Sebastian Dommel

Der gute Freund

Zwei Brüder nannten ein und denselben Menschen ihren Freund. Vieles erlebten und durchstanden sie zu dritt und immer einander achtend und vertrauend. Doch eines Tages, wie es unter Brüdern eben vorkommen kann, gerieten beide in Streit. Sie waren einander gegenüber so verärgert, ja verbittert, dass sie von ihrem Unmut förmlich verblendet waren.

Beide ersuchten daraufhin Hilfe bei ihrem Freund. „Weißt du eigentlich, wie enttäuscht ich von meinem Bruder bin, lieber Freund? Er hat mir übel zugespielt, mich hintergangen, mich gekränkt und verraten. Vor einiger Zeit lernte er eine Frau kennen, schöner als man sie mit Worten beschreiben könnte, ohne ihr dabei Unrecht zu tun. Sie war mitfühlender, als ich es je bei einem anderen Menschen gesehen habe. Ich war immer neidisch auf ihn und freute mich insgeheim, als sich beide trennten. Kürzlich habe ich sie wieder gesehen und war von ihr wieder verzückt. Alles habe ich meinem Tagebuch anvertraut und meinen Bruder erwischt, wie er darin las“. Der Freund hörte sich die Schilderung des einen an.

Kurz darauf kam der andere Bruder zum Freund und war außer sich. „Weißt du eigentlich, wie enttäuscht ich von meinem Bruder bin, lieber Freund? Vor einiger Zeit lernte ich eine Frau kennen, schöner als jedes andere Geschöpf unter den Sternen, in ihrem Wesen war sie lieblicher und milder, als eine warme Sommerbrise. Doch sie hat mich verlassen und für mich ging die Welt unter. Seitdem war ich nicht mehr fähig zu lieben. Mein Bruder und ich schworen uns in Jugendtagen, nie dieselbe Frau zu begehren. Aber nun erfuhr ich, dass er um ihre Liebe ringt.“ Auch die Ausführungen dieses Bruders hörte sich der gute Freund an.  

Es vergingen einige Tage, in denen keiner mit dem anderen sprach. Dann lud der Freund beide zu einem Fest zu sich ein, mit der Bitte, die Einladung auch dem Bruder weiter zu geben. Doch, weil beide so voller Gram waren, verschwendete keiner der beiden auch nur einen Gedanken daran und sie gingen allein zu ihrem Freund. Jeder für sich. Als dieser die Verwunderung und den Unmut beider erblickte, als jene einander sahen, wusste er, dass sie nicht miteinander gesprochen hatten. Er sagte zu ihnen: „Liebe Freunde, wir haben zusammen so einiges erlebt und gemeinsam einige Krisen überstanden. Aber jetzt steht ihr an einem Punkt, wo keiner dem anderen zu vergeben bereit ist. Zwischen euch ragt eine Kluft, die täglich größer wird. Auf jeder Seite steht einer von euch, doch keiner kann diese allein überspringen. Nur wenn ihr einander die Hand reicht, könnt ihr euren Weg wieder gemeinsam gehen. Beide habt ihr einen Fehler gemacht, doch seid ihr nicht bereit, den des anderen zu verzeihen, weil ihr diesen schwerer erachtet, als den eigenen. Ihr könnt Vergangenes nicht ändern, aber ihr könnt es vergeben und vergessen, um euch nicht die Zukunft zu zerstören“.

Beide Brüder hörten den Worten des Freundes stumm zu, sahen einander an und gingen weinend auseinander.

©2011, Sebastian Dommel

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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