Vadim Pryde

Fragmente, oder die Kunst zu sterben. - Teil 2

 

Victor war sich sicher, daß sich bald alles ändern würde. Wenn nicht hier, dann zumindest irgendwo anders auf der Welt. Vielleicht irgendwo, wo es die Menschen eher zu schätzen wüssten als in dieser eingelullten und vor sich hinfaulenden Gegend in der er groß geworden war. Bis sich hier etwas ändert, würden noch Jahrzehnte und Jahrhunderte vergehen. Nicht einmal Ereignisse von potenzieller Tragweite konnten das fette und sabbernde enfant roi wecken, welches die Gemüter hierzulande geworden waren. Bestenfalls motzt und meckert es und dreht sich auf die andere Seite, ebenso blind wie zuvor und schläft weiter. Warum auch nicht, keiner hier träumt mehr von einem Leben, welches sein bisheriges übersteigt und so wird der Dschungel der Möglichkeiten nur zu schnell und zu gern zu einer Straße auf der man sich selbst vergessen möchte.

Auf der Parkbank lag neben ihm eine Zeitung, sorgsam zusammengefaltet für den nächsten Leser von ihrem eigentlichen Käufer hinterlassen. Die Titelseite zierte ein Bild von einem jungen Mann mit einem Plakat auf einer Sprache die niemand spricht, der sich so eine Zeitung kaufen würde und einige schweruniformierte Regierungsschläger. Alles ändert sich. Andauernd. Menschen leben und Menschen sterben. Und wenn es mal etwas über einen Dutzend Schüler erwischt, dann zelebrieren die Hinterbliebenen den Ritus der Trauer wie eine Herde Kühe die man zum Trauermarsch auf den Friedhofsgarten treibt, lecken sich die Wunden und fragen sich noch Jahre später nach dem “warum”, was so offensichtlich ist, daß sie sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmen müssten, wenn sie es sich eingestehen. Jeder, absolut jeder, der in der Vergangenheit die Chance hatte etwas zu ändern und es auf nichts anderes hat hinauslaufen lassen als auf genau was wir heute haben ist auf seine ganz persönliche Weise schuld. Das gilt insbesondere für die Alten, die Wirtschaft, die Politik und die Gesellschaft. We won’t disappear just because your eyes are shut.

Victor widerstand der Versuchung die Zeitung an sich zu nehmen und eingehender zu studieren, würde es ihm nicht so gut bekommen. Jedes Mal wenn er da saß und hämisch grinste wenn die Welt sich ein Stückweit selbst zerstörte, im befreienden Chaos versank und Gewalten einschlugen wie die Faust eines zornigen Halbgottes war ein gefährlicher Moment. Jeden Augenblick könnte seine Stimmung kippen und er auf die Idee kommen, das zu machen was man im Gesellschaftsnormalfeld bestenfalls als Dummheiten bezeichnen könnte. Wollte er was verändern, was beweisen, jemanden aufrütteln? Das hatte er früher gedacht, aber mittlerweile hat er zumindest für sich erkannt, daß es nur eine Welt gibt: Die in seinem Kopf. All das was unser Gehirn aus den Signalen die es bekommt herausfiltert und interpretiert ist einzigartig und nur sehr bedingt übertragbar. Zählt man das Wort “Missverständnis” alleine in diesem Land pro Tag, kommt man auf eine Zahl die groß genug ist, daß jede Gegenargumentation in Irrelevanz stürzt. Und so alleinegelassen wie man mit seinen Gedanken, Anschauungen und Geschmäckern, Gefühlen und Vorstellungen ist, ist es kein Wunder, daß dies vermutlich zu den unpopulärsten Ideen der Gegenwart zählt. Diese Idee macht Menschen Angst, denn viel zu gern versteckt sich das vermeintlich soziale Wesen in Gemeinsamkeiten, Clubs und Vereinen, im Patriotismus oder in Subkulturen, in Internetforen oder auf dem Show-off-Parkett. Man hat alleine Angst. Mensch hat alleine Angst. Und nur wer es schafft, sie hinter sich zu lassen kann vollkommen frei von all diesen Dingen sein, die uns tagtäglich in die Suppe spucken. Das geht los mit der Erziehung, das Endet beim Bridgeabend im Rentenalter. Von vorn bis hinten belogen und beraubt unserer Zeit und unserer geistigen Freiheit schließen wir die Augen wenn wir gehen und denken das ist wohl das wahre Leben gewesen. Auf dem Sterbebett auch doch nur eine unendlich lange Liste vertaner Chancen, verpasster Gelegenheiten und gemachter Fehler.

Benzin ist die Lösung für soetwas. Eine hervorragende Lösung. Du stapelst diesen ganzen Bullshit den Du täglich zu fressen bekommst zusammen mit Deinen Ängsten und Deinen Ketten auf einen Haufen, gießt es drüber und dann trennt Dich nur noch ein Streichholz von Deiner Freiheit. Wusch! Dumm nur, die meisten die genau das tun, machen entweder einen Rückzieher und klettern nochmal ins Feuer um irgendwas zu retten was sie nicht brauchen oder aber starren dem kokelnden Zeug so lange hinterher bis sie vom Feuerschein gefangen sich selbst mit der Lösung übergießen wollen. Das sind dann die Momente, wo Menschen mit mitte vierzig sich einen Strick nehmen. Und ihnen bei dieser glorreichen Erkenntnis zu helfen, zu sehen wo die Grenze zwischen Feuer und Selbst, zwischen Demontage und Vernichtung ist, das ist eines von Victors liebgewonnenen Hobbies geworden. Das einzige, was er bislang soweit nicht angegangen war, war seine eigene Reise zum Horizont, sein eigener Tod, doch er spürte ihn näherkommen. Jedes Mal wenn er eine Uhr ticken hörte, er merkte ihren kalten Hauch in jedem Sonnenaufgang, in jedem welken Blatt. “Doch was sagt man so jemandem, wenn er einem begegnet?”, fragte er sich.

“Ich bin hier fertig. Lass uns gehen.”, schallte es einige Meter hinter ihm in einer ruhigen angenehmen, wenn auch leicht herrischen Stimme eines Mannes. Er drehte sich um und sah auf einer anderen Parkbank einen älteren Herren aufstehen, der wohl von einem anderen erwartet wurde. Es dauerte einen Moment, bis er merkte, daß diese beiden sicher nicht in seinen Gedanken gelesen haben und mitnichten mit ihm sprachen. Und doch hatte er seine Antwort erhalten.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.03.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Die Geschichte spielt im Berlin der 90er Jahre.

Den beiden Freundinnen Andrea und Sigrid hat im Laufe weniger Monate das Schicksal übel mitgespielt. Mit dem Weihnachtsfest scheint sich eine positive Wende anzukündigen. Andreas Beziehung zu Wilfried Ruge, die anfangs unter keinem guten Stern zu stehen schien, festigt sich. Auch ihre Freundin glaubt in Wilfried ein verlässlichen Kameraden zu sehen. Beide Frauen nehmen ihr Schicksal optimistisch in die Hand.

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