hellmann).
Der Beitrag wurde von Ursula Hellmann auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Ursula Hellmann als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Mein Weihnachten von Eveline Dächer



Geschichten und Gedichte zur Weihnachtszeit.
Geschichten, im milden Kerzenlicht zu lesen,
in denen man sich wieder findet, weil sie erlebt wurden,
Geschichten von gestern und heute
Gedichte, die zum Besinnen und Nachdenken anregen,
einfach ein Büchlein, das man nicht wieder aus der Hand legen möchte.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Spannende Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ursula Hellmann

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Unglaublich dreist von Rainer Tiemann (Mensch kontra Mensch)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen