Swen Artmann

Valentin



 
Der graue Designeranzug, den Valentin erst vor drei Stunden gekauft hatte, saß perfekt, als dieser vor dem goldumrandeten Spiegel im Flur seines Penthouses eine Pirouette nach der anderen drehte.
 
„Unwiderstehlich“, murmelte er, während er sich mit der mehrfach beringten Hand durchs schulterlange, stark zurückgegelte schwarze Haar fuhr. „Einfach unwiderstehlich.“
 

 
Selbstzufrieden lächelnd, prüfte er im Bad nochmals seine vor wenigen Minuten beendete Nassrasur, bediente sich großzügig aus der Rasierwasserflasche und rückte die seidene Krawatte zurecht.
 
In wenigen Minuten würde das von seiner Produktionsfirma bestellte Taxi unten vor der Tür stehen, um ihn zu seinem vielleicht wichtigsten Geschäftsessen zu fahren. Das Angenehme an diesem Termin bestand nicht nur darin, dass er im Restaurant von Kölns wohl bestem und teuerstem Hotel stattfand, sondern vor allem darin, dass sein direkter Verhandlungspartner, von dem seine finanzielle Zukunft entscheidend abhängen konnte, eine äußerst attraktive Frau von höchstens 35 Jahren war. Valentin hatte sie schon vor einigen Tagen auf einer Vernissage kennen gelernt und bereits nach wenigen Minuten festgestellt, dass seine Chancen nicht schlecht standen, einen etwaigen erfolgreichen Vertragsabschluss nicht nur mit einem einfachen Glas Champagner in einem vollbesetzten Restaurant zu feiern. Fast mechanisch glitt seine linke Hand in die Hosentasche, um festzustellen, dass sich die zwei Kondome, die er vorsorglich eingesteckt hatte, noch immer dort befanden.
 

 
Er warf sich den dunkelbraunen Kaschmir-Mantel über den Arm, griff nach der ledernen Aktentasche, schaltete die Alarmanlage ein, löschte das Licht im Flur, öffnete die Wohnungstür und stand auch schon im Treppenhaus, in dem es stets nach einer blumigen Mischung aus Chanel No.5 und dem Bouquette frisch gedruckter Banknoten roch. Valentins Wohnung befand sich im 13. Stock des erst kürzlich komplett renovierten Hauses, und nun steuerte er geradewegs auf den Aufzug zu, der mit seinem altertümlichen eisernen Frontgitter wie ein Relikt aus längst vergangenen, goldenen und besseren Zeiten wirkte.
 
Valentins harten Absätze schienen das gesamte Treppenhaus in gleichmäßige, monotone Schwingungen zu versetzen. Während jeder Schritt von den hohen Wänden vielfach zurückgeworfen wurde und dabei wie der stetige Herzschlag eines riesigen Fabelwesens wirkte, lösten sie bei Valentin ein würziges Gefühl von Macht und Größe aus. Er genoss den fast königlich einsamen Klang seiner genagelten Schuhe auf dem versiegelten, dunklen Holzboden.
 

 
Valentin drückte den Knopf an der Fahrstuhltür und ein kleiner gelber Pfeil verriet ihm, dass wieder einmal genau das geschah, was er sich wünschte.
 

 
XXX
 

 
Als er vor drei Jahren bei Schneider & Rehm eingestiegen war, kam er direkt von der Uni. Er hatte nichts vorzuweisen als einen einjährigen Studienaufenthalt an der University of Boston und das mittelmäßige Staatsexamen, mit dem man sich in seiner Branche fast schon einmal einen Sarg bestellen konnte. Er war, wie er sich schon oft hatte eingestehen müssen, kein Experte in theoretischem und wissenschaftlichem Arbeiten gewesen. Er hatte es jedoch stets verstanden, Menschen in seinen Bann zu ziehen und von sich zu überzeugen. Und das konnte er so gut, weil er restlos von sich selbst überzeugt war.
 

 
Für die Stelle des Werbemanagers und Abteilungsleiters hatten sich damals etwa zwei Dutzend, zum Teil hochqualifizierte, Damen und Herren beworben, die teilweise schon auf mehrjährige Tätigkeiten in den verschiedensten Unternehmen zurückschauen konnten. Valentin hatte mit der Hälfte von ihnen in einer Art Konferenzraum sitzen müssen, um über Teamwork, Wirtschaftskrise, Trendforschung, Zielgrupppen, Werbestrategien und Marktanalysen zu diskutieren. Dabei liefen die ganze Zeit über vier Videokameras, die jeweils in den Ecken des Raumes auf Stativen aufgebaut und genau auf den Gesprächskreis ausgerichtet waren.
 

 
Während einige Übereifrige direkt gestenreich mit minutenlangen Monologen begannen, ihr überschaubares und begrenztes Lebenswissen herunter zu beten und dabei immer entschlossen direkt in eine der Kameras lächelten, als gehe es darum, eine Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule zu bestehen, hatte sich Valentin sehr lange Zeit auffallend still und distanziert verhalten. Er hatte in seinem dunklen Anzug, schwarzem Hemd und weinroter Krawatte einfach nur schweigend und mit übereinander geschlagenen Beinen zwischen den wirkenden Akteuren gesessen und geschwiegen. Dabei hatte er seine Ellenbogen auf die Lehne des Stuhles gestützt und die Hände wie ein Mafia-Pate vor seinem Kinn gefaltet. So wirkend hatte er, mehr gelangweilt als wirklich interessiert, seinen Blick von einem Redner zum nächsten wandern lassen. Seine braungebrannte, klare Stirn hatte dabei oft nachdenklich in Falten gelegen.
 

 
Obwohl es sich um einen Eignungstest gehandelt hatte, und vergleichbare Situationen in der Regel von den teilnehmenden Personen als nicht allzu angenehm bewertet werden, genoss Valentin jede Sekunde dieser Prozedur. Es war seine Bühne. Er war der General, der Befehlshaber und dort kämpften seine Untertanen, seine Soldaten, verzweifelt mit Holzschwertern gegen Schlachtschiffe und Atomraketen. Er lächelte innerlich verächtlich über die strauchelnden, sich oftmals vergalloppierenden, bemühten Kontrahenten mit ihren Traumvorstellungen und Berufsabsichten.
 
Irgendwann während des Gespräches, ein etwa gleichaltriger Bewerber mit rotem Gesicht und einem gewaltigen Pickel auf der Nase hatte gerade ein völlig überflüssiges Statement über den Wandel der Werbung im Laufe der letzten zwanzig Jahre von sich gegeben, wahrscheinlich das Thema seiner Diplomarbeit, fiel einem etwa 45-jährigen Mann mit Nickelbrille und kämpferisch geschorenem Schädel, für den es bis zu diesem Moment eigentlich recht gut gelaufen war und den Valentin als seinen eigentlichen heimlichen Hauptgegner herausgefiltert hatte, nichts Besseres ein, als den Fehler zu begehen, der ihm letztlich den Job kosten sollte.
 
Er gab Valentin ein Stichwort und machte ihm buckelnd und unter stillen Schmerzen kreischend die Bühne frei.
 
„Sag mal, hast du gar nichts zu sagen? Sitzt hier die ganze Zeit rum und sprichst kein Wort?“
 

 
Valentin sah Nickelbrille direkt in die Augen.
 
„Was würden Sie denn von mir erwarten?“ fragte Valentin mit ruhiger, gelassener Stimme.
 
Nickelbrilles Augen funkelten gereizt. Er war erfahren genug, um zu wissen, dass man sich auf dünnes, schnell brechendes Eis begab, wenn man während eines Eignungstestes ein Streitgespräch mit einem Mitbewerber begann. Doch für einen Rückzieher war es nun zu spät.
 

 
„Na, dass du dich hier mal ein bisschen einbringst. Hast du kein Interesse an dem Job?“
 
Valentin lächelte. Sein Plan funktionierte. Er richtete sich ein wenig auf. Alle anderen schauten nun auf ihn und Nickelbrille. Sie ahnten, dass die entscheidenden Wortbeiträge nun direkt bevorstanden, die zumindest einem der beiden Männer das Genick brechen konnten.
 
„Anscheinend haben Sie kein Interesse an der ausgeschriebenen Stelle, denn sonst würden Sie sich nicht so große Sorgen darum machen, wie sich ihre Feinde auf dem Felde schlagen“.
 
Nickelbrille wirkte plötzlich verunsichert. Seine Hände begannen zu zittern, und er kratzte sich an der Nase.
 
„Ich mache mir keine Sorgen, mein Junge.“ Er versuchte anscheinend auf der Alters- und Erfahrungsschiene Punkte zu sammeln. „Es stört mich nur, mit welcher Arroganz und Hochnäsigkeit du hier diese Veranstaltung boykottierst, während andere versuchen, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Wenn du das hier alles so öde findest, kannst du ja gehen.“
 

 
Sowohl Nickelbrille als auch alle anderen Teilnehmer wussten in diesem Augenblick, dass der gutaussehende, überaus selbstsicher wirkende Mann mit den schwarz glänzenden Haaren dieses Duell schon jetzt für sich entschieden hatte. Dieser richtete sich nun noch mehr auf. Nickelbrilles Nasenflügel bebten.
 
„Erstens sind Sie nicht in der Position, und glauben Sie mir, Sie werden, mit Verlaub gesagt, auch niemals in der Position sein, mich aus einem Raum zu weisen, und zweitens sorge ich auf meine Art für klärende Beiträge in dieser traurigen Veranstaltung. So habe ich gerade eben zum Beispiel den Damen und Herren an den Monitoren und hier in der Runde gezeigt, dass Sie nicht nur außer Stande zu sein scheinen, sich längere Zeit auf ein sachliches Thema zu konzentrieren, sondern zudem nur schwerlich in der Lage sind, mit Stress, persönlichen Gefühlen und äußerem, sowie innerem Druck umzugehen. Und um nochmal auf die von Ihnen angesprochene Arroganz zurückzukommen, die Sie so aufmerksam beobachtend bei mir entdeckt haben wollen, kann ich Ihnen nur versichern, dass Sie damit ausnahmsweise ganz richtig liegen. Aber ich werde Ihnen auch sagen warum: Ich halte es nämlich für äußerst überflüssig, sich mit zehn Menschen, die nach diesem Termin hier, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, niemals mehr zusammenkommen werden, über Ideen, Marktansichten oder sonstige berufliche Vorgehensweisen zu diskutieren.“
 
Jetzt war es Valentin, der direkt in eine Kamera schaute.
 
„Wenn ich jemanden von meinen Fähigkeiten und Qualitäten überzeuge, dann meinen zukünftigen Chef und nicht einen Haufen dauerarbeitsloser Amateure, Dilettanten und Möchtegern-Managern ohne Visionen und wirkliche Zukunft. Und ich werde es auch nicht mit blumigen Reden und Worthülsen tun, sondern mit Taten.“
 

 
Nach diesen Worten ließ sich Valentin wieder in seinen Stuhl zurücksinken, faltete erneut seine Hände vor dem Kinn und ließ den Schwall von auf ihm niederprasselnden wütenden Ausrufen, Beleidigungen und Verwünschungen seiner nun allesamt verärgerten und kontrolllosen Gegner belustigt und amüsiert von sich abprallen. Nickelbrille saß geschlagen und völlig in sich zusammengesunken wie ein Häufchen Elend mitten unter den Aufgebrachten. Nur einmal sah er seinen Gegner noch an, und in seinem Blick lagen Zorn, Wut und kalte Verachtung.
 

 
Valentin hatte hoch gepokert, das war ihm klar. Entweder würde man ihn innerhalb der nächsten Minuten über die montierten Lautsprecher bitten, den Raum zu verlassen, um sich seine Papiere abzuholen, oder man würde ihn nach diesem Wortkrieg als Sieger ins Büro des Personalchefs laden, um ihm seinen neuen Arbeitsvertrag vorzulegen.
 
Obgleich er für sein unsoziales Verhalten, an dem er dringend und unbedingt etwas ändern müsste und das unter normalen Umständen in keiner Firma geduldet werden könne, gerügt wurde, geschah Letzteres.
 

 
Valentins Anfangsgehalt betrug im ersten Jahr 70.000 Euro, im zweiten 85.000 und im dritten überwand er, lächelnd und doch nicht ohne Schweiß auf der Stirn, die langersehnte 100.000er Hürde. Er verlangte sich und seinem 8-köpfigen Team das Letzte ab und schaffte es, durch seinen unverwechselbaren Führungsstil und zahlreiche äußerst erfolgreiche und aufsehenerregende Kampagnen immer größere und namhaftere Kunden an die Firma zu binden.
 

 
An seinem Sozialverhalten änderte er nichts.
 

 
XXX
 

 
Die Aufzugtür öffnete sich nahezu geräuschlos. Er trat ein und drückte den Knopf, der ihn direkt ins Erdgeschoss bringen sollte. Während sich die Tür wieder schloss, sah er auf seine Rolex. Das Taxi müsste unten schon auf ihn warten.
 

 
Es war still im Aufzug – irgendwie zu still. Valentin spürte, wie sich der enge Raum in Bewegung setzte und es rasant abwärts ging. Er lehnte sich an die Rückwand der Kabine und schloss die Augen. In Gedanken ging er nochmals sein erarbeitetes Konzept durch. Seine Ideen für das neue Produkt waren sensationell – sehr teuer in der Umsetzung, sehr gewagt und sehr unkonventionell. Dennoch – sie waren sensationell. Er hatte mit seinen Mitarbeitern in den letzten sechs Wochen an nichts anderem gearbeitet und nächtelang über Zeichnungen, Filmmanuskripten und Plakatentwürfen gesessen und gebrütet. Nun stand ihr Küken, sein Baby, kurz vor dem Schlüpfen; kurz vor der Geburt; kurz vor dem absoluten Durchbruch, der für Valentin endgültig die Karte in die oberste Führungsetage bedeuten sollte; und das mit gerade mal 31 Jahren.
 

 
Valentin grinste siegessicher. Erst würde er den Vertrag unter Dach und Fach bringen und dann würde er sich diese geheimnisvolle Verhandlungspartnerin gönnen. Mit seiner außerordentlichen Vorstellungskraft malte er sich aus, wie er sie, in irgendeinem anonymen Hotelzimmer immer und immer wieder nehmen würde. Er stellte sich ihren makellosen Körper vor: Ihren runden Po, ihre festen, großen Brüste und ihren bettelnden, keuchenden Mund, der lüstern seinen Namen flüsterte. Als der Fahrstuhl anhielt, hatte er eine Erektion.
 

 
Die Tür öffnete sich und Valentin trat heraus. Er durchschritt die Eingangshalle des Hauses, nickte dem Hausmeister in seiner kleinen Kabine nachlässig zu, trat durch die gläserne Schiebetür ins Freie und sah das große Mercedes-Taxi am Bordstein stehen, noch bevor er den Regen und die empfindliche, dunkle Kälte wahrnahm.
 
Er öffnete die hintere Seitentür, warf Mantel und Aktentasche achtlos ins Innere des Wagens und schwang sich dann selbst hinein. Ihm fiel nicht auf, dass die Innenbeleuchtung des Taxis beim Öffnen der Tür nicht angegangen war.
 

 
„Abend“, ließ er monoton verlauten. „Wir können dann.“
 
Valentin hatte die Fahrt schon mittags, unter Angabe seines Namens und der Adresse, der Abfahrtszeit und des Zielortes, vom Büro aus vorbestellt. Der große Wagen setzte sich gemächlich in Bewegung und fädelte sich fast geschmeidig in den immer noch regen Verkehr des Kölner Ringes ein.
 
Valentin fuhr, obgleich er sich erst vor wenigen Monaten ein sündhaft teures Audi-Cabriolet gegönnt hatte, gerne Taxi. Es war für ihn der Inbegriff von Luxus und Erfolg, sich nicht Morgen für Morgen und Abend für Abend diesem nervenaufreibenden Verkehr der Kölner Innenstadt auszusetzen, sondern entspannt und souverän durch das Chaos der Normalsterblichen chauffiert zu werden. Dass er dabei stets hinten im Wagen saß, war für ihn eine reine Stil- und Klassenfrage.
 

 
Er ließ sich gelassen in den Sitz sinken und schloss erneut die Augen, als er bemerkte, dass seine Erektion noch immer nicht ganz abgeklungen war. Ja, er war geil. Geil auf das, was ihn erwartete. Geil auf das, was er erwartete.
 

 
Der Fahrer schwieg und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Als er mit dem Wagen vor einer roten Ampel etwas zu ruckartig und mit leicht quietschenden Reifen zum Stehen kam, öffnete Valentin seine Augen und betrachtete erzürnt den kahlen Hinterkopf des Taxifahrers.
 
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie den Rest der Strecke etwas vorausschauender fahren könnten. Ich habe heute, wahrscheinlich im Gegensatz zu Ihnen, nämlich noch was Wichtiges vor.“
 
Der Fahrer drehte sich nicht um, sondern ließ nur eine leise, fast flüsternde, unterwürfige Stimme erklingen:
 
„Es tut mir leid, der Herr. Ich mache diesen Job noch nicht so lange. Wird nicht wieder vorkommen.“
 

 
Valentin grinste in sich hinein. Er mochte es, wenn er standesgemäß behandelt wurde und die Menschen vor ihm buckelten.
 
„Das hoffe ich für Sie, denn sonst können Sie Ihr Trinkgeld getrost vergessen“.
 
„Natürlich, der Herr. Natürlich.“
 
Der Wagen fuhr wieder an und Valentin schloss erneut die Augen, um den Abend in Gedanken durchzugehen.
 
„Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“ Die Frage des Fahrers riss Valentin schon wenige Augenblicke später wieder aus seinen bildreichen, bunten Träumen.
 
„Kommt drauf an“, erwiderte er gereizt und barsch. „Meine Bankverbindung werde ich Ihnen jedoch nicht verraten.“
 
„Keine Sorge, der Herr. Nein, es ist etwas Anderes. Wenn ich mir Sie so anschaue, sehe ich einen sehr jungen und scheinbar erfolgreichen Geschäftsmann. Der Anzug, die Aktentasche, ihr Verhalten.“ Die Stimme des Fahrers klang noch immer seltsam leise und unterdrückt, als er fortfuhr:
 
„Können Sie mir, als einen einfachen Taxifahrer, der es im Leben nie zu etwas gebracht hat, erklären, wie man dahin kommt, wo Sie jetzt sind?“
 
Valentin wusste mit der Frage des Fahrers nicht viel anzufangen. Er überlegte kurz, ob er sie mit einer flüchtigen Bemerkung vertreiben solle wie eine lästige Fliege, entschied sich dann jedoch, diesem armen Teufel eine vielleicht lehrreiche Lektion zu erteilen.
 
„Wissen Sie“, holte er aus. „Es gibt auf dieser seltsamen Welt die verschiedensten Arten von Menschen. Die einen leben still und kraftlos vor sich hin. Ohne Ideen, ohne Träume, ohne Illusionen. Sie vegetieren fast gedankenlos in den Tag hinein, gehen ihrer langweiligen, unwichtigen, nichtssagenden Arbeit nach, kriechen dabei fast schon bedächtig regelmäßig irgendwelchen Vorgesetzten in den Arsch und planen dabei akribisch ihre drei Wochen Jahresurlaub, um sich dann zusammen mit anderen langweiligen, unwichtigen und nichtssagenden Kreaturen irgendwo in einem zweit- oder drittklassigen Hotel gegenseitig vorzumachen, wie verlogen glücklich sie doch sind. Diese Menschen sind fast schon tot, verstehen Sie. Sie arbeiten, fressen, scheißen, saufen, bumsen, wenn sie Glück haben und noch einen hoch kriegen, und bewegen sich doch geistig keinen Millimeter mehr. Sie sind wie an Land gespülte Pottwale, die nicht merken, dass ihnen die Kraft fehlt, um wieder zurück ins Meer zu kommen. Also liegen sie fett und untätig herum und glauben allen Ernstes auch noch, irgendwann wieder zurück ins rettende Nass zu gelangen. Doch warum sollen sie sich auch anstrengen? Noch haben sie ja etwas Wasser unter ihrem fetten Leib, noch können sie atmen – nur, dass ihr dickes Hinterteil bereits langsam vor sich hin fault, merken sie nicht. Und dann, was soll ich sagen, ist es irgendwann zu spät. Ihnen wird in einem schrecklich schmerzhaften Moment der Wahrheit und Erkenntnis klar, dass sie ihr Leben verwirkt haben und dass sie jetzt nichts mehr ändern können. Na ja, und dann geht es halt zu Ende. Sie sterben und verrotten oft jahrzehntelang, noch bevor das Herz aufgehört hat zu schlagen.“
 
„Und fahren dabei Taxi“.
 
Valentin lächelte. Ganz so dumm schien der Alte nicht zu sein. Er konnte mit der Wahrheit umgehen und hatte allem Anschein nach Sinn für schwarzen Humor.
 
„Zum Beispiel. Aber nicht, dass Ihren Beruf nicht zu schätzen wüsste. Im Gegenteil: Leute, wie Sie muss es ja auch geben.“ Er machte eine kleine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Er fühlte sich großartig und beschwingt von seinem Monolog.
 
„Doch dann sind da eben die anderen. Kluge, phantasievolle und strategisch denkende Menschen mit genauen Vorstellungen von ihrer Zukunft. Menschen, die sich nicht mit dem Mittelmaß und dem grauen Einheitsbrei zufrieden geben. Individuen, die aus der Masse herausbrechen wollen, die etwas bewegen, etwas schaffen wollen. Und diese Menschen sind es in der Regel dann, die die Entscheidungen treffen, die Konzerne führen, die ihre Visionen verwirklichen und die …, na ja, eben teure Anzüge, schnelle Autos und große Penthousewohnungen besitzen.
 
„So wie Sie, mein Herr?“
 
Valentin grinste triumphierend in sich hinein.
 
„So wie ich.“
 

 
Der Fahrer blickte noch immer starr nach vorne. Der Verkehr hatte etwas abgenommen und es waren weniger Autos auf den Straßen zu sehen.
 
„Und, mein Herr, müssen Sie dabei auch manchmal über Leichen gehen?“
 
Der Angesprochene dachte kurz über die Frage nach, während er die Augen zum wiederholten Mal geschlossen hatte. Unbewusst bemerkte er, dass der Wagen erneut gestoppt wurde. Diesmal jedoch sehr sanft und behutsam. Er lächelte befriedigt.
 
„Tja, mein Guter. Manchmal bleibt halt so ein armer Verlierer auf der Strecke. Das ist halt der Lauf der Welt. Evolutionslehre – die Starken vernichten die Schwachen.“
 
„Wie recht Sie doch haben, mein Junge. Wie recht.“
 

 
Etwas in der Stimme des Fahrers ließ Valentin aufhorchen und plötzlich stellten sich ihm die Nackenhaare zu Berge. Sein Herz schlug schneller. Er öffnete die Augen und das Letzte was er in seinem Leben sehen sollte, war eine glänzende Nickelbrille hinter einer Feuer speienden Revolverlaufmündung.
 
„Wie recht du doch hast, mein Junge“.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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