Sohn Wilhelm schreibt an Schwester Martha !!! 12.07.67
Liebe Martha samt Anhang !
Mutter geht es erheblich besser. Der Arzt sagte mir heute, daß die Krise vorbei ist, daß keine Lebensgefahr mehr besteht.
Es war in erster Linie eine Nierenkolik, die sie so fertig machte, daß sie meinte, es wäre in den nächsten Stunden aus.
Inzwischen gingen 4 Steinsplitter beim Urin ab und es geht aufwärts, obwohl sie sich bis bis heute noch nicht ganz darauf
eingestellt hat, daß es jetzt an ihr selbst liegt , ihre Lebenskraft durch Optimismus zu stärken. Ich habe etwas nachgeholfen ,
indem ich nicht so folgsam bin wie Marianne ihr jeden kleinen ( auch Schikane-) Wunsch erfüllte sondern sie sich selbst helfen ließ. Und es ging ! Vorhin habe ich es allein mit ihr geschafft , daß sie wieder zum ersten Mal allein aus dem Bett
stieg und sich mit etwas Hilfestellung in den Sessel setzte und von da aus fast 20 Minuten mit mir plauderte.
Dann als sie wieder ins Bett wollte , liefen wir zusammen einige Schritte vor und zurück im Zimmer. Wir tanzen jetzt einen "Schieber,einen Schluck Rotwein dazu und sie liegt jetzt wieder friedlich und sicher im Bett. Der Arzt hier versteht etwas und hat ihr schon seit Tagen geraten, wenn sie jetzt nicht mal endlich sich aufraffe und aus dem Bett herauskomme,
habe sie nie mehr eine Chance nocheinmal davonzukommen. Da sie tagelang nichts gegessen hatte wegen der Kolik waren ihre Muskeln so abgemagert und entkräftet, daß sie sich nichts mehr zutraute und sich noch schwächer fühlte, als sie tatsächlich war. Marianne war auch eine gar zu folgsame Tochter und wäre eher selbst draufgegangen, als daß sie ihr einen ihrer so vielfältigen Sonder- und Extra-Wünsche nicht erfüllt hätte.
So hatte sie z. B. die Angewohnheit , wegen der gegenwärtigen Blasenentzündung , die eine Alterserscheinung ist , aber ungefährlich, alle 1.1/2 Stunden eine Hilfe für das Unterschieben der Bett-Schüssel-nachts natürlich, nicht am Tag zu benötigen. Da Marianne das seit Wochen tat, jede Nacht neben ihr schlief und sich alle 1-2 Stunden wecken liehs für den Nachttopf ( Producktion : 3 Löffel voll ), war Marianne jetzt am Ende mit ihrer Kraft und Papa am Rande eines Schlaganfalls. Seit gestern habe ich Marianne abgelöst, wurde heute nacht 5 mal aufgeweckt u. habe sie daraufhin heute früh ( das sind ihre Worte :) etwas erfinden lassen: Wenn sie die Bettschüssel neben sich auf den Stuhl stellt, dann kann sie sie nachts sich selber unterschieben und sie braucht niemand zu wecken. Die Präzision mit der sie ihre Wünsche bis ins kleinste Detail bis zu 5 mal energich wiederholt, läßt erkennen , wie gesund sie Objektiv ist im Gegensatz zu ihrer Meinung, sie sei reif zum sterben.
Das Ganze ist zweifellos unterbewußt. Der Arzt sagte mir :Sie hat sich gegenüber ihrer Umwelt , die nicht ganz so spurte, wie sie es gerne hätte , mit Hilfe ihrer Krankheit , die vorhanden ist, ( aber nicht lebensbedrohlich ! )ein System aufgebaut das bewundernswert funktioniert. Spielt sie das aber weiter , dann manövriert sie sich in die Rolle völliger Plegebedürfniß hinein, braucht Marianne , Papa, Dich und mich als Pleger mit genau verteilten Rollen
Also weiterhin alles Gute und Schöne Dein Bruder WILHELM
N.B: Oma hatte ein gesundes Herz , und die Haut eines Babys , als sie im hohen Alter von 92 Jahren verstarb . .
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.02.2003.
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