Diethelm Reiner Kaminski

Trocken



Zu viel trinken? Ich? Das ist ja wohl ein Gerücht. Nur weil ich mir morgens am Büdchen einen Flachmann geholt habe, um meinen üblen Geschmack im Mund wegzuspülen?
Wurde reichlich spät gestern Abend, oder besser: Nacht. Wenn Madeleine ihren Geburtstag feiert, fließt der Tequila in Strömen. Da gibt es kein Entrinnen. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, weil ich ja ohne Auto gar nicht nach Hause kommen würde, aber da kennt ihr Madeleine schlecht. Die gibt keine Ruhe, bevor man nicht mindestens dreimal mit ihr angestoßen hat. Und vor den Kopf stoßen möchte ich meine beste Freundin auch nicht. Wenn man ausnahmsweise mal aus gewichtigem Anlass ein wenig über die Stränge schlägt, ist man ja nicht gleich für den Rest des Lebens verloren. Bei drei Gläsern blieb es natürlich nicht. Wie auch? In so ausgelassener Gesellschaft. Alle wollen sich bei Madeleine lieb Kind machen und mit ihrer besten Freundin, mir, ein Gläschen in Friede, Freude trallala trinken. Soll ich es mir etwa mit denen verderben und mir unnötigerweise Feindinnen schaffen? Wer weiß, wo ich die Bande noch einmal brauchen kann. Man ist ja auch nicht gleich benebelt. Anfangs wird der Kopf so leicht. Alle Probleme lösen sich in Luft auf. Man fängt an zu schweben und zählt die Gläser nicht mehr. War ja auch nicht weiter schlimm und ein schöner beschwingter Abend obendrein. Mensch, haben wir gelacht. Wie lange nicht mehr. Tolle Féte, bis auf den Brummschädel und den faden Geschmack im Mund am Morgen danach. Und ich bin ja auch sicher in meinem Bettchen gelandet, sogar ohne Begleitung. Glaube ich jedenfalls. Erinnern kann ich mich nicht, wie und wann oder mit wem der Abend zu Ende ging.
Im Fahrstuhl bin ich zum Glück allein, so dass ich noch schnell den letzten Schluck aus dem Flachmann nehmen kann. Der möbelt mich auf. Gibt mir Schwung und Selbstvertrauen. Ich wüsste sonst nicht, wie ich den Tag überstehen soll. „Komm doch auf einen Sprung rüber in mein Büro“, ruft mich Madeleine in der Mittagspause an. „Die ganze Chefetage ist heute ausgeflogen. Vorstandssitzung.“ Solche Sitzungen, ob nun echt oder erfunden, enden gewöhnlich ziemlich feucht, jedenfalls auf keinen Fall in der Firma. „Wir können uns gemütlich die Reste von der Féte reinziehen.“ Mit Salaten und Broten ist aber nichts. Die haben die letzten Gäste nachts noch vertilgt. Dafür jede Menge Prosecco, Grappa, Rot- und Weißwein. Mir ist so gar nicht nach Alkohol, aber Madeleine hat schon eingeschenkt, und Karli und Inga strecken mir ihre Gläser entgegen, um mich dazu zu beglückwünschen,  dass man mir die kurze Nacht gar nicht ansieht. Da möchte man keine Spielverderberin sein. Außerdem droht heute keine Gefahr durch Vorgesetzte, die einen wegen mangelnder Leistung oder totaler Geistesabwesenheit rügen könnten. Ist die Katze fort, tanzen die Mäuse auf Tischen und Bänken. Das nun gerade nicht, aber Karl hat schon einen Radiosender im PC mit flotter Tanzmusik aufgespürt und fordert mich zu einem Tango auf. Soll ich ihm einen Korb geben, wo ich doch leidenschaftlich gerne Tango tanze und Karl so ein perfekter Tänzer ist? Diese Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder. Mit meinem Kopf ist heute eh kein Staat mehr zu machen. Muss auch mal sein. Schließlich schieben wir in dieser Ausbeuterfirma genügend Überstunden. Unbezahlte, versteht sich. Die Denkleistung, die mein Kopf heute kaum vollbringen würde, vergisst er ohne Reue in Karlis Armen. Einmal ist keinmal. Aller guten Dinge sind drei. Denn da fällt mir ein, dass morgen Samstag ist, und da bin ich zum Brunch im Hotel Dostal eingeladen. Großes Champagner-Buffet. Nils feiert seine Beförderung und hat schon angedroht, dass er endlich herausfinden möchte, wer trinkfester ist: er oder ich. Ich könnte absagen und wäre aus dem Schneider, aber in letzter Minute? Das gehört sich nicht. Und unter Kollegen ist man ganz schnell isoliert. Also in den bitteren Apfel beißen und auch den Samstag durchstehen. Am Sonntag kann ich mich dann mit Mineralwasser und Aspirin C, Kaffee mit Zitrone und falls notwendig, ein paar Stunden Sauna für die kommende Woche fit machen. Wenn ich eine gute Eigenschaft mein eigen nenne, dann ist das meine Willensstärke. Wie Stahlseile. Soll mir mal jemand nachmachen. Nächste Woche bleibe ich trocken. Total. Nächste Woche? Nee, den Vorsatz muss ich um eine Woche verschieben. War mir ganz entfallen, dass Renatas Hochzeit am Freitag steigt. Und vorher noch der Frauenabend im Bieresel. Dass kann ich denen nicht antun, dass ich fehle, wo ich am lautesten geschrien habe, wie sehr ich mich drauf freue. Man unterliegt nun mal gewissen gesellschaftlichen Zwängen, aber auf eine Woche kommt es nicht drauf an. Deswegen bin ich noch lange kein Alki. Wenn ich wollte, käme ich ab heute 18 Uhr, pünktlich mit dem Sonnenuntergang, ohne einen Tropfen Alkohol aus. Aber so weit kommt es noch, dass ich mir selbst blödsinnige Termine setze. Diesen Tag, der so überraschend angenehm verlaufen ist, werde ich mal schön ausklingen lassen mit einem Fläschchen Rotwein und romantischer Musik. Bevor in zwei Wochen die lange Dürreperiode beginnt. Wie viele Monate sind es eigentlich noch bis zum gemeinsamen Urlaub mit unserer Frauenclique in Ibiza?
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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