Martin Bayer

Fahrt ins Ungewisse










Sie fährt ihren grünen Golf behutsam durch das Chaos im
Stadtverkehr. Niemand sollte ihr anmerken, dass etwas nicht stimmt. Keiner
sollte sie aufhalten und fragen ob alles in Ordnung sei. Die Ampel schaltet auf
Rot. Sie bleibt stehen. In der kurzen Verschnaufpause plagen sie die
Erinnerungen an die vergangenen Tage. Sie weiß, dass sie unüberlegt gehandelt
hat, viel zu hastig, ohne an die Auswirkungen zu denken. Die Ampel schaltet
wieder auf Grün. Erneut will sie ihren normalerweise aggressiven Fahrstil
verbergen. Von den Geschehnissen der Straße abgelenkt rücken die schrecklichen
Gedanken wieder in den Hintergrund. Die Großstadt bietet viele Attraktionen an
denen man sich nie satt sehen kann. Oft sind es aber die alltäglichen Dinge,
die einen am meisten Freude bereiten. Sie sieht wie eine Horde Schulkinder in
den Bus drängen um sich noch die letzten freien Plätze zu sichern. Auch sie war
einst mitten im Geschehen dieses Kampfes. Damals war es dasselbe. Sie schupfte
und boxte sich durch die Menge, ohne auf die möglichen Folgen für sich oder
andere zu achten. Wäre damals ein Kind unter die Reifen des Buses gefallen,
hätte es bestimmt zu einem abrupten Ende ihres bis damals sorgenfreien Lebens
geführt. Alles wäre heute anders. Es wäre nichts so gekommen wie es gekommen
ist. Es hätte ihr Leben für immer zerstört. Sie hätte es sich nie verziehen,
wegen einer Busfahrt einen Menschen getötet zu haben. Doch es ist nichts
geschehen. Kein Kind starb. Stattdessen stirbt sie jetzt. Langsam. Qualvoll. Allein.
Sie wird sich ihren Fehler niemals verzeihen. Sie kann sich ihren Fehler
niemals verzeihen.
Die nächste Ampel schaltet auf Rot. Der Wagen kommt vor der Kreuzung zu stehen.
In diesem Augenblick kommt alles wieder hoch. Sie hört ihr Herz pochen. Sie spürt
wie Tränen ihr die Wangen runterlaufen. Ein kalter Schauer fährt ihr über den
Rücken. Sie hat ihn geliebt, bis zum Schluss. Warum hat sie nur diesen Fehlergemacht?
Sie hätte sich nicht trennen sollen. Nicht auf diese Art. Das hat keiner
verdient. Ein kurzes Zögern. Ein klarer Augenblick. Alles wäre anders. Sie
hätte ihm bestimmt verzeihen können. Es hätte zwar Tage, Wochen, Monate oder
Jahre in Anspruch genommen aber sie wäre darüber weggekommen.
Nun aber ist er fort. In eine fernes Land gereist. Sie könnte ihm folgen, aber
der Aufenthalt dort hat einen hohen Preis. Sie kann es sich nicht leisten.
Außerdem muss sie ihren kranken Großvater pflegen. Er hat sonst niemanden.
Die Hupen der anderen Fahrzeuge wecken sie aus ihrer Welt. Die Ampel ist grün.
Es ist die letzte Ampel bevor sie die Stadt verlässt und ihr Ziel, das Land,
erreicht. Sie sucht einen abgelegen einsamen Ort. Als sie nach links durch das
Fenster schaut sieht sie ein Baby. Klein und wehrlos. Aber in ihr wird etwas
wach. Auch sie wollte schon immer Kinder. Jetzt wird das Gaspedal voll
durchgedrückt. Sie will, dass sie jemand aufhält und fragt ob alles in Ordnung
sei. Doch die rettende Hand bleibt aus. Das kurze Gefühl von Geborgenheit
schwand und wich der Einsamkeit und Trauer. Sie hat ihre Endstation erreicht.
In einen Wald außerhalb der Stadt steht sie nun. Sie schaltet den Motor aus,
zieht den Schlüssel ab und steigt aus. Die Waldluft tut ihr gut. Sie war schon
lange nicht mehr da.
Sie geht zum Kofferraum und öffnet ihn langsam. Bevor er ganz offen ist,
vergewissert sie sich, ob jemand in der Nähe ist. Nein niemand da. Sie nimmt
die Schaufel aus dem Kofferraum und stellt sie behutsam neben das Auto. Jetzt
ist nur noch ein dünnes Leintuch im Kofferraum. Sie reißt es ruckartig weg und
bricht in Tränen aus, als sie in die toten, weit geöffneten Augen ihres
Freundes sieht.  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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