Daniela Hoppaus

Die Träumer

Verschlungene Pfade. Schatten. Finsternis. Einsamkeit. Nichts und Niemand in Reichweite, was einen Anhaltspunkt geben konnte. Leere. Stille. Dann plötzlich ein flammender Blitz. Ein Schrei aus tausend Kehlen. Schmerz. Eisige Kälte.

Wieder einmal wachte ich Schweißgebadet auf. Diese Alpträume nahmen kein Ende. Sie waren jedesmal anders, aber immer bedrohlich. Ich fürchtete mich vor dem Einschlafen und blieb wach, solange es ging. Aber wenn mich der Schlaf übermannte, kamen sie. Unverzüglich.
In meiner Ratlosigkeit beschloß ich, meinen Lehrmeister aufzusuchen. Die Sonne lugte bereits hinter dem Horizont hervor, als ich meine Schlafmatte zusammenrollte, mein Bündel schnürte und den Platz unter den Bäumen verließ, den ich mir zur Ruhestätte erkoren hatte. Die Landschaft, durch die ich wanderte, war hügelig und nur wenig besiedelt.
Eigentlich war ich schon seit 2 Tagen unterwegs, ohne eine menschliche Behausung gesehen zu haben. Aber meine Vorräte waren noch lange nicht verbraucht und ich rechnete damit, in den nächsten Tagen auf eine Siedlung zu stoßen. Eine bestimmte Siedlung. Sie lag am Fuße der Shancza – Berge und bildete die letzte Bastion der Menschheit, eine Handelsniederlassung in dieser Welt, bevor man in eine ganz andere Welt eintauchte. In jener anderen Welt war ich aufgewachsen. Die Wesen dort lebten nicht wie Menschen, sie lebten in ihren Träumen oder träumten ihr Leben.
Mein Meister lebte dort. Er hatte mich im Wald gefunden. Er hatte mich aufgenommen, als niemand anderer mich haben wollte. Obwohl ich nicht seiner Rasse angehörte, hatte er sich immer um mich gekümmert. Für mich war es ein seltsames Aufwachsen gewesen. Diese Wesen, die ihre Realität nach ihren Träumen formten, waren einfach so anders, so schwer zu verstehen. Ich war damals ein kleiner Junge von 5 Jahren. Für mich hatte sich damals eine zauberhafte Welt eröffnet.
Wer seine Träume steuern kann, beherrscht die Wirklichkeit, hatte mein Meister mir immer erklärt. Aber ich scheiterte bei dem Versuch. Obwohl ich mich immer bemüht hatte und mir beim Einschlafen fest vorgenommen hatte, diesmal den Traumablauf zu steuern, so hatte ich doch, kaum daß ich eingeschlafen war, keine Kontrolle mehr über mein Unterbewußtsein. Sicher, ich hatte eine gewisse Technik erlernt. Ich war in der Lage, bestimmte Dinge herbei zu träumen. Sie hielten sich aber nie lange in der Realität, waren verzerrt oder schlichtweg unbrauchbar.
Als ich nach 10 Jahren immer noch nicht geschafft hatte, meine Träume willentlich zu steuern und das Erträumte in die reale Welt zu integrieren, schickte mein Meister mich fort. Ich sollte lernen, wie ein Mensch zu leben. Eine Gefährtin finden. Familie haben. Irgendwie war die Welt der Menschen soviel greifbarer. Ich lernte von Ursache auf Wirkung zu schließen. Bei den Menschen war das einfach. Tue dies und du erhältst jenes. Unterlasse das und dies bleibt dir erspart. Wie anders als die Welt, in der ich zuvor gelebt hatte. Wie einfach. Trotzdem hatte mich die Traumwelt meines Meisters nicht verlassen. Zu Anfang hatte ich kein Problem mit meinen Träumen, sie waren und blieben Schatten in der Erinnerung. Manchmal gaben sie mir Zeichen oder Nachrichten aus der Welt meines Meisters. Manchmal waren sie ein Tor zurück nach Hause.
Aber in letzter Zeit waren sie beunruhigend. Oh, in der Zeit bei meinem Meister hatte ich gelernt, wie man seine Alpträume unter Kontrolle hält. Wie man sich selber aufweckt, wenn es gefährlich zu werden droht. Wie man einem Schrecken den Rücken kehrt und ihm so seine Macht nimmt. Aber diese Träume waren anders. So wirklich! Und alle Techniken, die mir mein Meister vermitteln konnte, schlugen fehl. Zum einen gab es keinen greifbaren Grund für diese Träume. Ich hielt mich nach wie vor an die Traumrituale, sie waren Teil meiner Selbst geworden. Ich hatte keinen Verstoß begangen. Ich hatte den Wächter der Traumwelt immer geehrt und respektiert. Und ich hatte niemanden Schaden zugefügt.
Während ich so vor mich hin grübelte und an meinen Meister dachte, war ich ein schönes Stück Weg weitergekommen. Ein Fluß kreuzte träge meinen Weg und hinderte mich am weitergehen. So in Gedanken versunken, wie ich gewesen war, bemerkte ich ihn erst, als ich beinah hinein gestolpert wäre. Ich dachte an eine Brücke, aber statt dessen sah ich flußaufwärts einen Baumstamm, der von einem Sturm gefällt worden sein mußte. Besser als nichts.
Der Stamm erwies sich als glitschig. Moos wuchs an seiner Oberfläche. Seltsamerweise mußte ich an meine beiden Kinder denken, als ich so am Baumstamm hockte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Aber so schnell der Gedanke gekommen war, so schnell verflüchtigte er sich auch wieder. Ich schaffte es, relativ trocken ans andere Ufer zu kommen. Dort setzte ich mich erstmal ins Gras und stärkte mich mit Trockenfleisch und Wasser. Schließlich war es Zeit, sich einen Schlafplatz zu suchen.
Ich entdeckte auf einer Anhöhe eine Baumgruppe, die Schutz bieten mochte. Dort spannte ich meine Schlafmatte zwischen zwei Baumstämme und machte es mir in meiner provisorischen Hängematte gemütlich. Die Sterne zeigten sich, einer nach dem anderen. Tröstend blickten sie auf mich herab. Aber ich hatte Angst davor, die Augen zu schließen. Also machte ich meine Traumübung mit offenen Augen. Ich stellte mir vor, was ich diese Nacht träumen wollte. Da ich an meine Kinder gedacht hatte, versuchte ich, sie mir vorzustellen, wie wir Abends in der Stube saßen und Geschichten erzählten. Meist Geschichten von Träumen. Als das Bild klar vor meinen inneren Auge erschien, dankte ich dem Wächter und gestattete mir, einzuschlafen.

Spielende Kinder. Ein Baumstamm über einem reißenden Fluß. Sterne. Weit entfernt, doch hell.
Dann plötzlich eisige Kälte. Leere. Stille. Ein Blitz. Ein Schrei.

Wie vom Donner gerührt fuhr ich auf, so heftig, daß meine Matte wild schaukelte und mich abwarf. Am Boden kam ich zu mir. Ein Traum. Ein Alptraum. Zu kurz, um zu reagieren, aber zu heftig, um ihn zu vergessen. Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit.
Trotzdem beschloß ich, ausgiebig zu frühstücken. Ich sammelte wilde Beeren und genehmigte mir Quellwasser und eine Scheibe Brot.
Noch eine Tagesreise bis zum Außenposten. Von dort sollte ich innerhalb eines weiteren Tages die Wohnstatt meines Meisters finden.

Dieser Tag schien sich endlos hinzuziehen. Außerdem hatte mich eine drängende Unruhe erfaßt. Ich erlaubte mir nicht, Rast zu machen. Ich aß im Gehen. Etwas trieb mich vorwärts. Das beunruhigende Gefühl meiner Träume nagte an mir. Ich war von zu hause aufgebrochen, weil mich diese Träume um den Verstand brachten. Meine Frau hatte nicht verstanden. Sie hatte versucht, mich mit Schlaftränken zu beruhigen. Traumlose Nächte. Schlimmer als Alpträume. Man hatte mich gelehrt, daß ein Traum Teil des Lebens ist, eine Verbindung mit dem Innersten. Wie konnte man ohne Träume leben? Es war furchtbar. Als hätte man mir einen Sinn genommen. Als wäre ich taub oder blind oder beides.
Also schüttete ich den Schlaftrank weg. Lieber Alpträume, als dumpfe Sinne. Meine Frau versuchte, mir die Reise auszureden. Sie versuchte, mich zu überreden, eine weise Frau aufzusuchen. Aber diese bestärkte mich in dem Entschluß, meinem Meister einen Besuch abzustatten. Schließlich fügte sich meine Frau und gab mir alles mit, was ich für diesen Weg brauchen würde. Ich vermißte sie schon, kaum daß ich das Dorf hinter mir gelassen hatte. Aber die Träume trieben mich voran.
Schließlich erreichte ich den Außenposten. Seltsamerweise waren die Tore zur Stadt verschlossen. Ein einsamer Wächter stand auf den Mauern und blickte in meine Richtung. Ich näherte mich langsam dem Tor und klopfte an die Tür des Wachhauses. Ein Fenster in Augenhöhe wurde von innen geöffnet und ein mürrisches Gesicht blickte mich an. „Was wollt Ihr?“ , fragte der Wächter.
Ich erklärte ihm, das ich in der Stadt meine Vorräte auffrischen wollte und dann vorhatte, weiter in die Shancza – Berge vorzudringen. „Unmöglich! Die Grenze ist dicht! Die lassen keinen Menschen rein, geschweige denn wieder raus! Nur ein Verrückter wagt sich dorthin. Aber Eure Vorräte könnt Ihr auffrischen. Wir werden jedoch darauf achten, daß Ihr keine Dummheiten macht, Fremder!“ Damit schloß er das Fenster. Kurze Zeit später wurde ein schwerer Riegel zur Seite geschoben und ein Flügel des Tores ein Stück weit geöffnet. Ich schlüpfte hindurch und der Wächter schloß das Tor sofort wieder.
Wie sehr sich die Stadt verändert hatte. Ich hatte sie als einen freundlichen Ort in Erinnerung, wo Menschen lachten und den Markt bevölkerten und mit den seltsamen Traumfängern und Traumspielen ihrer exotischen Nachbarn handelten. Jetzt war der Markt beinah verlassen und kein traumhaftes Spielzeug aus der Welt jenseits der Stadt zierte die Buden, die noch standen.
Das beunruhigende Gefühl aus meinen Träumen beschlich mich, während ich auf dem Marktplatz spazierte. Die Menschen wirkten bedrückt. Und irgendwie müde. In ihren Augen war Resignation zu lesen. Bei einem dürren Händler kaufte ich Brot und Trockenfleisch. Auch einen Laib Käse gönnte ich mir. Obwohl ich mir Träumen von Reichtum immer wieder versagt hatte, hatte ich es doch immerhin in der Menschenwelt zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Ich war kein armer Mann. Im Gegensatz zu den Menschen hier. Man sah, daß in der Stadt die Armut vor langer Zeit Einzug gehalten hatte. Ich beschloß, trotz der Warnung des Wächters, die Stadt auf der anderen Seite zu verlassen und meinen Meister aufzusuchen. Zumindest konnte er mir erzählen, was seit meiner Abwesenheit vorgefallen war. Und wenn er meine Träume las, konnte er mich vielleicht auch heilen.
Das andere Tor war besser bewacht. Und die Wachen ließen keinen Zweifel daran aufkommen, daß ich hier nicht durchgelassen werden würde.
Also beschloß ich, mir ein Zimmer zu nehmen und in der Nacht heimlich die Stadt zu verlassen. Man konnte sich immer in die Freiheit träumen. Leichteste Übung. Na ja.
Das Zimmer, das ich bei einem Wirten nahe der Stadtmauer bekam, roch muffig. Wie lange hatte hier schon keiner mehr ein Fenster geöffnet? Ich schob den Riegel zurück und stieß die beiden Fensterbalken auf. Ich brauchte ziemlich viel Kraft dazu, waren die Scharniere doch schon lange nicht mehr geölt worden. Überhaupt sah alles sehr vernachlässigt aus. Aber ich hatte ja nicht vor, ewig hier zu wohnen. Ich legte mich nicht auf das Bett, sondern breitete meine Schlafmatte am Boden aus.
In meinem Kopf entstanden Bilder, wie ich mit Hilfe eines verknoteten Lakens über die Mauer kletterte, natürlich ungesehen. Und wie ich schließlich im dunklen Wald verschwand. Ich hielt das Bild und glitt tiefer in den Traum. Die Flucht war mir geglückt, als plötzlich...

... Dunkelheit. Leere. Verschlungene Pfade, die nirgendwo hinführen. Eisige Kälte. Ein Blitz. Donner. Eine Windbö. Noch ein Blitz. Ein Schrei.... Stille.

Ich fuhr hoch. Wieder einmal. Der Alptraum schien immer deutlicher zu werden und immer länger zu dauern. Aber ich war hilflos dagegen. Wovor sollte ich mich abwenden, wenn es nichts gab? Nur dieser Schrei. War es eine Stimme oder viele? Sollte ich ihm nachgehen oder davonlaufen? Sollte ich herausfinden, wer schrie?
Mein Meister würde es mir sagen können. Ich schnappte mir die Laken vom Bett und meine Schlafmatte und kletterte so leise wie möglich aus dem Fenster.
Wie ein Schatten huschte ich die Stadtmauer entlang, bis ich hinter einer Hütte Deckung hatte. Dort baute ich mir aus den Laken ein Seil, beschwerte es mit einem Stein und warf es über die Mauer. Ungesehen von den Wachen kletterte ich nach draußen. Auf der anderen Seite warf ich das Seil fort und verschwand im Wald, der mich tiefer in die Berge und näher zu meinem Meister führen würde.
In der Dunkelheit stolperte ich über Wurzeln, prallte gegen Bäume. Selbst der große Schlafende würde durch meinen Lärm erwachen, dachte ich bei mir. Der Sage nach träumt sich der große Schlafende die Welt. Und wenn er eines Tages erwacht, wird die Welt samt den Menschen und den Träumern darauf verpuffen wie der Traum eines Menschen. Schreckliche Vorstellung. Aber nach der Lebensart meines Meisters waren wir alle Schläfer und träumten uns unsere Welt. Leider merken die Menschen nicht, daß sie nur träumen, sagte mein Meister immer. Sie klammern sich an das, was sie Leben nennen und sind unfähig, sich aus ihren schlechten Träumen zu befreien. Deshalb sind sie verbittert, einsam, böse oder traurig. Glückliche Menschen gibt es selten. Glückliche Menschen wissen ihre Träume zu nutzen. Sie können sie, zumindest teilweise, manifestieren. Ich hab mich immer für einen glücklichen Menschen gehalten. Bis diese Träume kamen.
Der Morgen graute und ich hatte die Niederlassung der Träumer erreicht. Sie hingen kopfüber in den Bäumen, die großen schwarzen Augen auf ihr Innerstes gerichtet. Ich habe immer vermutet, daß sie blind seien, aber sie sehen, wenn auch auf eine andere Art.
Ihre pelzigen Körper ähnelten nur entfernt dem Menschlichen. Sie hatten zwar Arme und Beine, aber die Beine waren kurz und die Arme reichten , wenn sie am Boden gingen, bis zu ihren Knöcheln. Sie hatten Hände, die in zwei Fingern endeten. Wenn sie in den Bäumen hingen, gaben die Finger ihnen zusätzlichen Halt. Sie waren nicht größer als meine Kinder.
Keiner von ihnen beachtete mich, als ich unter ihnen entlang ging und mir jeden einzelnen genau ansah. Mein Meister hatte eine Besonderheit, die ihn von den anderen unterschied. Er hatte nur ein Auge. Das andere, so sagte er, hatte er bei einem Kampf verloren. Mit wem oder was er gekämpft hatte, blieb sein Geheimnis, aber ich ahnte, daß es etwas mit mir zutun gehabt hatte.
Ganz oben in den Wipfeln gewahrte ich eine Bewegung. Ein Träumer hatte sich bewegt! Er hatte den Ast, an dem er hing, losgelassen und schwebte mit einer Leichtigkeit zu Boden, die ich nie hatte fassen können. Mein Meister! Ich erkannte ihn an seinem fehlenden Auge.
„Was willst du, Fremder?“ Er formte diese Worte nicht mit dem Mund. So etwas brauchten die Träumer nicht. Sie teilten sich von Geist zu Geist mit, über alle körperlichen Grenzen hinweg. Schmerzlich wurde mir bewußt, daß ich nie diese Perfektion erreichen würde. Er schien mich nicht zu erkennen. Zu lange schon war es her.
„Mein Meister, ich brauche deine Hilfe! Ich bin es, dein menschlicher Ziehsohn!“ meine Gedanken explodierten förmlich, als ich versuchte, meinen Alptraum zu seinem werden zu lassen.
Mit einer einzigen mentalen Bewegung, einem Achselzucken gleich, bremste er meinen Gedankenfluß.
„Mein Sohn, wenn Dein Herz und dein Kopf voller Furcht sind, kann ich nichts empfangen. Ich verstehe aber, was du willst. Leg dich hin, schließe Deine Augen und schlaf. Dein Geist sei mein Geist. Dein Traum sei mein Traum. Ich werde Dich geleiten durch deine Bilder. Und ich werde erklären, wenn ich kann.“ Nach so vielen Nächten der Furcht ließ ich mich endlich entspannt auf einem Bett aus Blättern nieder. Kaum, daß ich meine Augen geschlossen hatte, fiel ich in tiefen Schlaf. Mein Meister hatte schon immer diese Wirkung auf mich. Ich trieb in einer schwarzen Leere dahin. Allein. Und plötzlich fühlte ich die beruhigende Präsenz meines Meisters. In seinem .. oder war es in meinem Traum hatte er menschliche Gestalt. Er erinnerte mich an so etwas wie einen Großvater, der Güte und Weisheit ausstrahlt. Seine Traumpräsenz nahm mich bei der Hand. „Nun, mein Sohn... zeig mir das, was dich hergebracht hat.“

Blitze. Schwärze. Dunkle Wege. Schreie. Eisige Kälte. Zu viele Gefühle, um alles erfassen zu können. Schmerz.

Als ich wieder zu mir kam, beugte sich mein Meister über mich. „Du bist nur ein Traum, geboren aus meiner Einsamkeit. Du bist nicht wirklich! Und das, was du in Deinen Träumen siehst, ist der Ort, wo ich Dich gefunden habe. Ein Traum... ein dunkler Traum, entsprungen aus dem Schläfer in einer einsamen Nacht.“ Mir wurde schwindlig. Das konnte doch nicht wahr sein? Ich war ein Traum? Aber wie?
„Am Anfang waren wir alle Träume des großen Schläfers. Aber wir, die Träumer, haben es geschafft, uns unsere eigene Welt zu bauen. Da wir selbst nichts tun brauchen, außer träumen, haben wir die Menschen gemacht. Wir sehen euch zu. Wir teilen eure Träume, wir leiten euch durch sie. Eines Tages wird Dein Volk sich selber eine Welt träumen. Einige haben schon begonnen, aber ihre Träume sind böse. Sie wollen sie für sich haben und nicht mit ihresgleichen teilen. In eurer Welt werden wir nicht mehr existieren und auch du wirst nicht mehr sein. Sie verleumden uns, sie träumen nicht mehr. Und das Wehklagen jener, die nicht träumen dürfen, wird den großen Schläfer wecken. Dann wird alles enden. Und wieder von neuem beginnen in einem anderen, vielleicht besseren Traum.“

Wie gebannt lauschte ich den Worten meines Meisters. Ich hatte den Schläfer immer für eine Legende gehalten, aber mein Meister schien überzeugt, daß sich alles genauso und nicht anders abspielen würde. „Was ist denn mit der Stadt passiert? Es ist, als hätte es Euch dort nie gegeben... die Menschen sind traurig, ohne Träume...“ Noch während ich das sagte, fiel mir auf, daß sie tatsächlich ohne Träume sein mußten. Mein Meister hatte es geahnt. Die Träume weniger würden die Träume vieler ersetzen. In einer Vision erkannte ich die Wahrheit. Sklaverei, Stahl, Beton. Hoffnungslosigkeit. Krieg.
Alles nur, weil manche Menschen damit begannen, den anderen ihre Träume zu entziehen. Ihnen den Weg abschnitten. Ihnen die Hoffnung nahmen. Die Stadt war nur der Anfang. Das Ende hatte schon begonnen.
Unsägliche Trauer überfiel mich. Ich hatte ein Leben, daß ich liebte. Und ich hatte Träume, die mir zeigten, was jenseits des Schlafes auf mich wartete. Aber nicht diese ... Kälte. Diese Einsamkeit. Ich verstand, daß, wenn mein Meister recht hatte, die Traumwelt so werden würde, wie ich es gesehen hatte. Leer, einsam und kalt.
„Was wird mit Euch geschehen?“ Ich wagte kaum, zu fragen. Ich hielt den Atem an, als er zu einer Antwort ansetzte.
„Wir verlassen diese Welt. Man braucht uns nicht mehr. Der Traum vom Menschen hat sich verselbstständigt. Die Vorbereitungen sind getroffen. Wenn wir bleiben, werden wir untergehen. Wir überlassen es Dir, den Traum der Menschen weiter zu träumen. Doch achte auf Dein Herz. Laß nicht zu, daß es von der Gier nach anderen Träumen erfüllt wird. Teile sie mit deinen Kindern, deiner Familie und Deinen Freunden. Und mit denen, die noch träumen können!“ Noch während er sprach, erhob sich Wind in den Bäumen. Alle Träumer hatten wie auf einen Befehl ihre Flügel geöffnet. Wild schlugen sie durch die Luft und drehten ihre Körper, während sie auf den Boden zu stürzen schienen. Doch dann glitten sie wie ein Schwarm Fledermäuse durch den Wald, schrille Schreie ausstoßend.
„Es ist gut, daß du gekommen bist. Der Traum war Dein Ruf! Dein Traum vereint, was geschehen ist, als du geschaffen wurdest, und das, was kommen wird, wenn der Mensch nicht mehr träumt“ Mein Meister breitete eben seine Flügel aus. „Fange in deiner Umgebung an... Erzähle deiner Familie, was Du hier gesehen hast!“ Damit erhob er sich vom Boden und reihte sich in den Schwarm ein. Wie eine schwarze Wolke flogen sie davon. Ich blieb allein zurück. Ein Traum. Die Vergangenheit hat so viel Ähnlichkeit mit einem Traum. Wenn etwas vorbei ist, wird es genauso unwirklich.
Nur die Gegenwart erscheint uns real. Doch man kann Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden. Also, was ist wirklich?

Ich wachte auf, zu hause, schweißgebadet. Neben mir lag jemand. Ich drehte mich um und sah in das Gesicht meiner Frau. Wie friedlich sie schläft..., dachte ich.
Ich strich über ihre Wange. Leise bewegte sie sich und murmelte etwas. Aber sie wachte nicht auf. Es war noch dunkel draußen. Vage erinnerte ich mich an einen Traum.. grade eben noch klar und deutlich und jetzt blaß wie das fahle Licht des vollen Mondes. Vollmond? Irgendwie hatte ich Angst, erneut einzuschlafen. So vorsichtig wie möglich kroch ich aus dem Bett. Meine Frau drehte sich um, zog die Decke über die Schultern und schlief friedlich weiter. Ich ging zum Fenster. Der Vorhang flatterte im Wind. Meine Frau liebte es, bei offenen Fenster zu schlafen. Ich schaute hinaus auf den vollen Mond. Mir war, als hätte ich etwas wichtiges vergessen, etwas, was ich unbedingt hätte tun sollen, aber es war sowenig greifbar wie ein Traum.
Am Himmel flogen Fledermäuse auf nächtlichen Beutezug. Die Stadt lag ruhig da, nur vereinzelt brannte noch eine Kerze in dunklen Fenstern.
Mein Meister.... warum hast du mich verlassen?
„Du bist wieder da?“ Die Stimme meiner Frau riß mich aus meinen Grübeleien. War ich fort gewesen? Die Erinnerung holte mich langsam ein. Noch war ich desorientiert.
„Hast Du Antwort erhalten?“ Antwort? Ein flüchtiger Gedanke durchzuckte mich. Der große Schläfer erwacht. Gib acht auf deine Träume...
„Er sagte mir, wir dürfen niemals aufhören zu träumen. Und niemals vergessen, das, was wir in unseren Herzen tragen, auch zu teilen... Mein Meister hat mich zurückgeschickt. Er verläßt diesen Teil der Realität, um von einer neuen Welt zu träumen. Wir sind zurückgeblieben, um unsere Welt zu gestalten. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll...“ Meine Frau bedeutete mir, wieder ins Bett zu kommen. Nachdenklich folgte ich ihrer Aufforderung und kuschelte mich an ihren warmen Körper. „Morgen kannst du mir erzählen, was Du noch auf deinen Traumpfaden gefunden hast. Morgen ist auch noch ein Tag“, flüsterte sie.
Ich wollte ihr eine Antwort geben, aber die regelmäßigen Atemzüge von ihr zeigten mir, daß sie längst wieder eingeschlafen war.
„Schöne Träume, meine Liebe.“ Ich strich ihr das Haar aus dem Gesicht und versuchte mich zu erinnern. Mein Traumpfad war dunkel und leer. Blitze durchzuckten die Nacht, Donner folgte. Mir wurde kalt. Aber ein Flügelschlagen, weit entfernt, streifte meine Seele. Es beruhigte mich irgendwie. Ich wußte, daß ich der Meister meiner Träume war. Schließlich deckte der Schlaf auch meine Gedanken zu.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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