Hans Werner

Freundschaft


Erzählung von
Hans Werner
 
Vorbemerkung
 
Lieber Leser! Dieser Text ist im Jahre 1965 entstanden. Damals war ich 19 Jahre alt und hatte gerade die schriftliche Abiturprüfung hinter mir. Mit meinen Klassenkameraden traf ich mich zu einem kleinen Trinkgelage. Wir feierten die überstandene Prüfung und die Stimmung war übermütig und ausgelassen. Dieser Text befand sich in einem Ordner, den ich nun über viele Jahre nicht mehr aufgemacht hatte. Wie ich nun meine Gedanken von damals wieder überlese, packt es mich vor Rührung. Wie sehr konnte damals mein jugendliches Herz schwärmen! Wie sehr sehnte ich mich nach Liebe und Freundschaft! Wie stark war damals der Einfluss der jungen Menschen, mit denen ich dieselbe Klasse besuchte! Natürlich sehe ich heute alles viel nüchterner an und würde mich hüten, den einen oder anderen Gedanken so niederzuschreiben. Aber damals stand mein Herz so sehr unter dem Diktat der diversesten Empfindungen und zugleich suchte ich Erklärungen und konnte mich dabei in allerlei spekulative Schlussfolgerungen verlieren, die ich heute so nicht mehr unterschreiben könnte, die aber charakteristisch sind für die psychische Entwicklungsphase, in der ich mich zu jener Zeit befand. Nach dieser Präambel entlasse ich Dich, geneigter Leser, in die Lektüre dieses Textes, an dem ich, außer kleinen sprachlichen Korrekturen, kaum etwas geändert habe.
 
 
Wir stießen die Glaskrüge gegeneinander; mit dem hellen Klang, der dadurch verursacht wurde, und einem Aufspritzen des Biers, das durch die Erschütterung bedrohlich den Glas­rand erreichte, wurde das gemeinsame Trinken eingeleitet.
Neben mir zur Linken saß Lothar. Er war der einzige Primaner, welcher sichtlich zur mir hielt. Dies lag haupt­sächlich an unseren gemeinsamen Interessen, Musik und moderne Literatur. An diesem Abend unterhielten wir uns über Thomas Mann. Die meiste Zeit war diese Unterhal­tung nur ein Selbstgespräch meinerseits, der ich, äußerlich gesehen, zwar nur Kenntnisse von mir zu geben schien, inner­lich aber mit einer intimen Leidenschaftlichkeit und einer seelischen Ekstase von meinem großen Dichter, den ich mir als geistigen Freund erwünschte, von Thomas Mann, schwärmte.
Ich musste wohl einen eifrigen Ton angenommen haben - meine Augen hatten vielleicht jenen eigenartigen Glanz be­kommen, der bei jungen Menschen eine ideale Verzückung anzeigt - , denn Lothar schob sich mir entgegen, presste seinen massi­gen Oberkörper über den Tischrand und horchte angestrengt und aufgeregt auf meine Worte. Wolfgang, eine spitzige, dem Alkoholismus und Nikotin zuneigende Spielernatur alla Dostojewskji, hatte sich an meine rechte Seite gesetzt. Ich redete über die enge ästhetische Verwandtschaft zwischen Thomas Mann und Richard Wagner, über die Anwendung von Wagners Leitmotivtechnik in Manns literarischem Werk.
Während ich im Redefluss meine Nebensitzer befriedigte, blickten meine Augen hin und wieder über die etwa zehn Mann umfassende Tischgesellschaft, die sich beinahe aus­nahmslos in primitiven Späßen und unanständigen Witzen erging. Aber nur beinahe ausnahmslos... eine Ausnahme gab es; es war er, - wie soll ich ihn nennen? Die Allmacht des Dichters kann ihr jeden Namen geben, der Verkörperung des geistigen Schönheitsideals, der Inkarnation des griechischen männlichen und doch angenehm weichen Gottes Eros. ... Nun gut, nennenwir ihn Joseph. Einen Namen muss er ja doch wohl haben.
War denn dieser Joseph so schön, so klassisch, so angenehm? Nein, ganz und gar nicht! Ein durchschnittlicher Kopf, eine mit zu viel Fleisch ausgestattete Mundpartie, dicke Negerlippen - die obere zog er immer bis an die Nasenflügel hoch - verhinderten, dass der durchschnittliche Betrachter diesen Joseph hätte als schön erachten können.
Nun kommt aber die geheimnisvolle Wirkung des göttlichen Schönheitsfunkens ins Spiel. Der schöpferische Gott berührt flüchtig und sanft das unförmige Gesicht, das die Erbmassen der Eltern in ihrer unvollkommenen Weise gebildet, er gibt der gelinden Wölbung der Wangen den rechten Schwung, und siehe da... die hässliche Schwulstigkeit der Lippen wirkt sich plötzlich segens­reich auf das gesamte Profil aus, das eine männliche Sitten­strenge ausstrahlt, die so anzusehen wohltuend ist, ein herrlich schönes Ehrgefühl, dem gehorchen zu müssen Geborgenheit bedeutet, eine Veredelung der natürlichen Herzlichkeit, die den Betrachter mit dem freudigen Schauer eines Gotteserlebnisses überrieselt.
Und jener Gott küsst die Stellen, wo die befruchtete Eizelle die Augen vorgesehen, und ein weißes Blitzen, wie ein be­sonders hell leuchtender Stern, bleibt in dem Schwarzbraun der Iris erhalten, ein Flackern, das von dem Leben der schönen Seele zeugt.
So sehen ihn nur Künstleraugen, die das herbe Gemisch von innerlichen und äußerlichen Schön- und Unschönheiten zu einem Idealbild der Vollkommenheit verdichten, vielleicht sogar verzerren.
Wir, die wir feinfühlig veranlagt sind, empfinden doch eigenartig! Ihm nahe sein wollte ich, wollte von ihm erkannt und geliebt sein. Bald aber gab ich jenen Liebesanspruch auf.  Nur noch ein Mittel für seine Befriedigung wollte ich sein, Befriedigung jeglicher Art. Meine extravagante Phantasie dachte sogar an sadistische Misshandlungen, die ich gern von ihm erleiden wollte, wenn er sich nur mit mir abgäbe.
Und da wird nun der Mensch zum Tier, der angehende Literat, der über Thomas Mann doziert, der sich so sehr bemüht, zu der "Gesellschaft" zu gehören.
Ich bemühte mich, um eine harte Kruste der Gleich­gültigkeit um mein Herz, das ihn liebte (so ein Unsinn! zwischen Männern!) wachsen zu lassen. Aber es ging nicht. Ich war dazu verurteilt, von seinem Anblick, von seinem Dasein, ja vonseiner Existenz überhaupt, angeregt und aufgeregt zu werden. Zwischen Liebe und Hass wurde ich hin- und her­gerissen, wann ich ihn nur vor mir sah. Hassliebe, das wesen­hafte Gegenstück zur substanzlosen Gleichgültigkeit, be­herrschte meinen Sinn, inWirklichkeit war doch aber alles nur Liebe zu ihm und Hass gegen mich selbst.
Mein Mund hatte in der Zwischenzeit unausgesetzt geredet. "Tonio Kröger muss viel leiden, da er Hans Hansen liebt voller schmerzlicher Sehnsucht. Manchmal ahnt Hans Hansen etwas von der Liebe Tonios, und dann sieht er ihn so seltsam von der Seite an."
In diesem Augenblick geschah etwas ganz Ungeheures: Joseph, der zur Linken Lothars saß, wandte den Kopf zur mir, dem Sprechenden, herüber und sah mich von der Seite an; es war ein eigenartiges Sehen, das in seiner Seltsam­keit andauerte, sekundenlang, vielleicht sogar über Minuten.
Ich redete weiter, sprach von der besonderen Weltsicht Thomas Manns, von seiner eigenartigen Lehre von der Liebe als krankheitsbildende Macht, von der erlösenden Wirkung des Todes, der an sich die Erfüllung der Liebe sei. Was der Vereinigung nämlich im Wege stehe, seien die Schranken der Persönlichkeit, die Grenzen des Ego. Berauschung, Begattung, und Tod würden stufenweise die Grenzen dieses Ego abbauen. Berauschung verleite den Menschen zu einer oft ungewollten Intimität, Begattung öffne die Körper zweier Menschen, damit deren Seelen sich voll und ganz durchdrängen, der Tod schließlich vernichte das körperliche Gefängnis zu einer völligen Einswerdung mit Gottes geistiger Wesenheit. -
Zum letzten Mal wurden die Krüge gehoben, über die Tischmitte schwungvoll zusammengeführt und wieder zurückgenommen, um an die Lippen gesetzt zu werden, zur Labung der sowie­so schon überreizten Magennerven.
Der Zeiger war vorgerückt, man verabschiedete sich. Joseph, Uwe und ich fuhren mit dem letzten Bus in unseren Stadtteil. Uwe und ich waren zuerst eingestiegen, wir hatten uns hintereinander gesetzt: beide hatten wir dem noch fehlenden geheimnisvollen Dritten einen Platz freigehalten.
Ich schrak innerlich zusammen: Joseph, halb betrunken von seinen sechs Bieren, setzte sich neben mich.
Stockend und langsam begann er zu erzählen von dem erst kürzlich abgelegten schriftlichen Teil des Abituriums, weswegen die abendliche Feier überhaupt inszeniert worden war, von seinem Deutschaufsatz, der ihm, wie er meinte, nicht geglückt sei.
"In Deutsch bin ich abgeschifft."
Wie schwer musste ihm dieses Bekenntnis werden, meinem Rivalen im Fach Deutsch! Es rief in mir den Eindruck hervor, als ob er mir eine kleine noch offene Wunde hinhalte und von mir Mitleid erwartete.  Mitleid, das ich ihm aus Dankbarkeit dafür schuldete, dass er mir die Wunde, seine offene Stelle, gezeigt hatte. Wir kamen in ein enges vertrautes Gespräch. Seltsam, er und ich, die wir uns tagsüber sonst nur knapp grüßten! Im Fluge war die Endstation erreicht. Würde er heimgehen? Nein, er tat es nicht. Er bat mich, noch ein bisschen mit ihm umherzugehen. Wir gingen noch eine halbe Stunde und sprachen miteinander. Es war wie ein Gottesdienst unter den Sternen, eine kleine vergängliche Sekunde der Freundschaft!
Er war ganz so, wie ich ihn gern hatte und liebte, herz­lich und voll Idealismus.
Das Abitur vorbei, war ihm die Schule nun verleidet. Endlose Langeweile der geistigen Unbefriedigung!
Ich spürte, wie er seelische Substanz brauchte. Wir sahen ein Weilchen zu dem klaren Sternenhimmel empor und innerlich beteten wir. Er tat etwas, was er sonst nie getan hätte: er bekannte seine Schwachheit mir,  dem noch viel Schwächeren, ein. Er zeigte sich mir in einer seelischen Nacktheit, wie sie nur Berauschung ermög­lichen konnte.
"Leider kann ich nur mit dir reden, wenn ich betrunken bin!" sagte er.
Mein Herz jubelte. "Bittet, und ihr werdet empfangen" ver­kündet uns der Freund der Menschheit und ihr Erlöser, Je­sus Christus. Nur eine kleine Träne der Sehnsucht hat mein kindliches Herz zum Vater geschickt, und Joseph kommt aus eigenem Antrieb zu mir, öffnet seine Brust und gibt mir von seinem Herzblut zu trinken.
Ich weiß nicht mehr, was ich ihm alles gesagt habe. Worte, die der Zufall eingibt und die für den Zufall gelten und nicht wichtig sind für später. Aber als wir vor meiner Haustüre standen, spürten wir, wie sich in uns beiden eine eisige Kruste gelöst hatte und wie wir - die Unnahbaren - uns ein ganz klein bisschen näher gekommen waren.
Mit einem Händedruck, in den er seine ganze herzliche Kraft legte, verabschiedete er sich von mir. Wir wünschten uns eine gute, gute Nacht.
Wir wussten, dass uns nur einzelne, in dem Alltag spär­lich gesäte Freundschaftserlebnisse gegönnt sein würden, aber umso einmaliger und einzigartiger wurde mir dieses Erlebnis. Jener gemeinsame Gottesdienst unter den Sternen, jene Opferung und Darbringung der eigenen Freiheit, und -grandios der Schluss! - als göttliche Gegengabe das Grals­geschenk der Freundschaft,  jenes Medium ewig junger Menschen­kraft, jene geistige Vereinigung, jene übermenschliche Erfüllung der Sehnsucht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.04.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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