Felix M. Hummel

Zur Zwischenmenschlichkeit

 

Es hatte Berta viel Überwindung gekostet, doch letztendlich waren ihre Probleme doch zu groß geworden, als dass sie sie unbehandelt lassen hätte können. So hatte sie den Rat ihrer Freundin beherzigt und hatte sich einen Termin bei dieser Therapeutin geben lassen. Am Telefon hatte alles sehr professionell gewirkt, auch wenn sie lediglich mit einem Sekretär -- wo, außer im Staatswesen fand man denn heute noch einen männlichen Sekretär? -- verbunden gewesen war. Nun als sie jedoch vor der angegebenen Adresse stand, kamen ihr erste Zweifel. Es war eine der Einkaufsstraßen der Stadt: Kopfsteinpflaster zu holperig für Autos, Radfahrer, Fußgänger und Hunde, senfbeschmierte Servietten in den öffentlichen Mülleimern und mit Ramsch gefüllte Schaufenster in den Erdgeschossen der historistischen Sichtfachwerkhäuser. Soweit war eigentlich alles in Ordnung, ihr Zahnarzt, der mit dem Terrarium im Wartezimmer, hatte seine Praxis nur eine Straße weiter. Es musste ja auch nichts heißen, dass in dem besagten Haus ein auf unerklärliche Art fettig aussehender Esoterikladen untergebracht war. Auch das Scientology-Büro in der ersten Etage musst nicht zwangsläufig ein schlechtes Zeichen sein, denn schließlich musste sie scheinbar -- aber auch nur, wenn die Klingelschilder in der richtigen Reihenfolge aufgehängt waren -- in den Keller.

Berta seufzte. Sie war nun sicher drei Minuten nur auf der Schwelle gestanden und über vollkommenen Unsinn nachgedacht. So kam sie niemals weiter, so würde es Enden wie damals, als man sie... Nein! Stopp! Los jetzt. Mit einem weiteren Seufzen trat sie ein und stieg die schmale Treppe gleich hinter der Tür hinab. Sie ging sehr langsam, doch fragte sie sich, ob dies mehr an ihren Hemmungen oder den abgetretenen Stufen und der Abwesenheit ordentlicher Beleuchtung zuzuschreiben hatte. Die Treppe endete nach einigen Metern in vollkommener Dunkelheit. Berta blinzelte verwirrt, drehte sich dann um, damit sie den Schein des Oberlichtes der Eingangstür sehen konnte. Eigentlich hätte es ausreichen müssen um zumindest die Konturen der Umgebung sichtbar zu machen. Doch hier war nichts. Wenn sie sie in treppab wandte, sah sie nicht einmal die Hand vor Augen. Treppauf, Richtung Flur dagegen, schien alles normal zu sein.

"Kommen sie doch bitte herein!", drang im selben Moment sehr leise gedämpft eine Stimme durch die Metalltür. Beinahe hätte sie sie durch das Scharren ihrer Solen auf dem Stein nicht gehört. Dies änderte die Lage wieder ein wenig. Es war eine freundliche Stimme gewesen, darüber hinaus die Stimme einer Frau, einer älteren Frau. Fast großmütterlich, gutmütig. Dennoch, auch von solchen Frauen hörte man eine Menge. Sollte sie also nicht doch... ? Nein, jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie drehte sich erneut um und stieß die Tür, erneut ohne zu klopfe auf. Oder versuchte es zumindest, denn wie die meisten dieser Art Türen, die sie kannte, leistete sie starken Widerstand.

Alles in allem war sie tatsächlich in einem Heizungskeller angekommen. Die Boiler und Gerätschaften, die großen Dieseltanks und die Quer durch das große Zimmer ausstrahlenden Rohre sprachen eine deutliche Sprache. Die Plüschmöbel, die urangefließte Kochecke, das massive, altdeutsche Wohnzimmertischchen mit dem Häckeldeckchen darauf, welches wiederum ein Holztablett mit einem abgeschlagenen Kaffeeserviece und Kuchenplatte mit Gugelhupf trug, hatten jedoch einen ihr vollkommen unverständlichen Dialekt zu eigen. Auf einem Sessel daneben saß eine weißhaarige alte Dame, mit gutmütigem lächeln in ihrem faltigen Gesicht. Als Berta eintrat, scheuchte sie eine dicke rote Katze von ihrem Schoß -- was diese mit einem Fauchen quittierte --, strich ihr geblümtes Kleid und ihre blaue Schürze glatt und erhob sich um den Gast zu begrüßen.

Für einen Moment war Berta versucht sich zu entschuldigen und wieder zu gehen, da sie glaube, sich in der Adresse geirrt zu haben. Doch die Frau kannte sie. Nur wieso passte ihre Vorstellung einer Therapeutin mit Sekretär nicht zu diesem Großmütterchen. Genausowenig wie dieses Zimmer. Es war eindeutig ein Heizungskeller ohne Fenster, in welchem sich eine alte Frau häuslich eingerichtet hatte. Einfach alles stimmte: Möbel, aus allen Phasen des 20. Jahrhunderts bis in die Siebziger. Eine große Schrankwand, halb hinter den Dieseltanks versteckt, voll mit Nippes, Fotos und Büchern. Strickzeug, dass in einem Reisigkorb auf dem Boden lag und dutzende von ausgesprochen hässlichen aber seltsam realistischen Tierfigürchen aus Porzellan. Wie diese die Anwesenheit der Katze überleben konnten, wusste Berta beim besten Willen nicht.

"Na, an ihrem Gesicht sehe ich, dass sie jemand anderen erwartet hätten.", plauderte die Alte, nicht ohne Vorwurf in der Stimme, während sie Kaffee eingoss. "Milch und Zucker? Ja, natürlich.", fuhr sie fort, ohne auf eine Antwort zu warte. "Zwei Würfel, natürlich. Geben sie ruhig zu, dass sie enttäuscht sind, man sieht es ihrem Gesicht an."

Die alte Dame lachte auf und schob Berta einen Teller mit Kuchen zu. "Eigentlich liegen sie auch sicher falsch, wenn sie jetzt zu glauben wissen, wie ihr Therapeut aussieht. Ja, ich bin hier nur, sozusagen, Haushälterin."

"Eigentlich... ", die alte Dame nickte bedeutsam einem Schrank gegenüber der Sitzgruppe zu. Es war ein großes, altes Möbel mit gedrechselten Säulen an den Ecken und einem an den Kanten fassettierten Spiegel in der Tür. Er war so geformt, dass sich alles um den Kaffeetisch herum in ihm klein wiedergegeben wurde. "Eigentlich ist Finno hier der Therapeut." Wie auf Kommando erschienen zwei grün schimmernde Augen im Dunkel unter dem Möbelstück. Ein leises, scharfes zischen erfüllte den Raum für einige Augenblicke.

"Och, ja. Er spielt nicht gerne mit. Aber das ist auch nicht so wichtig. Am besten sie behalten ihn einfach im Auge, das kann ihnen viel sagen, wenn sie sich mit mir unterhalten wollen."

"Ja, dann fangen sie doch einmal an." Die alte Dame goss Kaffee nach. "Warum sind sie jetzt genau hier. Scheuen sie sich nicht mir alles zu erzählen. Finno wird auch ganz genau zuhören. Ich bin übrigens Gertraud Wrach."

"Was sie nicht sagen.", raunte Frau Wrach, während sie Milch in ihren Kaffee goss. Berta schaute geistesabwesend zu. Sie brauchte einige Sekunden, bis sie bemerkte, dass es das Milchkännchen war, das ihren Blick fesselte. Es gehörte offensichtlich nicht zu dem Kaffeeserviece mit weiß-blauem Zwiebelmuster, sondern vielmehr zu der Sammlung grotesker Porzellantiere. Zunächst hielt sie es für ein Häschen oder eine Kuh, doch das aufgerissene Maul, welches mit seinem breiten Grinsen den Ausguss darstellte, erinnerte doch eher an einen Wolf. Das ganze Ding war ockerfarben mit schwarzen Punkten gesprenkelt. Ein angedeuteter Haarkamm auf dem Rücken, der knapp unter der Öffnung auf oben auf dem Kopf begann, bildete den Henkel. Das Tier hatte Pranken, die jedoch nur schemenhaft ausgearbeitet und an den Körper gepresst waren. Auf Schönheit oder exakte Technik hatte der Künstler offenbar nicht geachtet: Die türkisen Augen standen schief vor der groben, schwarzen Ausguss-Schnauze, die Farbe war ungenau aufgetragen und das Tier war in seiner ganzen buckligen, fetten Gestalt hässlich.

"Kein Problem. Ich bin froh darüber, dass das hier nicht so stramm geht. Ich schweife ja auch ständig ab. Ich wäre beinahe nicht die Treppe runtergekommen, weil ich in Gedanken versunken bin. - Sehen sie, schon wieder schaffe ich es nicht beim Thema zu bleiben", rief Berta und ließ den Kopf sinken. "Wie schon gesagt, ich versuche immer mit allen und mit allem zurecht zu kommen und mir nur Freunde zu machen. Aber wissen sie, was ich davon habe? Ich kann es ihnen sagen: Ich glaube, dadurch habe ich überhaupt keine echten Freunde. Alle mögen mich, aber ich glaube ich könnte nicht einmal jemanden zum Umziehen einspannen. Ich versuche wirklich alles, aber ich renne gegen Wände. Und immer wieder denke ich mir: Alle, die sich wesentlich weniger kümmern als ich, kommen wesentlich weiter. Und wenn ich jemanden frage, ob ich zu gutmütig bin, dann heißt es immer: Nein, man kann nicht zu gutmütig sein, nur gutgläubig. Und ich bin nicht gutgläubig. Ich glaube an fast gar nichts und niemandem. Aber das sage ich ja auch nicht." Berta holte Luft. Sie hatte alles sehr schnell herausgesprudelt.

Berta war empört und wollte Einspruch erheben. Sie schloss den Mund jedoch gleich wieder. Mit so einem billigen Trick würde sie der Frau nicht auf den Leim gehen. Sie war schon bei genügend Therapeuten gewesen um zu wissen, wann man nur versuchte sie zu heilender Wut zu bringe. Auf so etwas wollte sie sich nicht einlassen und schwieg.

Berta seufzte und stellte ihre Tasse auf den Tisch. "Seien sie mir nicht böse. Aber ich glaube nicht, dass das zu viel führt. Lassen sie uns über das finanzielle sprechen und dann werde ich's packen. Sie erzählen mir ja doch nur das gleiche, was ich bisher immer gehört habe. Ich war ja schon bei einigen..." Sie machte Anstalten sich zu erheben, doch Frau Wrach war schneller, legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie mit erstaunlicher Kraft und Bestimmtheit, doch ohne ihr Schmerzen zuzufügen, in die Polster zurück.

"Hm. Was denn? Mir nicht das gleiche zu erzählen, wie alle oder nicht über Geld zu reden?", witzelte Berta mürrisch. Ihre anfängliche Faszination war mit einem Mal gewichten. Sie bereute die Zeit, die sie vergeudet hatte indem sie hier zehn Minuten herumgesessen hatte.

Erneut fuhr sie herum und blickte flehend zu Frau Wrach hinuber, die Finno auf ihrem Schoß kraulte. "B-bitte! Machen schie dasch ech auuch - aufhört!"

"Nein." Berta schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. "Nein. Nein."

"Nein. Esch ischt allesch nich..." Berta schluckte. "Esch... Iiich... iiich wieelll cheine Chraaatte..." Sie unterbrach sich. Welches Wort musste jetzt folgen. Es konnte nicht sein, dass sie so etwas vergessen hatte. Einen Namen, ein Ding vielleicht, aber so etwas? Nein, vollkommen unmöglich. Sie versuchte es erneut. "Iieech quieek b-bin eiin Mee... chrk! Quieek!" Berta schlug sich die Hände vor den Mund.

"Qu-eek!", protestierte Berta und schämte sich sofort dafür. Sie machte diese jämmerlichen Geräusche und würde nie wieder ein verständliches Wort hervor bringen. Nicht nur, dass sie es nicht aussprechen konnte, sie wusste nicht einmal, wie sie das, was sie dachte ausdrücken hätte sollen. Nun spürte sie bereits ein Kitzeln auf ihrer gesamten Haut, als die Haare aus allen Poren zu wuchern begannen. Gleichzeitig spürte sie den gleichen arthritischen Schmerz in allen ihren Knochen, den sie schon aus ihren Händen und Füßen kannte. Sie mahlte sich mehr aus, als dass sie es wirklich empfand wie sich ihr Rückgrat verkrümmte, wie Muskeln und Haut wanderten, sich an manchen stellen ballten und schwollen, sich Knochen streckten, kürzten und kümmerten.

"Jetzt mach doch nicht so ein Theater, das kann man ja gar nicht mit ansehen.", begann Frau Wrach. "Aber warte! Das wird gleich besser, denn man braucht die Größe einer Ratte um sich um allen Gefahren herumschleichen und in alle wichtigen Dinge einschleichen zu können. Niemand bemerkt eine Großmacht, wenn sie sehr klein ist."

Sie starrte in die grünen Augen des Katers. Regungslos lag er auf dem Bauch unter dem Kaffeetisch. Nur seine Schwanzspitze pendelte hin und her, seine Ohren zuckten vor Anspannung. Wenn sie jetzt rennen würde, dann hätte er sie mit einem Satz. Sie konnte förmlich schon spüren, wie sich die nadelscharfen Krallen in ihr Fleisch bohrten. So wie sich die Muskeln des Tieres verkrampften würde es jedoch auch so in einigen Sekunden angreifen. Vielleicht konnte es funktionieren, wenn sie sich ganz langsam wieder in das Hosenbein zurückzog. Nach all dem was bereits geschehen war, war sie nun nur eine Armlänge von ihrem eigenen Tod entfernt.

<p style=""margin-bottom:" 0cm"=""> "Sieht ganz so aus, als wärst du bereit für den Test bereit.", hörte sie Frau Wrachs Stimme. "Jetzt kannst du zeigen, was du gelernt hast. Ich bin mir aber sicher, dass du die Sorgen, wegen welchen du hergekommen bist, schon lange vergessen hast, stimmt's nicht?"

"Weißt du Berta, zu guter Letzt braucht man den Geist einer Ratte.", flüsterte Frau .

"Man kümmert sich so nicht mehr um menschliche Angelegenheiten. Das meine Liebe, ist der wahre Schlüssel zum Glück. Alles Übel kommt aus dem Menschen und dessen Zusammenleben mit sich selbst. Wenn du das einmal verstanden hast, dann steht einem freien Leben nichts mehr im Wege. Zeig es mir!", drang die Stimme der alten Frau leise an ihre Ohren. Sie hörte sich verschwommen an, grau und trübe. Das machte keinen Sinn.

Als die Ratte Reißaus nahm, stürzte sich Finno auf den Kleiderhaufen. Als er Zähne und Klauen gleichzeitig in das huschende etwas Schlug, war ein leises klirren zu hören. Offensichtlich beleidigt schüttelte sich Finno und trottete zur Kochecke um in seinen leeren Fressnapf zu blicken.

"Meine Güte, ist das Ding wieder hässlich, Finno. Und nicht mal irgendetwas nützliches, nur eine Figur" Frau Wrach zog die Mundwinkel herunter und schüttelte den Kopf. "Wenn ich es nur übers Herz bringen würde, das alles wegzuwerfen." Sie stellte das Porzellantier auf das Bord an jene Stelle, wo die Kobra gestanden hatte, gleich neben eine lebensgroße Riesenassel. Dann sammelte sie die Scherben der Schlange auf und warf sie bei der Kochecke in den Müll, bevor sie nach dem Katzenfutter suchte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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