Diethelm Reiner Kaminski

Die Macht des gesprochenen Wortes



Der Place Jamaa el Fna, der Platz der Gaukler, ist das pulsierende Herz von Marrakesch. Es schlägt mal ruhiger, mal wilder, aber es hört zu keiner Stunde auf zu schlagen. Er ist Schauplatz menschlichen Elends wie Reichtums, ein Spiegelbild des Lebens schlechthin.
Er wird bevölkert von Kreaturen aller Art – zarten wie groben, schönen wie hässlichen, reichen und bitterarmen, von Bettlern, Krüppeln, Akrobaten, Schriftgelehrten, Gauklern, Schlangenbeschwörern, Wunderheilern und  Gebissverkäufern, Obstsaft- und Suppenverkäufern in den unterschiedlichsten orientalischen Gewandungen. In diesem bunten lärmenden Treiben irren Touristen umher, hin und her gerissen zwischen Neugier, Faszination, Furcht und Ekel.
 
Auf den ersten Blick fallen die großen Menschenringe auf, die sich ebenso schnell leeren, wie sie sich gebildet haben, um an anderer Stelle des Platzes erneut anzuwachsen.
 
Es sind Geschichtenerzähler, die stärksten Zulauf haben. Der arabischen Sprache nicht mächtig, konnte ich nur die Mimik, Gestik und die schauspielerische Ausdruckskraft der Erzähler bewundern, wie es ihnen gelang, die vielen Zuhörer, die teils auf der Erde sitzen, teils stehen, in ihren Bann zu ziehen, sie zum Verweilen, Lachen und Staunen zu bringen. Was kann sich ein Erzähler eigener oder fremder Geschichten Besseres wünschen, als ein solch spontanes Echo zu finden, die Wirkung des gesprochenen Wortes in den Gesichtern der jungen und alten Menschen ablesen zu können? Der Verfasser des geschriebenen Wortes kann die Auflagenhöhe oder die Zahl der verkauften Exemplare erfragen. Er kann Rezensionen zu seinen Werken lesen. Aber weiß er dann sehr viel mehr von der Wirkung seines Werkes auf die einzelnen Menschen?
Die unmittelbar spürbare Freude an der gesprochenen Dichtung, ob es sich nun um Märchen, Schwänke oder hohe Epen handelt, ist etwas, was in unserer europäischen Kultur weitgehend verloren gegangen ist und auch durch die beste Autorenlesung nicht ersetzt werden kann, da dieser die Unmittelbarkeit des Erfindens, Ausspinnens, Eingehens auf die Zuhörer notwendigerweise fehlen muss.

Einmal erlebte ich in Köln einen begabten orientalischen Geschichtenerzähler, den syrischen Schriftsteller Rafik Schami, der mit einer Vorstellung seines neuen Romans „Die dunkle Seite der Liebe“ angekündigt worden war. Er schlug den über 1 000 Seiten umfassenden Roman während der zweistündigen Veranstaltung nicht ein einziges Mal auf, sondern entwickelte das Romangeschehen im Erzählen, weckte Spannung, verzögerte, knüpfte Handlungsstränge wieder zusammen, flocht Anekdoten und landeskundliche Informationen ein und klärte mögliche interkulturelle Missverständnisse auf. Kurz: Er zog die Zuhörer unwiderstehlich in seinen erzählerischen Kosmos.
Ihn hätte ich mir ebenso im Inneren eines „literarischen Zirkels“ auf dem Platz der Gaukler in Marrakesch vorstellen können, wo die des Lesens und Schreibens meist unkundigen Zuhörer fasziniert an seinen Lippen gehangen hätten wie in Köln, nur dass die Menschen dort vorwiegend ärmlich oder zerlumpt gekleidet gewesen wären.
Das gesprochene und in literarische Form gebrachte Wort stillt offenbar eine Grundsehnsucht des Menschen, unabhängig von Bildungsgrad und sozialer Zugehörigkeit. Es rührt auf unmittelbare Weise die Seelen an und bringt sie zum Klingen. Unsere modernen Ersatzerzähler – Kassetten, CDs, Bücher – bleiben in ihrer Wirkung weit hinter dem orientalischen Geschichtenerzähler zurück, der in den Augen und Herzen seiner Zuhörer zu lesen vermag.

(
01 – 02 – 2008)
 
 
Drei Jahre später, am Tag des schrecklichen Anschlags auf dem „Platz der Gaukler“ in Marrakesch, überkommt mich die Erinnerung an diese aufregende und unvergessliche Stadt umso intensiver. Natürlich habe auch ich allabendlich auf der Dachterrasse des Cafés Argana gesessen und das bunte Treiben auf dem Platz verfolgt und mich vom Blick über die Medina im magischen Licht der untergehenden Sonne verzaubern lassen.
 
Ich stelle diesen Text auch und vor allem im Gedenken an die unschuldigen und sinnlos gestorbenen Opfer ein, die keine Gelegenheit mehr haben werden, ihre Erinnerungen an einen märchenhaften Urlaub aufzuschreiben oder Freunden begeistert von ihren Begegnungen mit einer fremdartigen und dennoch anheimelnden Kultur zu berichten.

Der Platz der Gaukler sei Spiegelbild des Lebens schlechthin, schrieb ich eingangs. Heute am 28. April 2011  ist er auch zu einer Stätte des Terrors und des Todes geworden.
 
Selbst die Märchenerzähler halten inne und schweigen in stummem Entsetzen.
 

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