Katharina Gröblinger

Der Holztisch und der Abschied im Dialog




I.

Er ging sehr langsam auf den Tisch zu, den Kopf gesenkt von zu viel Arbeit und zu vielen Sorgen. Er ging gebückt wie ein alter Mann. Doch war es nicht vorrangig sein Alter, sondern die Last auf seinem Rücken, die ihn nieder drückte wie der Regen das Laub auf den feuchten Waldboden. Als er den Tisch erreichte, stützte er sich ab um sich mit der anderen Hand seinen Sessel zu Recht zu rücken. Er atmete tief aus als er sich endlich gesetzt hatte.
Seine Hand strich sanft über das alte Holz, das auf eine unheimliche und intime Art und Weise das Leben in seinem Gesicht widerspiegelte. Er schien jede Furche wieder zu erkennen und voller Ehrfurcht willkommen zu heißen. Das Holz war alt und aufgerieben. Die Furchen erzählten von einem anderen Leben, von vielen Händen, die es im Laufe der Jahre abgenutzt hatten. Es hat immer nur gedient, es hat nie gefordert. Es war einfach immer da gewesen. Es wurde auch nie gefragt. Warum sollte man Zuneigung und Worte verschwenden, wo kein Hinweis auf eine Gegenleistung zu erkennen war.
Es heißt, altes Holz werde mit den Jahren immer eigenwilliger und wertvoller. Mit all seinen Flecken und Furchen hatte es nicht mehr viel zu fürchten oder zu verlieren. Geschichte war auf seinem Rücken geschrieben worden, doch Ruhe hatte sie dort keine gefunden.  
Was durch seinen Kopf ging, als er endlich an dem Tisch saß, ist ungewiss. Auf Außenstehende schien er die personifizierte Ruhe zu sein. Wie die Oberfläche eines Gewässers auf das sich keine Welle verirrt, aus Angst den lang erkämpften Frieden aus dem Schlaf zu reißen. Man könnte seine Ruhe aber auch mit dem Labyrinth seiner Gedanken, in dem er sich offensichtlich verloren oder versteckt hat, verwechseln. Der alte Mann saß auf seinem Sessel, ohne ein Fenster, das ihm einen Ausblick gewährt hätte.
 
II.

Kein Fenster mit Ausblick, sondern ein Teppich in einer Ecke des Zimmers leistete dem Mann  stummen Beistand. Der teure und glamouröse Teppich von einst war nun stumm und hilflos. Nur mehr Staub und Spinnen nahmen sich seiner an, nichts erinnerte mehr an bessere Tage, die es durchaus gegeben hatte.
Bessere Tage oder gar den einen Tag, an dem er das erste Mal das Licht des Zimmers erblickt hatte. Er war älter als der Holztisch und hätte auch viel mehr zu erzählen, nicht nur aufgrund seines Alters, sondern vor allem aufgrund seiner Perspektive. Man hatte ihn mit Füßen getreten und jeder dieser Tritte hat ihm eine Geschichte erzählt bzw. ihn eine Lektion gelehrt. Jede einzelne Lektion hatte ihn seinen wohl verdienten Ruhestand noch sehnlicher herbeisehnen lassen, doch nun, da die Stunden gezählt und die Geschichten erzählt waren, ereilte den Teppich die Erkenntnis, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte.
Seine Gedanken und Hirngespinste wurden just in dem Moment von einer Spinne unterbrochen, die sich ihren Weg in sein Innerstes bohrte. Diese Störung riss ihn wieder in die Gegenwart zurück und rief ihm in Erinnerung, was aus ihm geworden war. Die Farben von einst waren verblasst, der gewebte Stoff war mittlerweile löchrig und die Fransen, seine ehemaligen Leibwächter, waren verkümmert oder ganz abgefallen. Doch zuminderst der Spinne war er noch von Nutzen. Zu behaupten es hätte ihm Erleichterung verschafft, wäre falsch, aber zumindest machte es seine Hirngespinste greifbarer. Es war wie es war für ihn, den Teppich, der stumm in einer wahllosen Ecke am Boden lag.
 
III.

Zumindest war der Boden auf dem der Teppich verweilte aus Holz und nicht aus Stein. Wie der Tisch hatte auch der Boden schon bessere Tage gesehen. Er war alt und wirkte abgenutzt. Obwohl er im Großen und Ganzen einen gepflegten Eindruck machte, war er stellenweise aufgerissen wie Asphalt nach einem sehr harten und langen Winter. Die Schuld dafür kann man der Zeit in die Schuhe schieben, aber das wirklich traurige daran war, dass sich niemand mehr die Mühe machte, diese Risse zu verstecken, wie etwa mit einem Teppich.
Dem Material Holz wird nachgesagt, dass es wärmer und einladender ist als Stein. Es soll dem Menschen Behaglichkeit und Wohlbefinden vermitteln. Der Nachteil von Holz ist allerdings, dass es dem Alterungsprozess gleichermaßen ausgeliefert ist wie der Mensch selbst. Somit haben sie schon etwas Wichtiges gemeinsam, nämlich die Endlichkeit, die den Beginn und das Ende in einem Atemzug hofiert. 
Steinen hingegen sagt man Kälte und Härte nach. Sie mögen auf den ersten Blick vielleicht weniger einladend wirken als Holz, auf der anderen Seite sind sie pflegeleichter und nicht so launisch. Der entscheidende Vorteil ist jedoch ihre Beständigkeit. So gut wie alle Gebäude, welche die Jahrtausende scheinbar spurlos durchquert haben um uns Menschen unsere Endlichkeit vorzuwerfen, sind aus Stein.
War der Boden aus Holz, so waren die Wände des Zimmers in grau-beige gehalten. Eine Farbe, die man nicht kaufen kann, sondern eine Farbe, die nur das Rad der Zeit anzurühren vermag. Anhand der vielen unterschiedlich großen Ränder an den Wänden konnte man erkennen, dass das Zimmer einst mit vielen unterschiedlich großen Bildern geschmückt gewesen war. Diese waren aber schon vor langer Zeit von Menschenhand entfernt worden. Was übrig blieb waren weiße Flecken, die das Geheimnis der ursprünglichen Wandfarbe preisgaben und die nun schutzlos dem Prozess des Verblassens ausgeliefert waren.
 
IV.

Der Mann schenkte weder dem Teppich, noch dem Holzboden, noch den ihn umgebenden Wänden einen einzigen Blick. In der Tat war er ihr aller Meister gewesen. Er hatte den Tisch selbst zusammengezimmert, mit Holz, das er einem Baum abgerungen hatte, und mit Nägeln, die dem Rost entkommen waren. Für den Boden hatten sich andere Bäume geopfert, doch erst durch seiner Hände Arbeit war aus den vielen Brettern ein Boden entstanden, auf dem man gehen konnte ohne hinzufallen.
Die Wandfarbe hatte er zwar nicht selber ausgesucht, aber er war derjenige gewesen, der die Wände immer wieder neu gestrichen hatte. Und immer mit derselben Farbe. Natürlich war auch er es gewesen, der die Nägel für die vielen Bilder in die Wände geschlagen hatte. Manchmal, wenn ein Rahmen zu schwer für einen einzelnen Nagel gewesen war, hat es auch zwei oder drei Nägel gebraucht, aber am Ende hielten sie die schwersten Rahmen wie eine Mutter ihr neu geborenes Kind.
Der Glanz der Vergangenheit konnte nur mehr erahnt werden. Es brauchte schon sehr viel Fantasie um die leeren Flecken auf den Wänden mit Erinnerungen und Bildern aus besseren Tagen und Nächten zu füllen. Doch an diese Tage schien der Mann keinen Gedanken mehr zu verlieren. Er hatte schon genug verloren, also warum sich auch noch über das Verlieren an sich den Kopf zerbrechen? Gedanken sind wie Treibsand, wenn man von Zeit zu Zeit nicht auch einmal aufschaut und den Ausblick aus dem Fenster genießt.
Der Mann saß auf seinem Sessel. Er hatte aufgehört den Furchen des Tisches auf den Grund zu gehen. Stattdessen lagen seine Hände verknotet vor ihm auf dem Tisch. Er starrte abwechselnd ins Leere und auf seine Hände. Auf den ersten Blick sah es vielleicht so aus, als ob er beten würde. Wenn man allerdings genauer und länger hinschaute, erkannte man, dass er nur seine zitternden Finger in Zaum zu halten versuchte.
 
V.

Das Steinhaus des Mannes stand inmitten von unzähligen Obstbäumen auf einer großen Wiese. Ein Apfelbaum stand so nah am Haus, das seine Äste schützend wie ein Regenschirm über einen Teil des Daches hingen. Gleichzeitig vermittelten sie aber auch den Eindruck als wollten sie einen Teil ihrer schweren Last auf dem Dach ablegen. Es war allerhöchste Zeit die Früchte zu ernten, einerseits ihrer selbst willen und andererseits um die gewaltige Last von den Schultern der Bäume zu nehmen.  
Von außen hatte man beim Anblick des Hauses das Gefühl als hätte die Zeit vergessen dieses Fleckchen Erde auf ihre Reise mitzunehmen. Tatsächlich hatte sich in den letzten Jahrzehnten so gut wie nichts an dem Anblick geändert. Das Steinhaus inmitten von Bäumen. Umgeben von einer Landschaft, die aus reiner Langeweile ihre Farben öfter zu wechseln schien als anderswo. Spielende Kinder suchte man hier vergebens.
Das Haus war einst vom Großvater des Mannes erbaut worden. Ein kleines Haus aus Stein mit einer Wohnküche, einem Badezimmer und zwei Schlafzimmern. Die Küche und das Badezimmer waren im Laufe der Jahrzehnte mehrmals erneuert worden, aber es schien als hätten sich die Neuerungen an das Haus angepasst als umgekehrt.
Beim Betreten des Hauses wurde man sich sofort der Geschichten bewusst, die in diesem Haus geschrieben worden waren. Die Füße, die durch das Haus getanzt oder gerannt waren; die lachenden und weinenden Stimmen, die den Wänden Unterhaltung geboten hatten; die Hände, die sich an den Wänden abgestützt hatten. Sobald man sich dessen bewusst geworden war, wurde man augenblicklich von der Stille und der Kälte der Einsamkeit erschlagen.
Die erste Tür auf der rechten Seite des Flures führte in die Wohnküche, wo der Mann an seinem Tisch saß. Die Küche wurde dieser Tage aber so gut wie nie benutzt. Ein paar Konservendosen standen auf dem Tresen, ansonsten war sie makellos. Hinter dem Raum befand sich noch das Badezimmer, das wie alle übrigen Räume des Hauses nur mit dem allernötigsten ausgestattet waren.
Die zwei Türen auf der linken Seite führten in die zwei Schlafzimmer. Eines der Zimmer, das kleinere von beiden, wurde mehr oder weniger regelmäßig von dem Mann genutzt. Das andere war schon so lange nicht mehr benutzt worden, dass niemand mehr wusste, ob die zwei Kinderbetten noch darin standen.
Es war Herbst geworden. Die Bäume trugen mittlerweile unerträglich schwere Lasten. Als letzte Lösung hatten die Äste damit begonnen, Teile davon der Schwerkraft zu überlassen. Nur so konnten die Zweige der Bäume abwenden, dass sie brechen wie die alten Knochen eines Menschen. Viele der überreifen Früchte verfaulten in Folge auf dem Boden oder wurden bestenfalls von den Vögeln gefressen. Auch zu den Füßen des Apfelbaumes am Haus lagen übermäßig viele Äpfel. Rot wie die neuesten Ziegel des Daches und dem Verfall verschrieben wie die ältesten Ziegel, die niemand mehr zu ersetzen wusste.
Die Zweige, die sich ihrer Last entledigt hatten, stemmten ihre alten Knochen wieder gegen den Himmel und gaben den Blick auf die Hausmauer frei. Eine Mauer mit einem kleinen Fenster. Durch die verdreckten Fensterscheiben sah man den Mann mit dem Rücken zum Fenster an seinem Tisch sitzen. Man konnte die Konturen seines Rückens erkennen, seine Schultern, die sich mit jedem Atemzug hoben und wieder senkten. Wie die Zweige im Tanz des Windes, hoben und senkten sie sich.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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