Birgit Bauernhofer

Gedanken eines Liebeskümmerers

Klospülung. Die Vermieter sind anscheinend noch auf. Tür wird geöffnet und geschlossen. Das Geräusch leiser, sich entfernender Schritte am Gang. Stille. Einzig das monotone Ticken der Uhr. Tick-Tack-Tick-Tack. 21:53, 21. Oktober 2010. Das Klappern der Tastatur, wenn sie ein Wort niederschreibt. Auch monoton. Musik? Wird gerade heruntergeladen, dauert noch. Stil? Böhse Onkelz, Die Ärzte, Unheilig. Nichts Besonderes, etwas depressiv vielleicht. Sie? Eben so wenig was Besonderes und ebenfalls etwas depressiv. Blass, Augenringe, schwarzes T-Shirt, Boxershort. Gesichtsausdruck? Eine Mischung aus traurig-sentimental, mit einer Prise Bitterkeit, dazu Enttäuschung und Ratlosigkeit. Innerer Zustand? Sehr wechselhaft. Momentan schlechtes Gewissen, es gäbe noch viel zu lernen. Gäbe. Was soll‘s?

Ein Seufzen, Blick zur Uhr. Punkt 22:00. Zu ihrer Rechten Englischvokabel, die sie links liegen lässt. Würde sich wahrscheinlich morgen rächen. Egal. Einfach kein Platz im Kopf, restlos ausgebucht, Stornierung der bereits vorhandenen Gedanken nicht möglich, alle bleiben wo sie sind, rotieren in einem nicht enden wollenden Kreis durch ihren Schädel, überschlagen sich, bleiben zeitweise stecken, reißen sich los, entgleiten ihr, lassen sich nicht klar ordnen. Nur im Zentrum herrscht Stillstand, ruht ein einziger Gedanke und lässt die anderen getrost an sich vorüberziehen. Seine einzige Tätigkeit: sich träge und genüsslich wie eine fette Made immer weiter in ihr Leben zu bohren, Besitz von ihr ergreifen- und ihr Handeln steuern zu wollen. Es gelingt ihm nicht ganz. Noch nicht. Noch wehrt sich ihr Verstand gegen ihn, liefert sich einen erbitterten Kampf, verliert jedoch zusehends an Stärke. Letzte Hoffnung: das Einsetzen der Resignation. Die Kraft aufzubringen, diesen zentralen Gedanken einfach zu ignorieren, ihm auf bewusster Ebene keine Beachtung mehr zu schenken – die bewusste Ebene unterliegt dem Realitätsprinzip, man tut was einem vernünftig erscheint. Freud, Sigmund. Das Unbewusste? Wird vom Lustprinzip gesteuert, man tut, worauf man Lust hat. Ebenfalls Freud, Sigmund. Danke, danke, ich weiß ich bin klug. Worauf sie Lust hat? Ihrem zentralen Gedanken nachzugeben. Was ihr vernünftig erscheint? Den zentralen Gedanken zu vernachlässigen, ihn auszumerzen und zu vernichten. Beides unmöglich. Was dann? Eine Gratwanderung. Bis zur rettenden Resignation. Aber auch dann würde der Gedanke im Unterbewusstsein doch vorhanden bleiben… oder? Sekundenlanges, ironisches Grinsen, Haare raufen, Kloß im Hals. Lachen? Weinen? Lachen? Weinen? Tiefes Einatmen. Alles okay. Grübeln... warum sie? Warum er? Warum jetzt? Warum noch nie zuvor? Spruch, den sie gerne sagt: einmal ist immer das erste Mal. Plausible Erklärung, die alle Fragen offen lässt. Nachdenken. War es wirklich das erste Mal? Ja. Warum er? Keine Ahnung. Sein Lachen? Seine Augen? Sein Körper? Seine Stimme? Oder das, was er sagte? Alles nichts Außergewöhnliches. Lachen: lieb. Augen: braun, lebendig, klar. Körper: groß. Stimme: normal. Angenehm. Was er sagt: teils intelligent, teils dumm, naiv. Starker Dialekt. Alles zusammen: nichts Außergewöhnliches. Und doch so schön… Etwas Feuchtes auf der Wange. Tränen??? Verdammt, ja! Sie mussten sich unbemerkt aus ihren Augen geschlichen haben, unbewusst sozusagen. Hmmm, Lustprinzip auf unbewusster Ebene… hieß das jetzt, sie wollte unbewusst weinen? Konnte man unbewusst weinen? Wie war das, wenn man im Schlaf weinte? Auch unbewusst, oder? 22:20. Schlechter Zeitpunkt, um zu philosophieren. Andererseits: wenn nicht jetzt, wann dann? Ihr Magen knurrt. Wie lange hatte sie nichts gegessen? Einen Tag, 2 Tage, eine Woche? Na, nicht übertreiben. „Nichts“ konnte man nicht sagen, da waren doch ein paar Dinge, die sie sich einverleibt hatte. Überlegen. Merkwürdig. Schokolade war nicht darunter gewesen. Ein Beweis für die völlig falsche These, dass Liebeskümmerer Schokolade in Massen verzehren würden! Liebeskümmerer? Liebeskümmerer?! Hatte sie das gedacht? Ok, warum abstreiten, warum den Tatsachen nicht ins Auge sehen? Er hatte es geschafft. Geschafft, was sie nie für möglich gehalten hätte. Nobody is perfect. Auch sie nicht. Ist ein komisches Gefühl, sich das so plötzlich einzugestehen. Liebeskümmerer… Ding-Dong. Ein SMS. Kurzer Blick auf das Handy. Nein, es ist nicht von ihm. Hätte sie auch gewundert, wenn es so wäre. Öffnen. „Hi! Hast lust, das ma morgn was trinkn gehn? Würd mich freun =). Kuss und lg, xy.“ Bitterkeit steigt in ihr hoch. Wieso meldeten sich alle, nur nicht der, von dem man es wollte? Der, von dem ein SMS genügen würde, um ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern, der, von dem ein Wort genügen würde, dass sie den nächsten Zug nehmen- und zu ihm fahren würde? Aus welchem Grund auch immer! Allein ihn zu sehen, und seien es nur 5 Minuten, die er ihr widmete, das allein würde reichen. Würde, würde, würde... Würde? Ha, sie war gerade dabei, all ihre Würde zu verlieren! Für einen Mann. Wahrscheinlich war er es nicht einmal wert, dass sie ständig an ihn dachte. Wahrscheinlich wäre es klüger, sich mit einem der XY zu treffen, die liefen ihr immerhin schon lange nach und hatten bereits viel einstecken müssen, wenn sie wieder mal ihren Frust an jemandem hatte auslassen müssen. Wahrscheinlich waren diese XY alle viel, viel besser als er, wahrscheinlich liebten sie sie, würden sie auf Händen tragen, ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen… Halt! Stopp! Aus!- Sie hasst es, sich durch Gedanken wie diese selbst etwas vormachen zu wollen. Als ob es sie interessierte, ob ein anderer eventuell vielleicht schöner, netter, intelligenter, zuvorkommender, höflicher oder sonst etwas war. Sie hatte ihn gewählt. Ihn und keinen anderen. Wo die Liebe hinfällt- patsch!- selfmade Ohrfeige. Für ihre Blödheit. 22:31. 38 Minuten. Besser: 38 verschwendete Minuten. 38 absolut unwiederbringlich verlorene Minuten ihres Lebens. Verstohlener Blick zu den Englischvokabeln. Seufzer, Heft wird aufgeschlagen. Cut-schneiden. Injury-Verletzung. Sie könnte ihm schreiben. Abrasion-Schürfwunde. Nur ein SMS. Headache-Kopfweh. Wie es ihm geht und so… Surgeon-Chirurg. Sollte sie? Dentist-Zahnarzt. Dental clinic-Zahnklinik. Wahrscheinlich würde er nicht antworten. Abrasion-… Was grinst ihr mich so höhnisch an, ihr verdammten Vokabel?! Heft, das quer durchs Zimmer fliegt, Gesicht das in den Händen verborgen wird, Verzweiflung, die sich breit macht. Schluchzen. Tränen. Nein, keine Tränen. Aus Trotz nicht! Sie wirft den Kopf in den Nacken, atmet tief ein. Immer mit der Ruhe. SMS, genau. „Hi! Wie geht’s dir, mir geht’s gut. Würde mich freuen wenn wir uns morgen sehen würden. Uhrzeit, ort?“ Weiter - senden an – XY - senden. Stille. Und dann: Tränen.

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