Alexander Vogt

Winterfeuer (Buch 2, Teil 2) Aufbruch ins Ungewisse

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Die Fortsetzung schreibe ich zu Ende, sobald ich als bezahlter Autor genug Erfolg habe ;-). Das vollständige Buch wurde honorigerweise schon einmal bei e-stories kommentiert, als ich dessen sieben Kapitel hier online zur Verfügung gestellt hatte. Um euch dies - mir sehr schmeichelnde - Fazit eines fantasylesenden Unbekannten nicht vorzuenthalten, hier der O-Ton seiner Buchkritik (Copy&Paste):

Bewertungs-Kommentar: Datum: Aktion: JSpieß (jochenspiess@googlemail.com) 06.12.2011
Eine wirklich spannend und kurzweilig geschriebene Geschichte. Die Figuren haben wirklich Charakter, die Dialoge oft eine gute Mischung zwischen Tiefe und Witz.
Macht Spaß zu lesen


    Lalilia:
Lalilia rieb sich ihre leicht verkrusteten Augen. Nach einer Reise wieder heimgekehrt schlief sie immer so tief und fest, wie ein Siebenschläfer zu dieser Jahreszeit! Nach dem langen Tag und den anstrengenden Zärtlichkeiten am späten Abend war sie so erschöpft gewesen, dass sie fast augenblicklich in festen Schlummer gefallen war. Morgenlicht fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen ihres Himmelbettes und Lalilia drehte sich vom Rücken auf den Bauch. Bald würde bestimmt schon das helle Glockenspiel im königlichen Schlafzimmer zum Wecken geläutet werden.
Lalilia seufzte Lächelnd, als sie an die vergangene Nacht und ihr Liebesspiel dachte, noch schlaftrunken tastete sie nun mit ihrer Rechten nach ihrem schlafenden Ehemann. Als ihre Hand nur eine kalte Bettdecke spürte, war sie auf der Stelle hellwach und fuhr auf! Greganor war ein Langschläfer!
„Duuuu...!“ rief ihre noch tiefe Morgenstimme und sie blickte auf die leere rechte Seite ihres Himmelbettes. Zerwühlte Kissen und ein hastig bekritzelter Zettel lagen neben ihr, anstatt ihres schlafenden Mannes.
Sie riss den Zettel an sich und spürte, wie ihr alles Blut zu Kopf stieg! War sie wütend, sie musste sich zusammenreißen, um den Zettel zu lesen und nicht einfach zu zerfetzten und laut um sich zu brüllen vor Zorn!
`Guten Morgen Schatz,´ las sie und formte mit ihren Lippen die Laute nach. `Ich weiß gerade nicht, was ich dir schreiben soll, obwohl ich viel darüber nacht gedacht habe. Ich muss einfach einmal hier raus, weißt du? Bin auch so schnell wie möglich wieder bei dir, versprochen! Ich bestelle Ran, Grasa und Ronjaxil ganz herzliche Grüße von dir, und erzähle dir nachher, wie die beiden Babys ausschauen.
Einen ganz dicken Kuss für dich, mein Schatz, dein dich heiß liebender Greganor!´
„Oh, DUUU!“ schrie Lalilia jetzt und knüllte den Zettel in ihrer Faust so fest zusammen, dass sie schmerzte.
„Du Barbar, du Tunichtgut, du verflixter...,“sie rang die Hände in der Luft und schlüpfte dann zwischen den Vorhängen des Bettes hindurch, um im Zimmer wütend auf und ab zu laufen.
„Was muss ich auch den größten Kindskopf Avariens heiraten!“ schimpfte sie laut und anschuldigend vor sich hin. „Greganor, du bist doch gar nicht fähig, einmal etwas richtig zu machen! Kann man dir denn gar nichts beibringen? Stiehlst dich nachts aus unserem Bett, och...!“
Lalilia schleuderte den zerknüllten Zettel auf den Teppich. „Du und dein Taugenichts von einem Freund...unverbesserlich...einfach unverbesserlich!“
Jetzt bekam sie auch noch feuchte Augen, weil sie gleich wieder begann, den Fehler für diese Art des Abganges bei sich zu suchen. „Nein,“ schärfte sie sich jetzt ein, „du hättest mit mir reden können, Greganor! Ach verflixt, ich...“
Ein schweres Klopfen war an ihrer Schlafzimmertür zu hören, Lalilia fuhr zusammen, hatte jemand mitgehört?
„Eure Majestät?“ fragte die vertraute Stimme ihrer Zofe Sophie. Lalilia hatte das Mädchen gleich wieder in ihre Dienste genommen, als Sophie bei Hofe vorgesprochen und sich um ihre alte Stelle beworben hatte.
„Was ist Sophie?“ rief Lalilia, halb ärgerlich, halb ängstlich, dass ihr lautes Selbstgespräch noch andere Zuhörer gefunden hatte.
„Etwas Schreckliches ist passiert, eure Majestät, eine Brieftaube ist gerade eingetroffen und ich hörte euch reden, da dachte ich, ihr seid schon wach.“
Lalilia stand schon vor der Tür, schob die beiden schweren Riegel zurück und riss sie auf. Vor ihr stand die beunruhigte Sophie mit einer winzigen Schriftrolle auf einem Silbertablett in den Händen. Aus dem blondgelockten Mädchen war inzwischen eine junge Frau geworden, aber aus ihren großen naiven Kinderaugen sprach jetzt wieder die gleiche Verunsicherung, wie an den Tagen, da die Adepten mit ihren Handlangern die Länder in Chaos gestürzt hatten.
„Was ist passiert, Sophie?“ entfuhr es Lalilia, ihre junge Zofe so verstört zu sehen, hatte sie alarmiert! War etwas mit Greganor passiert? Wusste wieder jeder andere mehr, als sie?
„Ich weiß es nicht genau, eure Majestät,“ entschuldigte sich Sophie, „ich darf die Botschaften ja nicht lesen, aber der Postmeister wirkte sehr erschrocken und befahl mir, euch umgehend die Nachricht zu bringen, sobald ihr erwacht!“
Lalilia packte den gewachsten Zettel und entrollte ihn mit inzwischen vor Erregung zitternden Fingern. Als sie das Siegel Avariens erkannte, fiel ihr zunächst ein Stein von Herzen. Wie dumm von ihr, zu glauben, die Nachricht hätte etwas mit Greganor zu tun! Er konnte in einer halben Nacht kaum in die nächste Großstadt Loriéliens gereist sein, in der die nächste Brieftaubenstation zu finden war!
Begierig den Inhalt des winzigen Zettels zu erfahren begann sie mit zusammengekniffenen Augen die schöne Schrift zu entziffern.
„...macht es erforderlich, eurer Majestät, König Greganor I. und eurer Majestät Lalilia I. umgehend mitzuteilen, dass wir...“, las sie laut die Nachricht und unterbrach dann kopfschüttelnd: diese dämlichen Höflichkeitsfloskeln füllten bestimmt den halben Zettel! „...sehr beunruhigt über die Ereignisse der vergangenen Woche sind. Das Dorf Uledom ( 400 Einwohner, Südküste ) und die Burg Tannstein mit den dazugehörenden Ländereien ( 900 Einwohner, am Fluss Jenn ) wurden bis auf wenige Überlebende völlig vernichtet. Des nachts hätte ein geflügeltes schwarzes Ungeheuer alles in Brand gesteckt, Mensch und Vieh bei lebendigem Leibe gefressen und wäre wieder in der Dunkelheit verschwunden, berichten die Zeugen. Ob es dieses Wesen gibt, oder was auch immer hinter diesen Verheerungen stecken mag, ist unserer Regierung noch unklar. Wir bitten eure königlichen Hoheiten nur um erhöhte Wachsamkeit! Wir werden unsererseits Avarien in Alarmzustand versetzten, dass des nachts Wachen bereit stehen und die Rathausglocken Sturmläuten, wenn ein Ungeheuer am Himmel zu sehen ist. Die Bewohner unserer Städte und Dörfer werden so in das Umland flüchten können, ehe sie verbrannt oder gefressen werden! Hochachtungsvoll, der Regierende Fünferrat Avariens, im Auftrag, Meister Wirchov.“
Lalilia las den Zettel ein zweites und drittes Mal im Stillen, ehe sie ihn wie betäubt wieder auf das Silbertablett zurück legte. Über Eintausend Menschen waren zu Tode gekommen! Ein fliegendes Ungeheuer, was sollte das nur bedeuten? Alarmzustand in Avarien? Was sollte, was konnte, was musste sie jetzt selbst unternehmen? Ihr schwindelte leicht und sie musste sich mit ihrem Rücken an eine Wand lehnen. Ihr tot geglaubter Freund war zurückgekehrt, ihr Mann hatte sich einfach aus dem Schloss und seiner Verantwortung als König gestohlen und ein Ungeheuer verwüstete ihr Nachbarland, und all das hatte sie in den letzten zwanzig Stunden erfahren.
„Ist es euch nicht gut?“ fragte Sophie besorgt, stellte das Tablett auf dem Läufer ab und fasste sie an den Handgelenken. „Soll ich einen Medikus holen?“
„Nein, hole mir den ersten Ritter der Eisenmäntel und die Hofberichterstatter! Ich habe wichtige Mitteilungen zu machen!“ sagte Lalilia mit dünner aber sicherer Stimme.
„Glaubt ihr, dass es das Ungeheuer gibt, diesen schwarzen Drachen?“
„Drachen?“ fragte Lalilia ihre Zofe, die ja alles gelesene mitgehört hatte. „Ich weiß es nicht!“
„Aber ihr glaubt es?“
„Ich glaube nicht an Drachen, wieso sollte es plötzlich Drachen geben? Das sind Märchen, weiter nichts!“
„Aber was hat diese Menschen dann gefressen?“
„Jetzt lauf schon, Sophie! Bringe mir die Leute in einer Viertelstunde in den Thronsaal,“ rief Lalilia ihre Zofe ungeduldig an.
„Ja, ich beeile mich!“ nickte die junge Frau, nahm geschickt das Tablett auf und eilte den Gang hinab.
Was, wenn Sophie recht hatte, wenn es tatsächlich ein `Drache´ war, was immer das sein sollte? Die vergangene Nacht sollte mit Sicherheit zur letzten Nacht werden, in der Lalilia ruhigen Schlaf würde finden können! Was, wenn dieses Ungeheuer, oder was es auch war, nach Loriélien kam und ihr Land heimsuchte? Vielleicht würde es sogar den Palast angreifen? Ihre Knie wurden weich, als sie sich vorstellte, in der kommenden Nacht von einstürzenden Dächern, Qualm von brennenden Wänden und schreienden Menschen geweckt zu werden! Ausgerechnet jetzt waren Greganor und Jannick verschwunden, ausgerechnet! Was konnte sie schon anderes tun, als für Loriélien die gleichen Vorsichtsmaßnahmen treffen, als der Rat von Avarien für sein Land? Das Verschwinden des Königs würde sie vor den Hofberichterstattern wie seine eilige Abreise in einem besonderen Auftrag erscheinen lassen. Es rankten sich genug Erzählungen rund um Greganor, dessen tot geglaubten Freund Jannick und deren gemeinsame Vergangenheit, dass sie so die Gerüchteküche mit weiteren Mutmaßungen zum Kochen bringen konnte. Das Volk Loriéliens verehrte ihren König sehr, dem es sowohl Skepsis angedeien ließ, weil es ihn als Ausländer und ehemaligen Beschützer der Schwarzen Greifen fürchtete, als auch Respekt entgegen brachte, weil er ein Kriegsheld und Freiheitskämpfer gewesen war. Warum sollte Lalilia ihr Volk also dadurch verunsichern, dass Greganor zwar tapfer und ein gefährlicher Kämpfer war, aber immer noch ein großes Kind, das man ständig um Auge behalten musste, um es von Dummheiten abzubringen? Das der König nur seinen Bruder und seine Nichte besuchen wollte, musste niemand wissen. Außerdem war sie sich sicher, dass Greganor - einmal über diese Vorkommnisse unterrichtet - alles stehen und liegen lassen würde, um sich augenblicklich auf die Rückreise zu ihr zu machen!

                        Cedrick:
Sie hatten ihre Pferde zum Trinken an den schmalen Bachlauf neben dem Pfad durch Loriéliens Auen geführt. Inzwischen standen die drei jungen Pferde im dichten Ufergras an ein paar dünne Ahornbäume angebunden und kauten friedlich auf den Kräutern herum, die hier üppig wuchsen. Die beiden Männer hatten sich die Satteldecken ihrer Pferden als Unterlage im Ufergras ausgebreitet um darauf ein wenig zu auszuruhen. Cedrick saß auf einem steinernen Wegweiser an der Straße, um diese im Auge behalten zu können, blickte aber immer wieder missmutig zu den beiden Müßiggängern hinab. Was machte er eigentlich hier? Sein Auftrag war einen mordenden Adepten in Avarien zu finden. Statt beharrlich, trotz Verlust der Fährte, weiter nach dem Mörder zu suchen, hatte er sich darauf eingelassen, diesen anderen Adepten zu begleiten! Natürlich war es einleuchtend, dass er im Falle eines Kampfes von Adept gegen Adept das Zünglein an der Wage sein könnte, aber was tat dieser Jannick schon? Er suchte nicht einmal nach dem Schlächter, reiste statt dessen in den fernen Osten nach Kantila und keiner der Beiden hatte ihm bisher gesagt, was sie dort eigentlich wollten! `Jemanden besuchen´, war die wage Antwort gewesen, die der Adept ihm gegeben hatte und Cedrick war zu stolz, noch ein weiteres Mal zu fragen. Fühlte er sich dem Mann etwa verpflichtet, weil er ihn beinahe umgebracht hätte oder versprach er sich vielleicht irgend etwas anderes davon, ihn und den König Loriéliens auf ihrer Reise zu begleiten? Cedrick nahm mir finsterem Blick seinen Dolch aus der Scheide und zog ihm geübt immer wieder über den Schleifstein, den er ebenfalls aus einer Tasche an seinem Gürtel entnommen hatte. In Greganor hatte er zumindest einen geeigneten Partner für sein Kampftraining gefunden, auch wenn der Mann seit ihrem Übungskampf vor Anderthalb Jahren auf Burg Greifenstein nachgelassen hatte.
Cedrick prüfte die schärfe der Dolchklinge indem er sich damit ein paar dünne Haare vom Unterarm abschabte. Vielleicht war er einfach mit den beiden Männern gereist, weil sie ihn darum gebeten hatten, nichts weiter. Aus Greifenfels hatte ihn Lord Fornworth verstoßen und sonst gab es niemanden mehr, dem Cedrick sich verpflichtet fühlte, weil es niemanden gab, der sich für ihn überhaupt interessierte! Solange es nicht Mitleid war, dass den Adepten bewogen hatte, ihn mitzunehmen, sondern seine Kampfkunst, solange wollte Cedrick die beiden Männer begleiten.
Ferner Hufschlag riss ihn aus seinen düsteren Tagträumen. Cedrick sprang auf und verbarg sich im Schatten einer großen Linde, um den nahenden Reiter genauer in Augenschein nehmen zu können. Schon von weitem hörte er, dass das Pferd abgehetzt war und aus der Nähe besehen konnte er klar erkennen, dass das Tier bald eine längere Pause brauchte, um auch nur bis ins nächste Dorf zu kommen!
Es war ein Loriélischer Botenreiter auf einem Schimmel, der sich über die Hügel näherte. Cedrick trat aus dem Schatten hervor, dass ihn der Mann sehen konnte.
„Wer kommt dort angeritten?“ die beiden Männer hatten ihre Ruhestätte aufgegeben und waren durch den Uferhang zu ihm hinaufgestiegen.
„Ein Bote,“ sagte er knapp, denn der Reiter hatte sie fast erreicht.
„Hoo!“ der Mann zügelte sein abgetztes Pferd und sprang aus dem Sattel, um den Schimmel am Zaumzeug zu fassen. „Einen guten Tag wünsche ich, ist es den Herren recht, wenn ich mein Pferd kurz hier trinken und Atem schöpfen lasse?“
„Gewiss,“ nickte der Adept. „habt ihr wichtige Nachrichten zu überbringen, dass ihr euer Tier so treibt?“
Der Bote tätschelte dem Schimmel den Hals und brachte es eilig zum Fluss hinab, derweil er über seine Schulter antwortete: „Oh, gewiss, wichtige Nachrichten!“
„Um was handelt es sich?“ fragte der König gelangweilt, gähnte und streckte sich.
„Eine Warnung, direkt vom König und der Königin!“ der Bote band den Schimmel ebenfalls an einen Ahornbaum und stapfte dann auf sie zu.
„Was für eine Warnung?“ wollte Greganor nun doch interessiert wissen und musterte den Boten nervös.
„Irgendein Untier soll die Küstenstädte Avariens, eine nach der anderen, verwüsten,“ meinte der Mann mit erster Miene. „Genaues weiß noch niemand! Es soll schwarz sein, Flügel haben und gibt Feuerstöße von sich, die alles in Brand stecken! Es kann ganze Rinder am Stück verschlingen, so sagt man!“
Cedrick blickte den König an und dieser den Adepten. Jannick zuckte nur mit aufgestörter besorgter Miene mit den Schultern.
„Weiter, Mann!“ verlangte Greganor jetzt von dem Reiter.
„Ich soll überall einen Ausdruck in den Dörfern verteilen, dass sie eine Nachtwache aufstellen sollen, die, wenn das Biest kommt, die Glocken in den Rathäusern läuten oder sonstwie Lärm machen, dass wenigstens die Menschen fliehen können!“
„Ist das Biest schon in Loriélien?“ verlange Greganor zu wissen.
„Nein, nicht, dass ich wüsste, Herr. Bislang ist es nur in der Küstenregion Avariens aufgetaucht. Aber keine Furcht,“ fügte der Bote hinzu und sprach etwas leiser zu Greganor, als würde er ein Geheimnis verkünden wollen: „Unser König selbst ist in einer geheimen Angelegenheit aufgebrochen, um dem Untier den Garaus zu machen! Es gibt sogar Gerüchte, dass Jannick der Adept noch lebt und in unserer Hauptstatt aufgetaucht ist. Vielleicht ist das wieder so eine Verschwörung wie vor dem großen Krieg: es ist bestimmt kein Zufall, dass das alles gleichzeitig passiert! Der König und der Adept sind sicher schon dabei, das Ärgste zu verhindern!“
Jannick der Adept fuhr sich mit seiner Rechten von der Stirn bis zum Kinn über sein ungläubiges Gesicht, als wollte er eine schleimige Substanz fort wischen, Greganor schüttelte nur fassungslos den Kopf und bald darauf die Fäuste. Cedrick blickte den Boten und die beiden Männer nur mit mäßiger Neugierde an. Er würde es schon erleben, was auch immer kommen mochte.
„Was hat das zu bedeuten, kannst du dir darauf einen Reim machen? Irgendeinen?“ schnauzte der König seinen Freund nun an. „Gerade jetzt hätte Lalilia mich gebraucht aber du hast mich ja überredet mitzukommen!“
„Von wem sprecht ihr, Herr?“ der Botenreiter beäugte sie nun alle drei neugierig.
Der König legte dem Mann seine Rechte Hand auf die Schulter und blickte ihn Auge in Auge an: „Entschuldigung!“
Nach einer Kopfnuss ließ Greganor den bewusstlosen Boten vorsichtig am Kragen gepackt ins Gras gleiten. „Was ist, was denkst du?“ wollte er nun wieder an den Adepten gewandt wissen.
„Ein Adept taucht auf, verschwindet wieder und bald darauf sucht eine Kreatur, auf die die Beschreibung eines Drachen passt das Gebiet heim, wo er untergetaucht ist,“ murmelte Jannick.
„Greganor, wenn es stimmt, was ich vermute, haben wir es mit einer Macht zu tun, die weit gefährlicher ist, als es sich jetzt darstellt! Mit einer größeren Macht noch, als mit dem vereinigten Zirkel der Adepten!“
Nun wurde sogar Cedrick aufmerksam, steckte seinen Dolch zurück in die Scheide und verschränkte seine Arme.
„Was vermutest du?“ der König blickte den Adepten starr an, dessen Augenfarbe sich von braun zu tiefen schwarz verändert hatte.
„Es gibt eine Legende, eine Legende über Tobaskar den Fahlen!“
„Den Adepten, der alle Adeptenzirkel damals zu einem einzigen vereinigt hat?“
„Dieser Mann ist vor zweihundert Jahren verschwunden. Eine der verschiedenen Gerüchte dazu besagt, dass er keinesfalls ermordet worden ist oder einen Unfall auf einer Reise hatte, sondern nach Norden gezogen ist, um noch unerforschte Gebiete aus grauer Vorzeit aufzusuchen. Dort erhoffte er sich Quellen noch größerer Macht, als er ohnehin schon besaß, zugänglich zu machen!“
„Du glaubst, dass dieser irre Mörder mit diesem Tobaskar identisch ist?“
„Auch wenn es abwegig klingt! Die anderen Adepten sind tot, ganz sicher, du hast ihren Tod selbst gesehen!“
„Nach zweihundert Jahren müsste auch dieser Mensch tot sein!“
„Greganor, ich kann dir nicht sagen, was tatsächlich der Fall ist, sondern nur, was möglicherweise der Fall sein könnte!“
„Na schön, dieser Adept lebt und tötet einige Menschen, was ist mit diesem Untier, diesem Drachen?“
„Ich weiß es nicht!“ Jannick seufzte tief. „Aber wenn auch nur ein Quentchen Wahrheit in meiner Vermutung steckt, haben wir nicht den Hauch einer Chance gegen Tobaskar oder die Kreatur, die er gerufen hat!“
Schweigen senkte sich für einen Moment zwischen ihnen herab.
„Also, was?“ entfuhr es jetzt dem König. „Abwarten? Fliehen?“
„Nein!“ Jannick kratzte sich die Stirn. „Wenn wir etwas sinnvolles unternehmen wollen, müssen wir mehr über das Wesen und die Kräfte erfahren, mit denen wir es zu tun haben. Wenn du einen Gegner bezwingen willst, musst du bestens im Bilde sein, was seine Stärken sind, noch besser aber, wo seine Schwächen liegen!“
„Du willst nach Norden reisen? Dir das Wissen aneignen, wozu dieser Tobaskar die Zeit von mehreren Menschenleben gebraucht hat? Wir wissen doch nichteinmal wohin wir müssen, geschweigedenn, was wir suchen! Ist das etwa der Plan?“
„Nicht ganz,“ Jannick wandte sich jetzt von ihnen ab und ging auf seine ausgebreitete Satteldecke zu. „Vorher muss ich Ran wiedersehen!“
Greganor öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann jedoch wieder, lockerte seine Angespannte Haltung, atmete tief durch und folgte dem Adepten, um ebenfalls seine Satteldecke zusammen zu legen.
Cedrick sah den beiden nach. Er war erstaunt, ehrlich erstaunt. Mit wenigen Schritten war er bei seinem braunen Pferd, hatte es losgebunden und sich in den Sattel geschwungen. Er fuhr sich mit der Hand durch seine wilde Haartracht, blickte in Richtung Osten und dann gegen Norden. Was auch auf sie zukommen mochte, was sie auch finden würden, der junge Greif spürte eine Genugtuung, dass er es an der Seite mit diesen beiden Männern erleben würde. Erinnerungen an eine Schlacht gegen die Barbaren stiegen in ihm wieder auf, aber er unterdrückte sie augenblicklich. Es spielte keine Rolle, was damals geschehen war! Es war passiert und vorbei! Er musste ans Jetzt denken, nur ans Jetzt! Cedrick drückte dem Tier seine Fersen in die Flanken und das Pferd setzte sich in Bewegung. Jetzt hieß es, nach Norden zu reiten, alles weitere würde sich ergeben.

Der Himmel war bedeckt und es lag ein Geruch in der Luft, als würde es bald anfangen zu schneien. Gleich bei Tagesanbruch hatten sie ihre Wirtschaft in Chronlan verlassen und waren im Verlauf des langen Tages durch immer dünner besiedelte Gebiete geritten. Gerade hatten sie auch den letzten Angelegten Weg - der kaum mehr als ein halb zugewachsener Trampelpfad war – verlassen, um in ein ausgedehntes Waldgebiet zu reiten.
Cedrick entdeckte hier im tiefsten Kantila Bäume und Sträucher, die er noch nie außerhalb des Arboretums von Greifenfels gesehen hatte. Kantila hatte ein rauhes Klima und vom Ozean im Osten bliesen im Winter besonders schwere Stürme über das größte Land des Kontinents. Die Sommer waren milder und die Winter kälter als im übrigen Kimbernia, `bleibt zu hoffen´, dachte sich Cedrick, `dass wir noch bevor der erste Schnee fällt, wieder auf dem Rückweg sind, sonst werden wir hier bis zum Frühlingsbeginn festsitzen´. Bislang waren sie schnell voran gekommen, hatten ihren Pferden meist erst tief in der Nacht ihre Ruhe gegönnt um sich mit dem Morgengrauen wieder in die Sättel zu begeben. Neun Tage war es her, dass sie in Gnossas aufgebrochen waren und sieben Tage, seit ihnen der Botenreiter begegnet war. Die Zeit im Sattel hatten der König und sein Freund nicht ungenutzt verstreichen lassen, die beiden hatten in jeder größeren Stadt nach neuen Informationen in den Poststationen geschaut und viel nachgedacht. Nur eine Brieftaube war schneller Richtung Osten geflogen, als sie geritten waren, dementsprechend dürftig waren die wenigen Neuigkeiten auch ausgefallen: drei weitere Siedlungen waren in Avarien heimgesucht und zerstört worden. Die Regierungen waren rat- und die Ritterorden machtlos.
Cedrick blickte Jannick den Adepten an, der ihre Nachhut bildete: so aufgeregt, wie am heutigen Abend hatte er den Mann noch nicht gesehen. Überhaupt schien sich seine Stimmung mit jedem Tag, den sie ihrem Ziel in Kantila näher kamen, besser gelaunt zu sein, was Cedrick allein an der beständig blauen Augenfarbe des Adepten erkennen konnte. Auch die ersten beiden Tage, nachdem sie von dem schwarzen Ungetüm erfahren hatten, war Jannick zwar tief in Gedanken, aber nicht unbedingt in schlechter Stimmung gewesen. Er hatte die ganze Zeit über einer `Geheimschrift´ gebrütet, die er perfektionieren wollte. Was es damit auf sich hatte und welchen Nutzen sie genau bringen sollte interessierte Cedrick nicht genug, als das er danach gefragt hätte oder es noch tun würde. Diese Geheimschrift samt Deutung jedenfalls hatten die beiden Freunde gemeinsam mit anderen Mitteilungen für die Königin an den Hof in Gnossas geschickt.
„Keine Stunde mehr, bis es zu dunkel sein wird, noch Spuren zu lesen,“ rief Greganor, der an der Spitze ritt ihm und dem Adepten zu.
„Wie weit ist es noch?“ fragte der nervöse Adept zurück.
Der König lachte: „Ich will nichts versprechen, aber ich müsste mich schon schwer verschätzt haben, wenn wir nicht in wenigen Augenblicken auf die kleine Lichtung stoßen würden!“
Cedrick blickte stur nach vorn. Aus den Gesprächen der beiden Männer hatte er mitbekommen, dass sie den Bruder des Königs und die Frau des Adepten in einer einsamen Kate im Wald besuchen würden. Es hatte ihn ein wenig geärgert, dass die zwei Freunde immer geheimnisvoll taten, wenn sie in seiner Gegenwart dieses Thema angeschnitten hatten, aber darüber hinaus war ihm die ganze Angelegenheit reichlich gleichgültig geblieben! Was sollte das wohl für ein Geheimnis sein, ein Mann und eine Frau, die zusammen einsam im Wald wohnen? Das der königliche Bruder Grasa hieß und von kränklicher Natur war, wusste Cedrick inzwischen, so vermutete er, das die Frau des Adepten wohl dessen Pflegerin sein würde.
„Die Lichtung!“ rief Greganor nun aufgeregt aus, deutete mit dem Zeigefinger nach vorn und drehte sich dann Cedrick und dem Adepten zu. „Du bist ja so still geworden, Jannick!“ lachte er, als er seinen Freund erblickte.
„Meine Kehle ist wie zugeschnürt,“ meinte der Adept tatsächlich mit einiger Mühe.
Der König sprang aus dem Sattel: „Kommt, wir wollen sehen, ob jemand zu Hause ist!“
„Nimmst du mein Pferd?“ bat Jannick, rutschte aus dem Sattel und holte die paar Schritt zwischen Greganor und ihm auf, um den König dann die Zügel auch seines Pferdes in die Hand zu drücken.
Cedrick entdeckte hörte jetzt das leise Klappern einer Wassermühle und bald darauf sah er ein kleines Fachwerkhaus inmitten einer Lichtung in der Dämmerung stehen. Er sprang auch aus dem Sattel und folgte den Männern.
„Es ist soweit,“ sprach der Adept jetzt tonlos und nickte dem König zu. Cedrick zog überrascht die Brauen hoch, als der Mann die Augen schloss und von einem Lidschlag zum nächsten plötzlich verschwunden war. Erst einen Augenblick später erkannte er, dass der Adept sich nur zu einem Wichtelmännchen zusammengeschrumpft hatte: Jannick stand im dichten Laub des kahlen Waldes und reichte Greganor nicht einmal mehr bis zum Knie!
„Warum haben sie sich geschrumpft?“ entfuhr es Cedrick jetzt und er begab sich in die Hocke, um den winzigen Adepten genauer anzuschauen.
„Das wirst du gleich erfahren, Cedrick,“ piepste die Stimme des Wichtelmännchens freundlich und zwei hellblau strahlende Augen blickten zu ihm auf.
„Bereit?“ lachte Greganor nur, ohne eine Antwort abzuwarten und pochte mit der Faust ein Klopfzeichen an die Tür.
Es dauerte eine geraume Weile, ehe Cedrick in der schweigsamen Stille Schritte aus dem Inneren der kleinen Wassermühle vernahm, dann öffnete sich die Tür.
„Grasa!“ jubelte Greganor jetzt und zog die Gestalt aus der Dunkelheit des Hausflures schneller an seine Brust, als dieser dagegen Einwände erheben konnte.
„Greganor, welche Freude!“ In der Dämmerung erkannte Cedrick nur, dass es ein großer, magerer Mann war, der jetzt den König ebenfalls in die Arme schloss.
„Unangemeldeter Besuch ist der schönste,“ lachte der Fremde. „Kommt herein, du und...“
Greganor entließ jetzt blitzschnell seinen Bruder aus der Umarmung und presste den Zeigefinger verschwörerisch auf seine Lippen: „Still! Der junge Mann dort hinten ist Cedrick auch ein Beschützer der Greifen!“
„Aber ich sehe drei Pferde!“
Greganor zeigte zu Boden und Grasas Miene erhellte sich. Statt aber über den Anblick des winzigen Adepten etwas zu sagen, nickte der Hagere bald und flüsterte nur: „Du schaffst es immer wieder, zu überraschen, Jannick, du ahnst nicht, wie ich mich über deinen Anblick Freue! Ran ist mit Ronjaxil bei den Kindern im Gästezimmer!“
Jetzt war sogar Cedrick ein wenig aufgeregt: Noch mehr Personen, von denen er nichts wusste? Ein Namen wie Ronjaxil war ihm noch nie zu Ohren gekommen.
Ehe er noch weiter darüber nachdenken konnte, waren die beiden Freunde schon in die Dunkelheit des Hauses entschwunden und der hagere Mann winkte auch Cedrick ihm die Zügel seines Pferdes zu überreichen und einzutreten.
Im unbeleuchteten Flur des Hauses sah Cedrick nun unter einer Tür hinten links helles Licht hervor scheinen. Greganor stieß behutsam die Tür auf, der winzige Jannick blieb noch in Dunkelheit des Flurs stehen. „Ran, Ronjaxil!“ rief die sich fast überschlagende Stimme des Königs in den hellen Raum hinein.
„Greganor!“ ertönten zwei Stimmen synchron, die beide für sich schon mehr als eigenartig klangen. Als Cedrick dem größeren Greganor versuchte, über die Schulter zu schauen, prallte er plötzlich vor Schreck gegen die Tür auf der anderen Seite des Flures zurück!
Ein Wesen mit grünem Gesicht und grünen Händen stand in dem Zimmer und breitete die Arme einladend aus. Der König nahm sie rasch in seine: „Liebe Schwägerin!“ lachte der König und ging dann in die Knie, wo er eine zweite Person begrüßte: „Und meine liebe Ran! Du bist mit jedem Tag schöner geworden!“
Cedrick spürte jetzt, dass er die Luft angehalten hatte. Eine zierliche Frau mit grüner Haut und ohne Haupthaar oder Augenbraun und ein blondes Wichtelmädchen! Cedrick musste zwinkern, er konnte nicht glauben, was er sah, fasste sich mit beiden Händen an Schläfen und spürte, dass sein Kopf glühte, wie vom Fieber!
„Greganor!“ piepste die begeisterte helle Stimme der winzigen Frau, als sie den dargebotenen Zeigefinger der linken Hand des Königs kräftig mit ihrer ganzen linken Hand schüttelte. „Oh, wie fein, dass du gekommen bist, oh, wie schön!“
Das Wichtmädchen ließ den Finger los und blickte suchend ins Halbdunkel des Flures, wo es Cedrick so genau fixierte, als könnte sie seine Züge trotz der Dunkelheit so genau erkennen, wie am hellichten Tag!
„Wen hast du da mitgebracht?“ lachte die Kleine und ihr drolliges Stimmchen bebte vor Freude. „Ist auch Lalilia hier?“ Erwartungsvoll richteten sich die Augen der winzigen Gestalt wieder auf den knienden König.
„Besser, Ran!“ strahlte der König über beide Ohren und verwies mit einer theatralisch langsamen Handbewegung auf die offenstehende Tür. Das Wichtelmädchen trat neben Greganor und rüttelte ihn mit ihrer Hand am Hosenbein.
„Wer denn?“ fragte ihre helle Stimme.
Jetzt trat Jannick um die Ecke in den in den beleuchteten Türrahmen hervor. Cedrick konnte gerade soviel sehen, dass Jannick versuchte, etwas zu sagen, aber kein Wort herausbringen konnte.
Cedrick blickte Ran an. Die bildschöne Wichtdame war wie vom Donner gerührt, sie stand vollkommen starr keinen halben Schritt von Jannick entfernt. Ihre großen, blau leuchtenden Augen blickten so gebannt wie entsetzt auf Jannick, als könnte, als wollte sie nicht glauben, wen sie vor sich sah!
Mit einem Mal wich alle Farbe aus ihrem Gesicht, sie zwinkerte verwirrt, schwankte und kippte zur Seite.
Greganor fing sie in seiner Hand auf. Er legte sie behutsam auf den Teppichboden und Jannick war sofort bei ihr, nahm ihren Kopf sanft in den Arm und streichelte ihre Stirn.
Die grüne Frau kniete sich auch rasch nieder, tupfte einen Zipfel ihres weiten Gewandes in einer Schale Waschwasser und benetzte damit die Stirn der bewusstlosen Ran.
„Wach auf, mein Schatz!“ der winzige Jannick küsste das Wichtmädchen sanft.
Cedrick traute sich kaum, den Raum zu betreten, so eigenartig fühlte er sich, aber er musste einfach sehen, was vor sich ging. Die schöne Ran schlug jetzt die Augen auf: „Jannick?“ ihre Stimme war schwach und kaum zu hören.
„Ja, ich bin bei dir!“ flüsterte dieser.
In die leuchtend blauen Augen der Wichtfrau schoßen jetzt Tränen und mit einem Schluchzen barg sie ihren Kopf an der Brust ihres Mannes. Von den Worten, die sie von weiteren Schluchzern geschüttelt an seiner Schulter weinte, verstand Cedrick nicht ein Wort, auch das Gesicht des Adepten war nass von Tränen. Plötzlich fasste sich Cedrick, über das kitzelnde Gefühl an seiner rechten Wange überrascht, ins Gesicht und erschrak ein wenig, feuchte Fingerspitzen zu bekommen! Ihm liefen kleine Tränen aus den Augen! Er trat in den dunkeln Flur zurück, wo er unachtsam mit Grasa zusammenstieß, der die Pferde inzwischen wohl angebunden und notdürftig versorgt hatte.
„Alles in Ordnung, junger Mann?“ fragte die klare Stimme des Hageren.
„Ja,“ antwortete Cedrick und spürte, wie unsicher seine Stimme geworden war. Er wandte sein Gesicht von den Menschen, den Wichten und dem grünen Wesen ab. Sein Kopf strahlte eine Hitze aus, dass er sich krank wie im Fiebertraum fühlte.
Er hörte die kleine Ran jetzt laut, von Schluchzern unterbrochen, weinen: „Ich habe mit Tausend Mal vorgestellt, wie du auf einmal in der Tür stehst!“
„Diesmal hat es funktioniert,“ weinte der Adept.
„Lass mich nie wieder so allein!“
„So,“ knurrte die grobe aber gerührte Stimme Greganors jetzt laut über die kleinen Wichtstimmen. „Ihr könnt ja gerne noch etwas auf dem Teppich schmusen, aber ich will jetzt die beiden Kinder sehen!“
„Die Babys schlafen,“ sagte die fremdartige, aber schöne Stimme der grünen Frau. „Gleich hier, hinter der Stellwand, damit die Dunkelheit und Ruhe haben.“
Cedrick wischte sich eilig im Schutz der Dunkelheit die Augen trocken und stolperte fast vor Eile in den kleinen Raum!
Eine mannshohe Stellwand, ein mit violettem Tuch bespannter Holzrahmen, trennte eine Zimmerecke vom Rest des Raumes. Greganor hatte sich wieder erhoben und jetzt sprang sogar die schluchzende Ran wieder auf die Beine, ihren Mann bei der Hand packen: „Wir haben einen Sohn!“ rief ihre kleine Stimme mit einem Mal wieder so klar, wie der Klang einer hohen Stimmgabel.
„Seid leise,“ gebot die grüne Frau und schob vorsichtig den Wandschirm zur Seite, dass der Blick auf einen niedrigen Tisch frei wurde, auf dem zwei unterschiedlich große geflochtenen Kinderkörbe lagen.
Cedrick erkannte zuerst nur Kissen, bis er noch zwei Schritte auf die Babybetten zutrat.
Ran beugte sich jetzt über den kleineren Korb und holte ein winziges Bündel von Baby daraus hervor, kaum größer, als Cedricks Daumen. Die grüne Frau schob jetzt auch ihrerseits die Hände unter das andere Kind und nahm es aus dem Bett.
Cedrick stand der Mund offen. Ein süßes rosa Baby, dem ein Suppenteller als luxuriöse Badewanne dienen konnte und ein anderes Baby mit einer hellen grünen Haut, wie die gerade gesprossen Blätter einer Birke im Frühling! Die Kleinen hatten geschlossene Augen und das Wichtkind wurde jetzt dessen Vater in die Arme gelegt, der so dreinschaute, als wüsste er nicht, wie ihm geschah.
„Das ist Arn,“ lächelte die schöne Ran und wischte sich ihre Tränen aus einem vor Glück leuchtendem Antlitz.
Ein seltsames Gefühl der Rührung ergriff von Cedrick Besitz, als er das winzige Kind beobachtete und das aus dem Schlummer erwachte Wichtbaby jetzt die Augen öffnete! Cedrick staunte, als er dem Kind in die Augen sah: Mal war es, als blickte auf einen blank polierten Halbedelstein, ein Katzenauge, wenn sich die Augenfarbe des Kindes fließend von schwarz, zu braun und gold veränderte. Dann wiederum war es, als blicke er in einen klaren Bergkristall, in dem sich das Licht zu gelb, orange, rot, violett und blau brach!
Der reichlich benebelt aussehende Vater des Babys küsste den Knirps jetzt auf die Stirn. „Hallo, mein Großer, mein Sohn, du hast die beste Mama der Welt!“ stammelte Jannick und Ran legte ihren Arm und seine Schultern und küsste ihn.
„Und wie euer Kind?“ Greganor beugte sich grinsend über das grüne Baby, dass scheinbar einen tieferen Schlaf hatte.
„Es hat noch keinen Namen,“ lächelte die stolze Mutter. „Wir Ansolon geben unseren Kindern erst zu ihrem ersten Lebensjahr ihren Namen!“
„Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ Greganor streichelte mit seinem Zeigefinger über die geballte grüne Faust des Babys.
„Du hast eine Nichte,“ meinte der hagere Grasa glücklich.
Cedrick lehnte sich jetzt gegen eine Wand. Ronjaxil war eine Ansolon, das sagenhafte Volk der fliegenden Menschen aus dem ungangbaren Küstengebirge im Nordenwesten seines Heimatlandes. Ran war eine junge Frau aus dem Wichtvolk! Noch vor einer Viertelstunde hätte er jeden Menschen einen dreisten Lügner gescholten, der jemals einen lebendigen Wicht oder einen Ansolon gesehen  haben wollte!
„Wer von den Kindern ist älter?“ Greganor blickte seinen Bruder an.
„Arn ist fast einen halben Tag älter,“ lächelte Grasa.
„Weniger verwunderlich, wenn man vermuten muss, dass sie auch in der selben Nacht gezeugt worden sind,“ lachte Greganor auf. „Euer Kind hat also schon einen großen Bruder.“
„Du wirst dich wundern, wieviel Wahrheit in deinen Worten liegt,“ Ronjaxil blickte auf das winzige Kind von Ran und Jannick. „Arn wächst schneller, als ein gewöhnlicher Säugling!“
„Was soll das heißen?“
„Arn ist jetzt sieben Monate alt, ist aber in dieser Zeit dreimal so schwer geworden, wie er noch bei seiner Geburt war!“
„Und was soll das bedeuten? Wachsen Wichtkinder schneller?“
„Ich vermute,“ lächelte Ronjaxil, „das Arn schon mit zwei Jahren größer und schwerer als seine Mutter sein wird und sich als kleiner Junge schließlich durch nichts mehr von einem anderen Menschenjungen unterschieden werden kann. Bis auf die unmenschlich großen Wichtaugen womöglich!“
Greganor grinste Jannick an: „Hast du das gehört, mein Alter, Arn wird tatsächlich der große Bruder meiner kleinen Nichte werden!“
Cedrick bezweifelte, das Jannick irgend etwas gehört hatte, Ran und er hatten sich auf dem Tisch niedergelassen - das Kind auf seinen Knien - und die Welt um sich herum ausgeblendet.
Als auch Greganor dies bemerkte, drehte er sich Cedrick zu: „Was sagst du zu dieser Familie? Komm, lass und sehen, ob wir in der Küche was zu Essen finden, sonst glauben wir noch, wir hätten durch den Hunger schon Wahnvorstellungen!“
Grasa zog seine Flache Hand hart über den Hinterkopf seines jüngeren Bruders und lächelte: „Mach bloß, dass du hier herauskommst, sonst setzt es was!“
Greganor drückte den hageren Mann noch einmal: „Ich bin stolz auf euch! Auf euch alle vier, sag das den beiden Wichten, sobald sie wieder aufnahmefähig sind! Du magst zwar ein großer Erfinder sein, Bruder, aber deine beste Errungenschaft wird eure kleine Tochter bleiben. Komme also ja nicht auf die Idee, sie wie einer deiner Entwicklungen Nummer 2372 oder so zu nennen!“
„Verschwinde!“ lächelte Grasa und stieß seinen Bruder unsanft zur Tür hin. „Sucht euch etwas zu Essen und trinken!“
„Ein Erfinder?“ wollte Cedrick wissen, als sie in den finsteren Flur getreten waren.
„Komm, es gibt vieles, dass ich dir erzählen muss. Jetzt, da du alles hier mit deinen eigenen Augen gesehen hast, kann ich dir endlich auch von anderen Dingen berichten, die du Jannick und mir vorher wohl kaum abgenommen hättest! Sei hier willkommen, Cedrick, und fühle dich wie zu Hause.“

                    Perrin:
Perrin schlotterte vor Kälte. Aus dem kleinen Turmfenster hoch über ihm schien helles Sonnenlicht in die große Zelle er konnte förmlich sehen, wie die eisige Luft aus der vergitterten Öffnung in den Turm hinein kroch, um sich wie eine unsichtbare Wolke über dem Zellenboden breit zu machen.
Perrin kauerte mit neun anderen Gefangenen in der Gefängniszelle des mächtigen Schuldturms. Der harte Steinboden war mit einer dichten Schicht Stroh bedeckt, an manchen stellen noch hell und gelblich, an vielen aber auch braun von ihrem eigenen Unrat beschmiert. Einmal in der Woche lediglich durften sie ihre eigenen Exkremente ausmisten und bekamen frisches Stroh für ihre Turmzelle.
Seit einem Jahr saß Perrin nun schon in diesem Gefängnisturm fest, der wie ein Mahnmahl an alle Bewohner Orditals mitten im Stadtzentrum errichtet worden war. Vor dem großen Krieg war ein hoch dekorierter Ritter der Speerspitze gewesen, hatte sich als geschickter Unterhändler einen mehr als respektablen Ruf und ein ansehnliches Vermögen erworben, doch jetzt saß er hier wie ein Stück Vieh in einem Stall in seinem eigenen Dreck. Perrin überlegte sich, welche Jahreszeit fürchterlicher war: der Sommer, in dem es hier in ihrer Zelle schrecklicher stank, als in der Senkgrube eines Plumsklos. Oder der Winter, wo sie sich verzweifelt in ihre verwanzten Decken wickelten, und trotzdem froren, als wären sie ins Eismeer des Nordens getaucht worden.
Seit einem Jahr hatte Perrin die Sonne schon nicht mehr gesehen, denn das Gitterfenster lag so weit über ihren Köpfen, dass sie eine menschliche Pyramide hätten errichten müssen, um hinaus ins freie zu sehen. Seit einem Jahr ernährte er sich von getrockneten Brotresten der örtlichen Bäcker, die man  überhaupt erst kauen konnte, wenn man sie in der Schale Wasser, die ihnen dazu gereicht wurde, eingeweicht hatte! Zwei Mahlzeiten am Tag - morgens und abends Brot mit Wasser - und alle zwei Wochen trugen die Wächter ein paar Eimer Wasser die Wendeltreppen extra hinauf. Diese wurden dann in einen ehemaligen Viehtrog geschüttet, in dem die Häftlinge nacheinander Baden gehen konnten. Beim letzten Bad war das Wasser kaum über dem Gefrierpunkt gewesen und manch einen seiner Mitgefangenen hatten die Wächter mit Waffengewalt zum Bad zwingen müssen.
Alle die hier oben in den Drei Etagen des Schuldturmes saßen, waren ehemalige Mitverschwörer der Adepten gewesen. Zumeist ausgesprochen kluge Persönlichkeiten, die sogar schlau genug gewesen waren, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen, bevor man ihrer Habhaft werden konnte. Erst durch Verrat aus den eigenen Reihen, oder durch das Netz der- von dem ermordeten Lord Erchanger ins Leben gerufenen - Geheimorganisation waren sie gefasst worden. Verratene Verräter saßen hier, gebildete Köpfe und ehemals hohe Würdenträger und Offiziere der Speerspitzen Ritter. Blickte Perrin sich jetzt in dem dunklen Turmzimmer um, sah er nichts als verlauste, stinkende und ausgemergelte Gestalten mit verfilzten Haaren und schmutzigen Gesichtern. Er war froh, dass er sich selbst nicht ansehen musste, der Anblick hätte ihm wahrscheinlich tief getroffen.
Die ersten Monate der Gefangenschaft hatte er eine Art Reue verspürt, für die Menschen, die durch sein Zutun den Tod gefunden hatten. Es war die Art Reue, die wohl ein Kind verspürt, dass etwas gestohlen hat und dafür brutal mit einem Rohrstock auf Hintern und Finger geschlagen worden war.
Keine tiefe Reue, die von Herzen kommt, weil man seine Tat als falsch anerkennen würde, sondern eine Reue über den Schmerz, den man hätte vermeiden können, wenn man gesetzestreu geblieben wäre. `Oder sich einfach nicht hätte erwischen lassen,´ fügte er für sich im Geiste hinzu, denn dies war die Überlegung in den Monaten danach gewesen. Was hätte er besser machen müssen, um jetzt mit dem bereits verdienten Geld ein bequemes Leben zu führen?
Perrin beneidete die Kopfgeldjäger seines zersprengten Ordens! Als die Ritter der Speerspitze noch existierten, hatte er lange Zeit ein Kopfgeldjäger werden wollen, war aber schon zu früh zu wichtig gewesen, um für diese langwierige Ausbildung entbehrlich gewesen zu sein. Er hatte zwar nicht schlechter Verdient, als die besten Kopfgeldjäger, aber sein Gesicht war dafür vielen bekannt. Nicht etwa wie die der Kopfgeldjäger, die schon während der Pubertät nur noch mit verhüllten Gesichtern herum liefen! Nichteinmal ihre eigenen Ausbilder kannten bald ihre Gesichter mehr. Erst recht nicht die Handlanger, welche die Kopfgeldjäger auf ihren Aufträgen mitnahmen oder anwarben. So gerieten sie nie in Gefahr, verraten zu werden. `Womöglich war nicht einer dieser beneidenswerten Meuchler gefasst worden,´ sann Perrin übellaunig vor sich hin.
Perrin selbst war verraten worden, von einem unbedeutenden seiner Gefolgsleute, der sich Haftmilderung davon versprochen hatte, den Namen seines kommandierenden Ritters preis zu geben.
Seine Zähne klapperten und er versuchte sich vergeblich noch enger in die beiden schmutzigen Decken zu wickeln, die neben der leinenen Gefängniskluft das einzige waren, dass sich zwischen seiner Haut und der Eiseskälte in der Zelle befand. Kopfgeldjäger wie Felbat oder Arminius waren bestimmt nicht diesen verfluchten Eisenmäntel Rittern oder anderen Soldaten einer Miliz in die Hände gefallen! Perrin hingegen sah schon auf fast dreizehn Monate Turmhaft zurück und noch hundertacht weiteren Monaten entgegen. Zehn Jahre Wasser und Brot, nur weil er ein führender Verschwörer in der Sache der Adepten gewesen war! Nicht einen einzigen Menschen hatte er selbst getötet, nicht einen echten Mord begangen! Er hatte nur die Fäden gezogen, die Vergewaltigungen, Folterungen, Brandschatzungen und Morde organisiert, reine Denkarbeit und Diplomatie also. Perrin sah folglich nicht ein, was ihm deshalb eine derart lange Haftzeit einbringen sollte, länger noch, als hätte er einen Totschlag begangen!
Schwere Schritte auf der Wendeltreppe wecken ihn aus seinem düsteren Tagtraum. Es waren nicht die Schritte einer ihrer Wächter: Wer so viel Zeit hatte, sich mit allem zu beschäftigen, wie Perrin, bemerkte und merkte sich sogar solch banale Dinge, wie die Art ihrer Wächter, zu gehen!
Die Schritte näherten sich der Tür zur dritten und letzten Etage des Turmes, über ihnen kam nur noch der Dachfirst. Statt vor der schweren Eichentür halt zu machen, um den Zellenschlüssel vom Gürtel zu nehmen, ihn ins Schloss zu stecken und herum zudrehen, verringerte die Person ihre Schritte vor der Tür nicht. Der Riegel des Türschlosses zerbrach wie ein vertrockneter Ast, als die Tür zum Turmzimmer einfach aufgestoßen wurde. Ein hünenhafter Mann in feinster Kleidung trat in den Raum ein, verschränkte seine Arme und musterte Perrin und die anderen Insassen der Reihe nach.
„So, so,“ blitzende weiße Zahnreihen wurden jetzt in dem von Dunkelheit verborgenen Gesicht sichtbar. „Hier befindet sich also die Elite des Abschaumes aus der Zeit, vor dem großen Krieg!“
„Was wollt ihr?“ murrte die Stimme eines Mitgefangenen.
„Habe ich dich etwas gefragt, oder warum richtest du das Wort an mich? Wie ist dein Name, Häftling?“
„Korban, wenn es beliebt!“
„Tut es nicht!“ Der Hüne blickte wieder in die Runde. „Wer von euch Figuren ist Perrin, Hauptmann und Diplomat der Speerspitzen?“
„Ich, Sir!“ Perrin kämpfte sich eilig und mühsam aus den Decken hervor, um nicht wie die anderen einfach weiter auf dem dreckigen Stroh herum zu liegen.
Der breitschultrige Riese musterte ihn eingehender, ehe er brummte: „Sehr schön! Ich las in deiner Akte nur gutes über dich! Vielleicht wirst du dich auch in Zukunft als sehr nützlich erweisen!“
„Was wollt ihr?“ murrte jetzt Hilgar, ein anderer Gefangener.
„Hört,“ knurrte die tiefe Stimme des hühnen jetzt, „wer mich unterbricht, stirbt! Ihr redet nur, wenn ich euch frage!“
Tatsächlich machte sich tiefe Stille in ihrer verdreckten Zelle breit. Dieser Riese war unbewaffnet und keiner ihrer Wächter, sprach aber mit solch kalter Nüchternheit, dass niemand von ihnen an der Gewichtigkeit seiner Drohung zweifelte. Der Riese sprach, dachte sich Perrin, wie einstmals ein Adept!
„Ich brauche ein paar Männer, die führende Aufgaben in der Regierung und Verwaltung für mich übernehmen. Erfahrendes Personal mit bedingungsloser Treue zu mir, dass ist alles. Ihr kommt aus diesem stinkenden Dreckloch heraus, bekleidet wieder hohe Ämter und aufgaben, eurem Bildungstand und euren Fähigkeiten entsprechend und werdet dafür fürstlich belohnt. Ihr stellt keine Fragen, sondern folgt nur meinen Anweisungen. Wer mit diesem Angebot leben kann, stehe auf!“
So schnelle hatte Perrin die anderen noch nie aufspringen sehen! Auch auf die Gefahr hin, dass jemand nur einen groben Spass mit ihnen treiben sollte, selbst die schmalste Hoffnung, dass ein Körnchen Wahrheit in den Worten des Riesen liegen mochte, ließ wieder Kraft in die verkümmerten Beine der Gefangenen schießen.
„Schön!“ der Mann grinste noch ein wenig breiter, und jetzt erkannte Perrin, dass sie im Schatten verborgenen Augen des Hünen kurz blau aufleuchteten. Ihm gefror das Blut in den Adern und er fror noch heftiger, als ohne seine Decken ohnehin schon: Er hatte Recht gehabt, der Mann war ein Adept.
„Ich will mich kurz vorstellen, ehe wir diesen Turm hier verlassen,“ lächelte der Hüne. „Mein Name ist Tobaskar, wenn ihr mich anredet, werdet ihr mich `mein Herrscher´ nennen. Ihr wisst inzwischen einiges über die Kräfte der Adepten, ich bin ihnen ähnlich und doch nicht mit ihnen zu vergleichen. Mich kann man nicht im Schlaf niederstechen, vergiften oder erschlagen, ich bin unverwüstlich!“
Der Riese machte eine Pause und die glänzenden Zahnreihen verschwanden, als er mit ernstem Ton weiter sprach: „Vielleicht habt ihr von der Kreatur erzählt bekommen, die Avarien Verwüstet? Es ist meine Kreatur und nur von mir zu bändigen. Soll das Land nicht bis kein Stein mehr auf dem anderen Steht von ihr heimgesucht werden, wird man mich als Herrscher annehmen müssen. Ihr werdet meine Handlanger werden und meine Befehle bedingungslos ausführen. Ihr und meine anderen Untergebenen bekommt das Ritterheer der Eisenmäntel, die Polizei, die Zeitungen und die Verwaltung unterstellt. Versagen oder Befehlsverweigerung auf euere Seite wird es nicht geben! Wer sich mir unterwirft, trete einen Schritt vor.“
Niemand blieb auf der Stelle stehen und Perrin schlug das Herz bis zum Hals: er würde wieder frei sein!
„Gut,“ sagte der Hüne jetzt und schubste mir seiner Hand einen fetzen Luft von sich fort, womit krachend ein mannshohes Loch in die einen Schritt dicke Mauer des Turmes gebrochen wurde. Die schweren Grauwackesteine fielen polternd in den Hof tief unten, Licht und Winterkälte strömte in das Turmzimmer. „Korban, komm her zu mir!“
„Jawohl, mein Herrscher!“ antwortete dieser und trat vor Kälte schlotternd und mit verunsichertem Blick auf den Hünen Tobaskar zu.
„Und merkt euch eins,“ lächelte der Riese jetzt. „Ihr seid ersetzbar!“
Die Hand des Riesen fuhr so einfach in den Unterleib Korbans, als hätte er in einen Topf Grütze gefasst. Korban schrie auf, als Tobaskar aus dessen Eingeweiden etwas hervorzog, dass wie das Ende des Darms aussah.
„Halt das!“ befahl der Hüne Perrin und er packte das blutige Stück Dickdarm schneller, als er überhaupt darüber nachdachte, was er da tat! Tobaskar packte den unglücklichen Korban nun am Kragen und warf ihn durch das Loch in der Mauer, als wöge der Mann soviel wie ein Knüppel Holz.
Der herzerweichende Schrei des stürzenden Korban fuhr ihnen in Mark und Bein, als dieser den Turm hinabstürzte und sich dessen Darm abrollte, wie von einer Spule. Das dumpfe Geräusch des aufschlagenden Körpers klang schließlich zu ihnen hinauf, aber der die gequälten Schreie des Mannes erzählten ihnen, dass er noch lebte und welche Schmerzen er in seinen letzten Augenblicken erlitt.
„Lass los!“ grinste der Hüne Perrin jetzt an. Als er in die brutalen, blauleuchtenden Augen des Hünen sah, ließen Perrins Finger den warmen blutigen Darm betäubt von ganz allein los.
„Wer mich von euch in Zukunft unzufrieden macht, wird freilich nicht so viel Glück haben, wie dieser Tölpel. Mehr ist im Augenblick nicht zu sagen! Folgt mir, Schergen!“
Der Riese wandte sich ohne ein weiteres Wort der Tür zu und steig die Treppen hinab. Die anderen Gefangenen folgten ihm schweigsam. Perrin sah auf seine blutverschmierte Rechte, ehe er sich als letzter in Bewegung setzte. Die Schreie aus der Tiefe waren leiser geworden. Jetzt hatte er zum ersten Mal an einem Mord selbst mit Hand angelegt. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.

                        Ran:
In dieser Nacht war der erste Schnee des Winters gefallen, und als Ran schlaftrunken erst gegen Mittag aus dem Fenster sah, breitete sich vor ihr eine Lichtung in weißer Pracht aus. So tief hatte sie nicht mehr geschlafen, seit der Geburt ihres Kindes! Sie hatte sich dicht an Jannicks Brust gekuschelt und wann immer ihr Sohn zu schreien angefangen hatte, war ihr Mann aufgestanden, um den kleinen Arn wieder in den Schlaf zu wiegen.
Von einem auf den anderen Tag hatte sich ihr Leben wieder einmal grundlegend geändert und auch die veränderte Schneelandschaft trug noch zu diesem surrealen Gefühl bei, dass sich ihrer bemächtigt hatte! Es war wie ein Traum, ein schöner Traum, aus dem sie nicht mehr erwachen wollte! Sie schlüpfte wieder in ihr Bett, in dem ihr Liebster noch tief schlief. Nicht nur, dass er in der Nacht nicht viel geschlafen hatte, auch war es für Jannick extrem Kräfte zehrend, in seiner Wichtgestalt zu verharren, dass er viel mehr Schlaf brauchte, seine Kräfte zu regenerieren! Sie strich ihm durch sein helles Haar und lächelte ihn verträumt an. Ein Jahr lang hatte sie von seinem Tod gewusst und ein Jahr lang hatte sie jeden Tag an ihn gedacht und es nicht glauben wollen! Sie küsste seinen schlafenden Mund.
„Wohin du auch gehen wirst, ich werde das nächste Mal mit dir kommen, ich will nie wieder so allein sein!" flüsterte sie ihm zu.
Ran kletterte über Jannick drüber um nach ihrem Sohn zu sehen, der in seinem Kinderbett fest schlummerte. Jetzt hatte sie eine Familie, lächelte Ran und streichelte auch ihrem Kind über die hohe Babystirn und die vollen rosa Wangen. Ronjaxil hatte recht mit Arns Wachstum, was Ran nicht wenig bedauerte: Ihr Sohn wuchs zu schnell und sie würde ihn in einem Jahr schon nicht mehr auf ihren Armen tragen können. Auch musste Ronjaxil ihr Baby schon stillen, Ran war jetzt schon oft eine Zuschauerin geworden, was, wenn Arn erst ein Kleinkind sein würde? Wie sollte sie damit umgehen? Würde Arn sie mit seinem Kinderverstand als seine Mutter überhaupt annehmen können, die doch viel kleiner war als er?
Ran schob diese müßigen Gedanken beiseite: Sie wollte jetzt nicht über solche Dinge nachdenken! Sie hatte ein Jahr ihrer Beziehung verloren und ihr Stundenlanges Gespräch mit ihrem Mann hatten ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft mit ihm nicht annähernd erfüllt, eher nur Appetit auf immer mehr gemacht! Es war keine einfache Zeit hier bei Grasa und Ronjaxil gewesen, obwohl Ran in der Ansolon eine beste Freundin gefunden hatte. Sie hatten ihre Kinder gemeinsam bekommen und sie gemeinsam gehegt und gepflegt, sie beide waren fern von ihrer Heimat und Fremde in dieser Welt der Menschen, sie waren sich so ähnlich, wie eine Ansolon und ein Wicht sich ähnlich sein konnten. Wie oft hatte Ronjaxil sie getröstet, wenn sie in einsamen Momenten Halt gesucht hatte? Wie oft hatte Ran ihre Freundin getröstet, wenn sie Heimweh bekommen hatte oder sich von ihrem Mann unverstanden fühlte. Grasa war nicht etwa herzlos oder kühl, aber dieser geniale Kopf verstand nicht viel von Umgangsformen und von Frauen, dass hatte Ran schnell erkennen müssen, verstand er so wenig, wie ein Kuckuck vom Kinderaufziehen. Wenn Greganors Bruder an einem neuen Projekt arbeitete, war er unaufhörlich an der Arbeit, las mehrere Bücher gleichzeitig, beschrieb Stapelweise Papier mit Formeln und Skizzen und war nur unter Überredung, dazu zu bringen, kurze pausen einzulegen, um etwas Nahrung zu sich zu nehmen! Zu Ronjaxils Unglück arbeitete Grasa ständig an neuen Projekten, so dass der Haussegen oft schief hing, wenn Grasa sich wochenlang in seinem Labor verschanzt hatte, um eine Neue Erfindung zu perfektionieren.
Wenigstens arbeitete der rastlose Erfinder jetzt an einem Projekt, dass sie bald in Richtung des Wettersteingebirges reisen lassen würde, ins Reich der Ansolon! Ran hatte die Pläne im Labor gesehen und bewundert! Sie selbst war schon mit Grasas Luftschiff geflogen, sonst hätte sie diese ambitionierten Plane wahrscheinlich kopfschüttelnd als Mumpitz eingestuft: Es waren fliegende Festungen, von Fesselballons getragen, die Ran auf den Skizzen erkannt hatte.
Sie sollten den Ansolon dienen, Lasten zu transportieren, was in ihrem Land sonst nur über Winden und Flaschenzüge gelang, denn das Wettersteingebirge war so bizarr und ungangbar, dass normale Transportwege nicht existierten. Ronjaxil hatte ihr viel über ihre Heimat erzählt und je mehr Ran gehört hatte, desto beeindruckter war sie gewesen. Die neuste Skizze von Grasa zeigte einen quadratischen Ring, der an jeder Ecke von einem Ballon getragen wurde und in dessen Mitte sich Kräne und Winden befanden, um Lasten vom Boden aus in die Luft zu hieven! Bauen konnte Grasa diese fliegende Plattform selbstredend nicht, aber die Ansolon würden sie bauen, sobald sie sie in ihre grünen Finger bekommen würden. Ran lächelte, sie hatte erst so wenig von der Welt außerhalb des Wichtreiches gesehen und wünschte sich nichts sehnlicher, als bald wieder zu reisen, ihr angeborener Wissensdurst wollte mit mehr gestillt werden, als nur mit Büchern, so zahlreich Grasa auch über sie verfügte!
„Guten Morgen, mein Schatz!“ murmelte die so vertraute und doch so fremd gewordene Stimme ihres Geliebten aus ihrem Bett.
Ran kniete sich wieder an ihr Bett und nahm Jannick ganz fest in den Arm: „Es tut so gut, deine Stimme zu hören, Schatz! Guten Morgen!“
„Wie geht es dir?“
„Mir?“ Ran lächelte ihn an und wahrscheinlich leuchteten ihre Augen jetzt in einem noch helleren blau, als die müden Augen Jannicks! „Das kann ich nicht sagen!“ Sie küsste ihn fest auf den Mund. „Ich bin mir noch gar nicht klar, was ich fühle!“
„Aber ich kann dir sagen, was ich fühle!“ Ihr Liebster rappelte ich auf und rutschte neben ihr auf die Bettkante: „Ich bin so glücklich, bei dir zu sein, dass ich dich dringlich bitten muss, mich nicht zu zwicken, damit ich nicht noch aufwache!“
Ran strahlte ihn an, nachdem sie so lange getrennt gewesen waren, fühlte sie sich, wie frisch in ihren Mann verliebt, vielleicht war es dieses Gefühl, was sie im Moment so durcheinander brachte, weil es so ungewohnt war! Tatsächlich hatte sie wieder die Schmetterlinge im Bauch, wie in den ersten Tagen nachdem sie Jannick kennengelernt hatte.
„Komm, Schatz!“ lächelte sie und nahm ihn bei der Hand, „wir sind spät dran, wenn wir noch etwas vom Frühstück abhaben wollen, müssen wir uns sputen!“
Jannick erhob sich, ohne die Augen von ihr zu wenden. Auch er schien ein wenig durch den Wind zu sein, als er dann doch kurz in Arns Kinderbett schaute. „Ist unser Sohn nicht bildschön? Ganz wie seine Mutter!“
„Nun komm schon!“ verlangte Ran unter heftigem Magenkribbeln und zog an Jannicks Hand. „Vielleicht hat Ronjaxil sogar ein warmes Frühstück für uns zubereitet!“
„Können wir Arn nicht mitnehmen, ich bin auch ganz vorsichtig und wecke ihn nicht auf!“
Sie küsste ihrem Mann fest auf die Wange: „Du kommst jetzt schön mit, lass den Kleinen schlafen! Arn hatte dich die ganze Nacht über, jetzt bin ich an der Reihe!“

„Wie kannst du nur so herzlos sein!“ Heiße Tränen perlten Rans Wange hinab, als sie Jannick ungläubig ansah.
Ihr Liebster hingegen blickte mit rot leuchtenden Augen zornig in Greganors Richtung: „Deine Taktlosigkeit ist wirklich kaum noch zu überbieten, Greganor!“ zischte er.
„Du platzt hier Gestern herein, und heute willst du einfach wieder abreisen?“ Ran wischte sich mit ihrem Ärmel über ihr tränennasses Gesicht, als Jannick sie in die Arme nahm.
„Nein, Ran, lass mich erklären, was dieser Tölpel gemeint hat!“
„Ich hab doch nur...!“ verteidigte sich Greganor aber ein weiterer Blick ihres Liebsten, brachte ihn zum Schweigen. Jannick strich ihr behutsam durch ihr langes Haar.
„Ran, vieles wollte ich gestern nicht ansprechen, über dass wir heute unbedingt reden müssen, es tut mir nur Leid, dass dieser Trampel wieder die Geschichte mit ihrem Ende begonnen hat, anstatt ein wenig Rücksicht zu nehmen!“
„Du willst also wirklich heute fort?“
„Nein, nicht heute! Ich bleibe!“ Er küsste ihre Stirn. „Ran, du hast doch sicher in deiner Heimat so ziemlich alles an Geschichtswerken durchgearbeitet, bevor du dich auf deine Streifzüge in unsere Welt gemacht hast, nicht wahr?“
Ran wischte sich erneut die Augen trocken und setzte sich wieder aufrechter auf dem Kissen hin. In der kleinen Küche des Hauses saßen Jannick und sie auf einem Polsterkissen, dass Ronjaxil auf dem Esstisch plaziert hatte. Um sie herum saßen die anderen auf gewöhnlichen Stühlen, dass alle fünf in etwa die selbe Augenhöhe hatten. Über dem offenen Herdfeuer hing an drei Ketten ein großer Kessel mit einem Linseneintopf, der mit seinem herzhaften Duft den ganzen Raum erfüllte. Ran blickte Jannick fragend an, und versuchte sich vorzustellen, wieso er plötzlich von ihr wissen wollte, was sie in ihrer Heimat an Historischen Werken gelesen hatten. Eine Ablenkung würde er nicht sein, dafür kannte sie ihren Liebsten zu gut. „Ja, ich habe alles, was mir interessant schien, gelesen!“ antwortete sie schließlich mit fragendem Blick.
„Schatz, kannst du dich erinnern etwas über die Frühzeit unseres Kontinents gelesen zu haben? Unsere Menschliche Geschichtsschreibung, musst du wissen, reicht nicht über die letzten dreitausend Jahre zurück, alles davor liegt völlig im Dunkeln!“
Ran überlegte rasch: „Unsere Überlieferung reicht noch etwas weiter zurück, aber vieles sind auch nur Vermutungen. Spekulationen über die Anfänge unserer Kultur und dergleichen, die so abenteuerlich klingen, dass man nur vermuten kann, was davon ersponnen ist und was auf wirklichen Erkenntnissen fußt!“
„Die Zeit die mich brennend interessiert,“ Jannick lächelte sie mit blauen Augen an, „ist die Zeit der großen Völkerwanderungen, die Eiszeit, als die Barbaren angeblich vom Kontinent im Osten über die Eisbrücken kamen, die Ansolon vom Kontinent im Westen und die Kimbern ganz Kimbernia bevölkerten!“
„Ja, dass ist auch die Zeit, von der die Legenden erzählen, dass die ersten Wichte in dem `Mittelgebirge´ wie ihr es nennt, ihre Siedlungen errichteten.“
„Was ist mit der Zeit davor? Gibt es keine Legenden, woher dein Volk kam? Die Barbaren kamen aus dem Norden, die Kimbern waren ein kleines Volk aus Loriélien, aber woher stammen die Wichte?“
Ran zog ihre Stirn kraus und überlegte, es war lange her, dass sie in den Bibliotheken in der Kaiserstadt Guadelour unter dem Mittelgebirge ihr Unwesen getrieben hatte, sie war noch nichteinmal Volljährig gewesen. Sie sah sich in den endlosen Gängen voller muffiger dicker Bücher mit speckigen Einbänden, deren Seiten nicht selten vergilbt oder klebrig waren, von den unzähligen Jahren oder Fingern, die sie gezeichnet hatten. Nur ein einziges Mal hatte sie einen Band mit Sagen und Märchen aus den Anfängen der Zeitrechnung vor sich liegen gehabt und jetzt versuchte sie sich daran zu erinnern, welch abstruse Geschichten sie dort gefunden hatte!
„Mmh, es gibt eine Legende darüber, dass wir Wichte einst viel größer waren, groß wie Menschenkinder etwa und dass sich unser Volk noch selbst noch nicht als Wichtvolk bezeichnet hat!“
Ran blickte in die Runde, aber außer in Greganors und Jannicks Miene fand sie bei den anderen dreien eher Fragen nach dem Zweck ihrer Antworten, als Neugier auf ihr Wissen.
„Sprich weiter, Schatz,“ bat Jannick sie.
„Die Legende erzählt,“ erinnerte sich Ran, „von einem zahlenmäßig kleinen aber an Statur größerem Volk, als wir Wichte es jetzt sind. Wir lebten, wie auch heute, eher für uns allein irgendwo oben im Norden, wo es damals angeblich noch in jedem Berg warme Thermen und jedem Tal heiße Quellen gegeben hat. Auch berichtet die Sage, dass wir noch mehr Kräfte besessen hätten, als unsere Illusions- und Wandelkräfte. Kräfte, die denen der Adepten nahe kamen!“
„Dieses Volk hat also in den Gefrorenen Bergen gelebt?“ Greganor lehnte sich weit über den Tisch zu Jannick und ihr hinüber.
„Ja, überall dort, wo sie heißes Wasser aus den Bergen fanden und sich ansiedeln konnten. Zumeist lebte dies sagenhafte Volk, von dem wir abstammen, unterirdisch in unzugänglichen Städten, ganz wie wir Wichte es heute wieder tun! Es gab auch angeblich Kriege mit den Menschen, die sich schon damals in Kimbernia ausbreiteten. Ja,“ Ran lächelte jetzt verschmitzt, „diese Legenden sind schon voll von wilden Geschichten, die sich bestimmt ein paar Großmütter und Großväter für ihre Enkel ausgedacht haben! Märchen von diesem Adeptenvolk, oder wie man es nennen will, Märchen von Sharingan und Drachen...“
„Drachen?“ blafften sie Jannick und Greganor wie aus einem Mund plötzlich an, dass Ran erschrocken zurückfuhr.
Ran starrte ihren Liebsten erschrocken in die braunen Augen: „Warum? Was ist damit? Wieso siehst du so betroffen aus?“
„Ran, bitte,“ Jannick legte seine Hand auf ihre. „Weißt du etwas über diese Drachen und Sha...“
„Sharingan?“ Ran dachte angestrengt nach. Sie fragte sich wieso diese Märchen plötzlich so wichtig für die beiden waren. „Sharingan und Drachen sollen fliegende Kreaturen gewesen sein, die sich unablässig Kämpfe geliefert haben, bis sie sich zu einem Frieden geeinigt hatten und dann für immer von der Bildfläche verschwanden! Mächtige Wesen, manche nicht größer als ein Hund, andere hoch wie ein Turm! Sie alle konnten Feuer speien und waren ziemlich Intelligent, schlauer noch als Wichte...oder Menschen und Ansolon,“ fügte sie schnell noch hinzu, um niemanden im Raum zu übergehen.
Jannicks Anblick erschreckte sie, denn seine braunen Augen hatten längst das tiefe Schwarz der Besorgnis oder Trauer angenommen. „Glaubst du etwa, dass an diesen Märchen etwas dran ist? Ist etwas geschehen,“ fragte ihn Ran verwirrt.
Jannick schwieg bedrückend lange und auch sonst machte niemand in der engen Küche den Mund auf, dass die einzigen Geräusche vom Prasseln der Herdflammen herrührten. „Ran,“ Jannick blickte ihr jetzt durchdringend in die Augen, „Hast du irgendeine Vorstellung davon, wo genau dieses `Adeptenvolk´ gelebt hat oder wie sie die Eingänge zu ihrem Reich gefunden haben?“
„Wo genau weiß ich nicht, aber wenn sie unterirdisch gehaust haben, dürften die Zugänge nicht sehr schwer zu finden sein. Zumindest nicht für einen Wicht wie mich, schließlich wissen wir, worauf wir zu achten haben!“
Ran fühlte sich plötzlich fest in den Arm genommen: „Ich wusste, dass du mit uns kommen würdest!“
„Ihr verlasst uns also doch?“ Ronjaxil blickte jetzt Greganor an.
„Was soll das heißen?“ fragte Ran bestürzt und befreite sich aus Jannicks Umarmung.
„Liebling,“ Jannick nahm ihre beiden Hände in seine, „In Avarien wütet ein Drache, gerufen von einem anderen Adepten, der mir allein schon weit überlegen ist! Wenn wir keine Unterstützung finden, werden dieser Mörder und seine Kreatur vermutlich alles vernichten, was ihnen ein Dorn im Auge ist. Wie immer sein oder ihr gemeinsamer Plan sein mag, wir müssen etwas gegen sie unternehmen!“
Ran wollte ihre Hände aus Jannicks zurückziehen, aber er hielt sie fest in seinen. „Unser Sohn...“ begann sie mit wild pochendem Herz, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
„Arn kann bei mir bleiben,“ meinte Ronjaxil angepannt: „Wenn es so ist, wie Jannick sagt, befinden wir uns langfristig alle in Gefahr! Ich werde für Arn sorgen, bis ihr zurück seit, Ran! Du weißt, es wird deinem Schatz bei mir an nichts mangeln!“
Ran schossen wieder Tränen in die Augen, als sie ihren Liebsten im hilflosen Zorn anblickte: „Manchmal wünschte ich, ich wäre dir nie begegnet!“
„Du bist mehr, als nur mein Glück, Ran!“ lächelte Jannick sie an: „Du bist das Glück ganz Kimbernias!“

Es war schon tiefste Nacht, als die drei Männer ihre Pferde über den Schlosshof führten und Greganor nach einem Stallburschen rief. Ran hatte sich in ihren Schlafsack mitten auf Jannicks Schoß gekuschelt, und ein wenig gedöst. Als sie jetzt von Greganors Rufen erwachte, war sie putzmunter, wie nach einer ausgiebigen Mittagsruhe. Eine dicke Schneeschicht bedeckte den ausgedehnten Schlosshof, der sich über die ganze Länge des Hauptgebäudes erstreckte. Hier und da verliefen Spuren von Hufeisen und Wagenrädern Kreuz und Quer durch den Schnee, aber gerade nur so viele, dass der Schnee vermutlich erst seit den frühen Nachmittagsstunden in Gnossas liegen konnte. Überhaupt hatten sie ein unverschämtes Glück gehabt vor der Kaltwetterfront her zu reiten. Meistens waren sie in dichtem Schneetreiben aus den Dörfern und Städten geritten, in denen sie Rast gemacht hatten, um wieder durch grüne Gebiete zu kommen, in denen nur vereinzelte weiße Flecken in Licht- und Windgeschützen Stellen davon erzählte, dass überhaupt schon Schnee gefallen war.
Kaum, dass Ran aufgestanden war, spürte sie die schneidend kalte Nachtluft. Der Himmel über ihnen war klar und das Licht der beiden Monde wurde von der dichten weißen Schneedecke über der Hauptstadt so stark reflektiert, dass die Nacht gar nicht richtig dunkel wurde!
„Mir ist kalt,“ rief sie zu ihrem Liebsten hinauf, der daraufhin seinen Reisemantel ein wenig lüftete, dass sich Ran in eine Falte davon wickeln konnte, wie ein Theaterschauspieler sich in den Bühnenvorhang.
„Ob Lalilia wohl noch wach ist?“ fragte sie aufgeregt in die Höhe.
„Spielt das eine Rolle?“ lächelte Jannick, „Greganor wird sie dir schon zu unserer Ankunft wecken!“
Ein müde dreinblickender Junge mit Fackel in der Hand, der Stallbursche der Nachtschicht, kam jetzt aus dem Wachhaus bei den Ställen hervor, um nach dem Rechten zu sehen.
Greganor war schon aus dem Sattel in den Schnee gesprungen, ehe der Junge in Sichtweite war: „Hier, Junge, versorge unsere Pferde und lass sie morgen an die Helmer Ställe zurückgehen.“
„Wer seid ihr, Fremder?“ verlange die hohe Knabenstimme zu erfahren, als er die Fackel senkte, um das Gesicht zu erkennen.
„Ein Freund des Königs,“ grinste Greganor und drückte dem Stalljungen eine ganze Silbermark in die Hand: „Dass es den Tieren an nichts fehlt, hörst du?“
„Jawohl, mein Herr!“ sagte der Bursche verwundert, nahm aber ohne Widerworte die Zügel entgegen.
„Darf ich dich wieder zu meiner Brusttasche hochheben?“ wurde Ran jetzt flüsternd von ihrem Liebsten gefragt. Ran hüpfte, anstatt zu antworten, nur wieder auf Jannicks Handfläche und schwang sich von dort, wie über eine Gartenmauer, in dessen gepolsterte Brusttasche.
Jannick wandte sich jetzt an Cedrick: „Suchst du dir ein Gasthaus und stößt morgen gegen Mittag wieder zu uns?"
Der Junge nickte ihnen zu: „Gute Nacht!“
„Er spricht nicht viel, nicht wahr?“ flüsterte Ran zu Jannick hinauf, ehe sie Cedrick dabei zusah, wie er sein Pferd wendete und weiter in die Innenstadt traben ließ.
„Nein,“ stimmte Jannick zu. „Nein, aber seit wir bei euch in Kantila waren redet er vier mal so viel wie vorher!“
Ran steckte sich ihre Haarspangen zurück ins Haar, die sie zum Schlafen herausgenommen hatte. Jannick und sie hatten sich über so vieles zu unterhalten gehabt, dass kaum anderen Menschen oder Themen zur Sprache gekommen waren. Jetzt, nach einer harten Reisewoche im Sattel hatten sie sich annähernd über alles ausgesprochen, was sie beide in dem vergangenen Jahr erlebt und erlitten hatten.
Jetzt beschäftigten Ran auch wieder andere Personen, und als sie dem jungen Greifenritter nachsah, spürte sie Mitleid mit ihm.
Sie schüttelte den Gedanken aber schnell wieder ab, denn die Freude ihre alte Freundin und liebstes Opfer ihrer spitzen Zunge wieder zu sehen, überwog bei weitem andere Gefühle.
„Liebling,“ lächelte sie zu dem ernsten Gesicht über ihr. „Wie ist Lalilia denn die Königswürde so bekommen?“
Jannick musste jetzt doch lächeln, als er schalkhaft zu ihr auf seine Brusttasche hinab schaute: „Sie ist älter geworden!“ Ran warf ihm ein Handküsschen hinauf.
Bald durchquerten sie auch schon die Pforte zum inneren des Schlosses, nachdem Greganor endlich einen Bediensteten gefunden hatte, der seinen König auch ohne dessen majestätisch schwarzen Vollbart erkannte. Und wenig später standen schon sie im Privatgemach des Königspaares, in dem Greganor zielstrebig auf ein Himmelbett zusteuerte, um dessen Vorhänge zurück zu ziehen. Ran wunderte sich, wie gut sich Greganor in dem für ihn stockdunklem Raum zurechtfand, schließlich hatte er nicht die Augen eines Adepten oder Wichtes. Jannick und sie konnten alles im Zimmer so hell sehen, wie am Tag, nur dass es kein Farbspektrum gab: alle Gegenstände erschienen grün.
Ran fragte sich, ob Greganor wohl öfter des Nachts im Zimmer herum schlich, dass er sich so elegant um alle Hindernisse herum bewegte.
Zuerst hörte Ran aus dem inneren des Himmelbettes nur ein leises Murmeln, aber schon Augenblicke später wurde daraus ein noch verschlafener aber eindeutig scharfer Schrei: „Greganor, du Schuft, du...“
„Pscht! Jannick und Ran sind hier im Zimmer!“ flüsterte der Angesprochene.
Das nächste, was Ran hörte, war das helles Klatschen einer Ohrfeige.
„Wir sprechen uns noch!“ zischelte Lalilias geflüsterte Stimme, ehe sie Greganor aus dem Schutz der Himmelbettsvorhänge ins Innere des Gemaches folgte. Sie trug einen seidenen Nachtrock und tastete nun im Dunkeln nach der Kerze auf ihrem Nachttisch. Ran blickte nur auffordernd zu Jannick auf, dass dieser schließlich lächelnd mit dem Finger schnippte und alle Kerzen im Raum im gleichen Moment in Brand steckte.
Lalilia musste zunächst zwinkern, kam dann aber auf sie zugeeilt und Ran hüpfte aus Jannicks Tasche auf den Fußboden, stieß sich kurz ab um dann mit einer Punktlandung auf der Schulter ihrer Freundin zu landen. Sie schlang die Arme um den Hals der Königin.
„Ran, wie schön, dass du hier bist!“
„Auch schön, dich zu sehen!“ grinste Ran und hüpfte auf die angebotene Handfläche Lalilias, von wo aus sie ihre Freundin genauer in Augenschein nehmen konnte!
„Wollen wir nicht auf die Dachterrasse gehen, ich hole dir nur rasch einen Mantel!“ fragte Greganor seine Frau. „Hier drinnen ist es so muffig!“
Ran verkniff sich unter größter Anstrengung ihr Grinsen. Greganor beabsichtigte offensichtlich kein Fettnäpfchen auszulassen!
„Auja,“ fügte sie dann eilig hinzu, um vom Patzer ihres Freundes abzulenken: „Die Nacht ist sternklar und ich würde so gern von weit oben einmal das eingeschneite Gnossas bewundern!“
Jannick wandte sich auch schon der Panzertür zu, die zur Dachterrasse führte, entriegelte und öffnete sie. Ran sprang von Lalilias Handfläche und war die erste, die auf der schneefreien Dachterrasse des Königspalastes einen Blick durch das schmuckvoll gestaltete Geländer auf die nächtliche Hauptstadt warf. Oben auf die Brüstung zu hüpfen traute sie sich nicht, weniger wegen der großen Höhe der Dachterrasse, als vielmehr aus der Erwägung, dass das Geländer vielleicht vereist war und Ran ausrutschen und stürzen könnte.
Greganor legte Lalilia einen schweren Pelzmantel aus Hermelinfell um, brachte ihr dicke Filzpantoffeln und begleitete sie ebenfalls in die schöne Nacht hinaus. Sie alle stießen weiße Kondenswasserwolken in den klaren Himmel aus, als sie nebeneinander an das Geländer traten.
„Willst du nicht auf das Geländer springen, Ran? Es ist trocken und windstill ist es auch!“ lächelte Jannick ihr zu. Sie streckte ihm die Zunge raus, bevor sie dann doch oben auf die Brüstung hüpfte. Unter ihr lag das weiße Gnossas im hellen Schein der Monde und Ran Herz machte einen Satz: Sie waren wieder alle vereint, alle lebendig und bei bester Gesundheit! Fast eine Viertelstunde lang blickten sie sich nur gegenseitig an und genossen, wie eben nur alte Freunde es konnten, gemeinsam die herrliche Aussicht. Welche Schrecken auch noch auf sie warten mochten, in diesem Moment war Ran glücklich!
Das Königspaar stand schweigend Arm in Arm dicht ans Geländer gedrückt, bis Lalilia plötzlich glücklich seufzte: „Weißt du noch, Greganor, in so einer Nacht hast du mir auch letztes Jahr den Antrag gemacht!“
Ihr Mann nickte sinnend: „Ja. Saukalt, nicht?“
Ran tauschte einen Blick mit Jannick und freute sich, dass ihrem Liebling die Mundwinkel auch fast bis zu den Ohren reichten. Lalilia hingegen war weniger amüsiert und machte sich von Greganors Arm frei: „Lasst uns wieder rein gehen. Ran, Jannick, kommt ihr?“ sagte sie und ließ ihre Stimme der Frostigkeit der Nacht um nicht viel nachstehen.
„Was ist los, Schatz?“ Greganor schaute seiner Frau nach und sah dann nacheinander fragenden Blickes Ran und Jannick an.
Sie setzten beide eine Unschuldsmiene auf und zuckten mit den Schultern. Greganor schüttelte jetzt nur seinen Kopf über die scheinbare Launenhaftigkeit seiner Frau und ging ihr nach. Ran strahlte Jannick an: „Es ist fast so, als wären wir nie fort gewesen!“

Nach einer viel zu kurzen Nacht und einem ausgiebigen heißen Bad in einem Suppenkessel, war Ran wieder in frische Kleider geschlüpft und harrte jetzt gespannt des Treffens am frühen Vormittag. Sie saß im Schneidersitz auf der langen Tafel des königlichen Tagungsraumes, an dem sich für gewöhnlich nur die Vertreter verschiedener Berufszweige monatlich einfanden, um dem König ihre Berichte vorzulegen oder der königliche Beraterstab ihrem Monarchen bei gewichtigen Entscheidungen half.
An diesem Morgen befand sich nicht ein einziger Bediensteter in den Raum, so dass Ran ohne Scheu umher wandeln konnte und sich nicht zum Schutz vor Blicken Fremder mit Illusionen zu umgeben brauchte. Greganor saß am Kopf des Tisches an einem besonders hervorgehobenen Stuhl, dessen Rückenlehne das Landeswappen Loriéliens bildete: Ein Kreisrunder Schild, halbiert durch ein diagonal verlaufendes Wellenmuster eines Flusses, der wiederum halbiert wurde durch den Kopf eines Hirsches, der genau im Zentrum des Wappens prangte. Auf der unteren linken Seite des Wappens kreuzte sich eine Sense mit einem Schwert, auf der oberen rechten waren schneebedeckte Berggipfel und drei Nordmannstannen abgebildet. Die Rückenlehne - fast doppelt so groß, wie das Rad einer Kutsche - war eine bemalte Schnitzerei und von der Höhe her so geschickt angebracht, dass der Hirschkopf gerade über der Krone des sitzenden Königs thronte. Ran musste kichern: Wenn Greganor ein Hüne wäre, würde sein Kopf den des Hirsches verdecken und es müsste für jeden an der Tafel der Eindruck entstehen, als trüge er das Hirschgeweih!
Zur Linken des Königs saß Lalilia in einem dunkelgrünen Kleid aus Barchent auf einem nicht minder kunstvoll gearbeiteten Sitzmöbel, dass allerdings nicht größer war, als die anderen Stühle entlang der Tafel. Die beiden unterhielten sich leise miteinander, wohl wissend, dass jeden Augenblick ein Herold an die Tür klopfen konnte, um den erwarteten Besuch anzukündigen. Ran wusste, dass die beiden immer nur sehr leise redeten, wenn die Gefahr bestand, dass sie unerwünschte Zuhörer aus den Reihen des Dienstpersonals hatten.
Jannick lief derweil in dem langen Raum auf und ab, blieb hin und wieder stehen, nur um dann seine rastlose Tätigkeit wieder aufzunehmen. Er war heute fast ganz in schwarzen Brokat gekleidet, das einzig farbige an ihm war sein azurblaues Hemd, dass unter der kurzen schwarzen Jacke hervor lugte, wie auch die mit Silberfäden durchwirkte Schärpe in leuchtendem Aquamarin. Es war eine Phantasie Uniform, die Jannick trug. Diese mysteriös anzuschauende Verkleidung sollte ihm für seinen kommenden Auftritt die nötige Glaubwürdigkeit verschaffen. Wieder machte Jannick kehrt und ging nervös in seiner eigenen Spur zurück: ihren Liebsten plagte ein schlechtes Gewissen, was mit dem erwarteten Besuch zusammenhing!
Ran hingegen war einfach nur sehr neugierig auf ihre beiden Gäste und rutsche ungeduldig auf ihrem Sitzfleisch hin und her! Wann würde der Herold endlich an die Tür am anderen Ende des langen Raumes pochen?
Erschrocken fuhr sie in die Höhe, als sie tatsächlich das ersehnte Klopfen hörte. Schnell umgab sie sich mit der Illusion einer irdenen Blumenvase, behielt aber die Tür genau im Auge!
„Eure Majestäten, der Besuch ist eingetroffen,“ schallte es durch die Tür.
„Sie mögen eintreten!“ rief Greganor mit betont vornehmer Stimme zurück. Ran lächelte: Greganor klang wie ein mäßiger Komparse in einem Theaterstück, der kurz einen König spielen wollte!
Die Tür schwang auf und eine sehr schlanke Frau mit einem beeindruckend dicken Mädchen traten ein.
„Eure Majestäten, es tritt ein Kuratorin Lilith Ormundson und ihre Tochter Mirjásannáh Ormundson.“
Den langen Namen für die Tochter fand Ran schon aus quantitativen Erwägungen angemessen: `Soviel Lebendgewicht braucht auch einen entsprechend gewichtigen Namen´, kicherte sie bei sich.
„Tretet näher, werte Herrschaften!“ polterte Greganor wieder etwas zu theatralisch, worauf sich die beiden Frauen wieder in Bewegung setzten.
Ran musterte die beiden genau: Unterschiedlicher konnten sich eine Mutter und ihre Tochter wohl kaum sein, dachte sie. Die Mutter war hochgewachsen, dürr und irgendwie blutleer, das Mädchen hingegen war geschickt in ihre Garderobe hinein genäht worden und sah trotzdem noch aus, wie ein Stück Wurst um Naturdarm. Sie hatte zwar schmale Schultern, aber ihre weiblichen Rundungen waren weit mehr als üppig und ließen sie so eher wuchtig als weiblich erscheinen.
Ran schätzte das Mädchen auf etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre. An und für sich hatte das dralle Frollein ein hübsches Gesicht: alabasterne, völlig ebenmäßige Haut, weißblonde Haare und Augenbraun, klare blaue Augen, eine feingeschnittene Nase und einen voller roter Mund. Die geröteten Pausbacken und das angehende Doppelkinn hingegen, dass selbst der Seidenschal nicht ganz verbergen konnte, ließen ihr Gesicht einfach nur konturlos und rund erscheinen! Auch die Brille, deren Linsen einige Brennstärke zu haben schienen, machte sie nicht unbedingt hübscher. Ran fiel gleich ein Spitzname für das Mädchen ein: Butterplätzchen!
„Willkommen im Schloss, meine Damen!“ begrüßte Greganor die beiden, als sie sich bis auf wenige Schritte genähert hatten. „Bitte nehmen sie doch ganz zwanglos an der Tafel Platz!“
„Vielen Dank, eure Majestät!“ entgegnete die dünne Frau fast schon pikiert. Vermutlich hatte sie sich einen offizielleren Rahmen für ihren Besuch gewünscht, mutmaßte Ran belustigt. Auch der Versuch eines Knicks, den Butterplätzchen jetzt verbrach, war Ran guter Stimmung nicht gerade abträglich.
Die beiden lustigen Frauen nahmen sich nun die Stühle zur rechten des Königs.
„Du bist also die Gewinnerin, die als Schnellste die verschlüsselte Sprache entwirren konnte?“ fragte Greganor die dralle Mirjásannáh freundlich.
„Die Schnellste und die Einzige!“ hob ihre Mutter stolz anstelle ihrer Tochter hervor. Butterplätzchen nickte aber auch und ihr Pausbäckchen wurden noch ein wenig roter.
„Wie viele Personen haben sich denn der Herausforderung gestellt?“ wollte der König jetzt von der Kuratorin wissen.
„Eure Majestät, wie ihr es angeordnet habt, hat sich jeder Schüler und jeder Schülerin einer höheren Bildungsanstalt dem Test gestellt. Allein in Gnossas waren es zwanzigtausend Teilnehmer, aber bis auf Mirjásannáh kam keiner über die Entschlüsselung der Syntax einfachster Sätze hinaus!“
„Bravo!“ lobte Greganor das Mädchen laut. „Ganz ausgezeichnet! Wir brauchen nämlich möglicherweise...“
„Wir brauchen eine Expertin der Geheimsprachen in einer Angelegenheit nationaler Wichtigkeit!“ fiel Jannick dem König jetzt ins Wort.
Greganor blickte zu ihm hinüber: „Ich stelle vor: Baron Al...brecht von und zu Donnerfall! Ihm obliegt die Angelegenheit, in der wir euch zu sprechen wünschen!“
Ran kicherte leise vor sich hin, ihre beiden Jungs als König und Baron! Ihre Befürchtung, dass auch die Kuratorin den beiden ihre neue Rolle nicht abnehmen würde, erwies sich aber als grundlos: die Frau schien so humorlos wie blutarm zu sein, als sie mit spitzem Mund und aristokratischer gehobener Stimme Jannick antwortete: „Sehr erfreut, Herr Baron. Es ist meiner Tochter eine Ehre und eine Freude, wenn sie dem Wohl des Landes dienen kann!“
Ran fragte sich, ob Butterplätzchen wohl keine Stimme hatte, dass die dünne Mutter ihr das Sprechen ganz abnahm.
„Sehr gut!“ nickte Jannick und tat noch zwei Schritte auf den Tisch zu, stützte sich mit beiden Händen auf der Kante ab und blickte die dralle Blonde an. „Bist du gesundheitlich in der Lage, eine lange Reise auf dich zu nehmen?“
„Aber sicher ist sie das!“ kam ihre Mutter Butterplätzchen zuvor. „Aber sie wird doch auf der Reise keinen Gefahren ausgesetzt sein?“
Die plötzliche Schärfe in der mütterlichen Stimme schien Jannick bewusst zu überhören, als er weiter nur die Tochter ansah: „Deine Aufgabe wird lediglich darin bestehen, eine fremde Sprache in unsere zu übersetzen. Für die üblichen Gefahren, die jede Reise mit sich bringt, reisen Ritter mit uns!“
„Wie lange wird Mirjásannáh nicht an ihrem Hochschulstudium regulär teilnehmen können, Herr Baron?“
„Es dürfte sich als zweckdienlich erweisen, den Rest des Trimesters an Unterrichtsmaterial zum Reisegepäck zu legen!“ Jannick stieß sich wieder vom Tisch ab und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Ran grinste über beide Ohren, als ihr auffiel, dass ihr Liebster sichtlich Spass an seiner Theaterrolle als Baron im Dienste einer Geheimgesellschaft hatte.
„Wann brechen wir auf?“ fragte plötzlich Butterplätzchens hohe Mädchenstimme.
„Mirjásannáh!“ ermahnte sie die Kuratorin bestürzt, „Bitte rede nur, wenn du gefragt wirst!“
„Heute, zur dritten Nachmittagsstunde! Wir geben ihnen zwei fähige Dienstboten mit, die ihnen beim Packen und Regeln ihrer anderen Angelegenheiten zur Verfügung stehen!“ Jannick verzog keine Miene, auch nicht, als der dünnen Frau aus Empörung über die harsche Behandlung ihr gesammelter halber Liter Blut ins Gesicht strömte und sie etwas menschlicher aussehen ließ.
„Das ist nicht möglich, Herr Baron!“ konterte sie. „Wir werden eine Woche brauchen, um sorgfältige Reisevorbereitungen treffen zu können!“
„Kuratorin Ormundson! Meiner standhaften Bemühung im Rat ist es zu verdanken, dass wir nicht unverzüglich aufbrechen, sondern ihnen noch diese Frist zur Vorbereitung bleibt. Die Angelegenheit ist von solcher Wichtigkeit, dass jede noch so geringe Verzögerung Menschenleben kosten kann! Sie werden verstehen, dass sich dadurch die Prioritäten verschieben!“
„Aber das ist völlig unmöglich, das Gepäck, die Unterlagen...“ Plötzlich wurde das Gesicht der dürren Frau fahl wie der Neumond und sie blinzelte wild, als schwindelte ihr.
„Ist euch nicht wohl, Mutter?“ Butterplätzchen ergriff mit ihrer Hand, die noch eine gewisse Ähnlichkeit mit Arns Babyspeckhändchen hatte, nach der knochigen Hand ihrer Mutter.
Jannick rief im kühlen Befehlston gegen die Tür gerichtet: „Mundschenk!“
Die schwere Tür am Ende des Raumes öffnete sich wieder und der Bedienstete trat ein. „Eure Lordschaft wünschen?“ Der Mann machte einen tiefen Diener.
„Bringe der Dame einen stärkenden Trunk, einen Brandwein oder dergleichen!“
„Sehr wohl, eure Lordschaft! Ist es genehm, wenn ich sogleich den Servierwagen herein schiebe und ausschenke?“
Jannick schien einen Lidschlag lang in Gedanken, ehe er trocken antwortete: „Dann rasch, Mundschenk!“
Derweil Butterplätzchen weiter die Hand ihrer aufgebrachten Mutter hielt, rollte der Mundschenk einen hölzerner Servierwagen mit vielen Kristallglas Karaffen und Gläsern auf der silbernen Deckplatte herein. Ran überkam beim Anblick der Karaffen mit den klaren Flüssigkeiten eine schauderhafte Erinnerung an das Haus der Folterers, aus dem sie ihren Liebsten und Greganor einst befreit hatte. Die Kristallkaraffe mit dem vergifteten Alkohol hatte nur wenig anders ausgesehen, als jene auf dem Servierwagen und Ran beäugte jetzt unterbewusst den Mundschenk, der gerade ein großes Glas bis zur Hälfte mit goldenem Branntwein füllte. Wie der alte Folterknecht der Speerspitzenritter sah dieser Dienstbote wirklich nicht aus, der Mann war nur wenig älter als Jannick oder Greganor, dreißig Jahre vielleicht, hatte ein sehr freundliches rundes Gesicht und kluge braune Augen.
Kaum hatte der Mundschenk das Branntweinglas sanft auf den Tisch gestellt, wurde es auch schon von der leicht zittrigen Hand der Kuratorin ergriffen und an ihre Lippen geführt. Ran staunte nur, dass die blasse Frau keine Miene verzog, als sie das scharfe Getränk mit wenigen kleinen Schlucken bis auf einem vornehmen Rest austrank. `Vielleicht hat sie heute ihr Frühstück, ihren doppelt gebrannten Weizenkorn, zu trinken vergessen,´ dachte Ran etwas betroffen. Bei den Menschen schien die Trunksucht auch unter besonders intelligenten Exemplaren verbreitet zu sein. Als sie gerade darüber nachsann, in welchen Verhältnissen, welchem Elternhaus das füllige Butterplätzchen wohl aufgewachsen war, wurde ihr Gedankengang von Jannicks kühlen Worten wieder unterbrochen: „Ihre Tochter wird uns auf der Suche nach einem Mittel helfen, mit dem wir das drohende Unheil, das in Avarien bereits große Verwüstungen angestellt hat, aufhalten wollen!“
„Den schwarzen Drachen?“ stieß die wieder feste Stimme der Kuratorin hervor.
„Ich erwarte keine Verzögerungen mehr, zur dritten Stunde reisen wir mit Mirjásannáh ab!“ sprach Jannick so leise und nachdrücklich, dass Ran ihren Liebsten nicht wiedererkannte. Er war so in seine Rolle als Leiter einer Geheimgesellschaft geschlüpft, dass er regelrecht herzlos und vollkommen unsympathisch wirkte. Ran grinste ihn an: Ihr kleiner Adept!
Greganor schlug jetzt lautstark mit seiner flachen Hand auf den langen Tisch und polterte: „Meine Damen, es ist alles gesagt worden, was zu sagen war. Wir wollen ihnen nicht noch mehr ihrer knapp bemessenen Vorbereitungszeit stehlen! Auch auf unserer Seite gilt es noch einige Angelegenheiten zu erledigen, wir werden uns jetzt zurückziehen!“
Schwankend erhob sich die dünne Frau und ihre Tochter nur Momente nach ihr. Derweil im Gesicht der Mutter Empörung und Sorge in deutlichen Lettern geschrieben stand, war Butterplätzchens rundes Gesicht geradezu aufgeblüht. Die roten Pausbäckchen und der spöttisch gespitzte Mund, ließen Ran mutmaßen, dass Mirjásannáh mehr als nur Stolz auf sich war. Ran schüttelte nur mitleidig den Kopf: die Kleine hatte ja keine Ahnung, mit wem sie reisen würde und auf welche Gegenliebe ihre Selbstverliebtheit bei den Männern stoßen würde!
Als die beiden Frauen sich schon zum Gehen gewandt hatten- die Kuratorin hatte den stützenden Arm ihrer Tochter genommen - klopfte es wieder an der Tür.
„Wie ein Taubenschlag hier,“ murmelte Greganor, „Herein!“
„Euere Majestät, Ritter Cedrick von Greifenfels ist eingetroffen,“ der Vasall verbeugte sich. „Eure Majestät befahl, ihn gleich zu euch zu führen!“
„Danke, ich weiß, welche Befehle ich gegeben habe, Vasall!“ grinste Greganor gönnerhaft. Ran hatte schon mitbekommen, dass den Bediensteten in Gnossas die von der Pike auf gelernten überflüssigen Floskeln nicht auszutreiben waren.
„Komm herein, Cedrick!“ rief der König darauf laut und der Junge trat in dem Moment ein, als die Kuratorin und ihre feiste Tochter sich gerade anschickten, den Raum zu verlassen.
Ran beobachtete Butterplätzchen und Cedrick genau, als sie sich erblickten. Neugier, ja, Interesse lag in Mirjásannáhs Augen, derweil ihre Lippen abschätzig und herablassend lächelten. Cedricks graue Augen hingegen waren eiskalt, als er die dürre Mutter mit ihrer Tochter flüchtig musterte, wie Menschen, die aus dem einzigen Zweck geboren worden waren, um ihm auf den Geist zu gehen. Die angespannte Haltung des Jungen aber verriet Ran, dass Cedrick keineswegs gleichgültig gegenüber den beiden war, besonders nicht gegenüber Butterplätzchen: die unerwartete Gegenwart des Mädchens in diesem Raum und ihr anzüglicher Blick schienen ihn zutiefst zu ärgern!
Als sie auf gleicher Höhe aneinander vorbei schritten, blickten beide demonstrativ geradeaus, als hätten sie keine Notiz von einander genommen. Kuratorin samt Tochter verließen den Saal und Cedrick stand jetzt nahe bei Jannick. Der junge Greif wirkte verbissen und in seinem Gesicht zeichnete sich die stumme Frage ab, wer die beiden Frauen waren, dass der König sie zu solch einem inoffiziellen Treffen geladen hatte. Ob er Menschenfrauen wirklich so hasste, wie Jannick es ihr geschildert hatte, überlegte Ran. „Das wird noch eine aufregende Reise werden,“ flüsterte sie tonlos vor sich hin.
„Cedrick, wir brechen in wenigen Stunden auf, dir steht es natürlich frei, ob die uns begleitest, oder wieder deinen ursprünglichen Auftrag weiterverfolgst!“ Greganor schob den Thronsessel zurück und erhob sich.
„Es ist uns allerdings nicht gleich, wie du entscheidest!“ fügte Jannick jetzt in seiner gewohnt freundlichen Art hinzu, er lächelte den Jungen an. „Es ist mir persönlich ein besonderes Anliegen, dich bei uns zu wissen, denn wir werden zwar in einer großen Gruppe aufbrechen, aber für die eigentliche Mission müssen wir uns von allem trennen, was wir nicht unbedingt brauchen. So erst können wir ein zügigeres Vorankommen gewährleisten. Du nun bist unbedingt notwendig, denn wir werden uns auf unbekannten Terrain bewegen und deine Schulausbildung im Fährtenlesen ist noch frischer als die des Königs oder meine!“
„Mundschenk, wir wünschen keine weiteren Dienste mehr!“ befahl Greganor und der Mann verstand. Er verbeugte sich und eilte, mit dem Servierwagen voran, zügigen Schrittes aus dem Saal.
Als die Tür von draußen ins Schloss gezogen worden war, löste Ran die illusionäre Hülle um sich herum auf und Jannick fuhr mit deutlich gedämpfter Lautstärke fort: „Wir werden offiziell mit der königlichen Kutsche und allem Pomp aufbrechen, schließlich wollen wir dem Volk etwas bieten.“
„Etwas Hoffnung machen. Hoffnung, dass wir etwas unternehmen, was uns zum Sieg über dieses schwarze Ungeheuer verhilft!“ ergänzte Greganor.
„Erlaubt mir eine Frage,“ verlangte der finster dreinblickende Junge plötzlich zu ihrer aller Überraschung, „Wer außer uns hier anwesenden wird noch nach Norden reisen?“
„Die dicke Schülerin ist unentbehrlich,“ meinte Jannick leichthin und ehe Cedrick wieder den Mund öffnen konnte machte ihm Greganor einen Strich durch die Rechnung: „Stellt das ein Problem da, Ritter?“
Ran verbarg ihr Grinsen hinter vorgehaltener Hand. Greganor imitierte seinen einstigen Vorgesetzten Lord Fornworth so exquisit, dass Cedrick tatsächlich die Worte hinunterschluckte, die ihm gerade noch auf der Zunge gelegen hatten, als hätte der erste Ritter der Greifen persönlich zu ihm gesprochen!
Als Ran sich ihrer Freundin Lalilia zuwandte, verflog ihr Lächeln wieder: die Königin war blass und sah unglücklich drein. Es hatte eine hitzige und langwierige Situation zwischen ihr und Greganor gegeben, bis sie schließlich nach einigen Tränen eingewilligt hatte, ihren Mann ein weiters Mal ziehen zu lassen. Zum einen hatte Lalilia eingesehen, dass das Vertrauen des Volkes ihr und dem König galt: sie mussten etwas unternehmen, bevor gerade die Bewohner nahe der Avarischen Grenze alle Hoffnung fahren lassen würden. Bevor sie ihre Arbeit niederlegten, Hamsterkäufe tätigten und sich in Wäldern verbargen oder in Landesinnere flohen, sollte ihnen die Nachricht zukommen, dass noch Hoffnung bestand, dieses Ungeheuer zu bezwingen oder zumindest fernzuhalten.
Zum anderen hatte Lalilia akzeptiert, dass - wohin immer es sie in den Gefrorenen Bergen auch verschlagen würde - kaum jemand besser geeignet war, als Greganor, in brenzligen Situationen das Richtige zu tun!
Der König nahm jetzt die Hand der Königin in seine: „Alles in Ordnung, mein Schatz?“
„Nein!“ sagte sie bitter und blickte ihn strafend an.
„Ich bringe ihn dir schon wieder heil und an einem Stück mit zurück nach Gnossas!“ sagte Jannick tröstend.
„Und ich werde aufpassen, dass Jannick sein Versprechen auch einhält!“ rief Ran und hüpfte auf die Beine.
„Und du?“ fragte Lalilia jetzt in Cedricks Richtung.
Der junge Ritter schwieg einen Moment, ehe er leise und ohne jegliche Emotion in der Stimme antwortete: „Und ich werde jeden umbringen, der uns aufzuhalten versucht!“

                    Mirjásannáh:
Die schneebedeckte Landschaft draußen vor dem Kutschenfenster rauschte nur so an ihr vorbei. Es war auch für Mirjásanná das erste Mal, dass sie in Achtspanner Kutsche reiste, deren Innenraum fast so groß wie die Stube einer bürgerlichen Wohnung war. Hier hörten die Gemeinsamkeiten mit einer Stube noch nicht auf, denn die Kutschenkabine war ebenfalls innen mit Holz vertäfelt.
Mirjásannáh hatte es sich auf ihrer Sitzbank, die mit einem Kissen dicht gestopfter Daunen gepolstert war, so richtig bequem gemacht und genoss die erste Stunde ihrer aufregenden Reise! Ein Kompass, der im Fußboden der Kutsche eingelassen war, verriet ihr, dass sie nach Südwesten ritten. Sie befanden sich also auf der Reichsstraße Richtung Avarien.
Ihr Herz klopfte aufgeregt, denn sie war noch nie im Ausland gewesen. Strenggenommen hatte sie ihr bisheriges Leben nur in ihrer heimatlichen Villa, in Schulen und Bibliotheken verbracht. Bedenklich stimmte sie nur, dass sie zum ersten Mal im Leben der Gegenwart ihrer Mutter beraubt war. Bei ihrem Abschied im Schlosshof war ihr noch etwas mulmig gewesen, aber schon nach der ersten halben Stunde ihrer Fahrt hatte ein ganz anderes Gefühl von ihr Besitz ergriffen! Ein aufregendes, unbekanntes Gefühl, dass sie in eine Hochstimmung versetzt hatte: Sie reiste zusammen mit dem König in seiner Kutsche! Ihr großes Talent war gefragt und nun waren es nicht die Dozenten und Professoren an der Hochschule, die sie in Staunen versetzen konnte, sondern es war der Monarch ihres Landes höchstpersönlich, der ihren klugen Kopf benötigte!
Der große König war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen, er hatte ein freundliches und offenes Gesicht, schöne blaue Augen und wirkte ganz und gar majestätisch in seinem braunen Kaschmirmantel mit Hermelinfutter. Sie konnte kaum glauben, dass er mal ein gewöhnlicher Ritter aus dem brutalen Orden der Schwarzen Greifen gewesen war, denen man nachsagte, die härtesten und skrupellosesten Krieger in ganz Kimbernia zu sein.
Baron Albrecht hingegen wusste sie nicht recht einzuschätzen. Seine Miene war verschlossen und seine großen braunen Augen wirkten kühl und berechnend, wie die eines Kriegsherren wohl sein mussten, der ohne mit der Wimper zu zucken Tausende seiner Soldaten in den Tod schickte, wenn er sich davon nur einen taktischen Vorteil versprach. Zum Glück brauchte Mirjásannáh ihn nicht anzusehen, denn er saß direkt neben ihr. Ihr selbst gegenüber saß der Greganor I. und gleich neben ihm der junge Ritter, dem sie schon im Schloss begegnet war, ohne, dass man sie einander vorgestellt hatte. Mirjásanná hatte sich gefragt, welche Aufgabe ihm zukam, dass er ebenfalls in der Kutsche mitreisen durfte, jetzt jedoch beschäftigte sie etwas ganz anderes! Sie beobachtete den Jungen, der kaum älter als sie selbst sein konnte, bisweilen offen und dann wieder verstohlen. Wie sie es auch anstellte, er würdigte sie keines Blickes, was sie nicht wenig ärgerte!
Mirjásannáh musste sich eingestehen, dass sie immer neugieriger wurde, wer der Junge war, denn er gehörte zweifelsohne zu den hübschesten jungen Männern, die sie jemals gesehen hatte. Auch wenn er nur teilnahmslos aus dem Fenster schaute, ja, überhaupt keine Miene verzog, so hatte er dennoch eine Ausstrahlung. Er hatte Augen von einem seltsamen grau, dass an Wolken in einem Gewitterhimmel erinnerte und seine Lippen waren so hart, als wären sie in Stein gemeißelt. Woher er auch kommen mochte, viel zu Lachen hatte er in seinem Leben bestimmt nicht gehabt, dachte sie.
Schließlich stellte sich bei Mirjásannáh Unbehaglichkeit ein: die Schweigsamkeit der drei Männer in der Kutsche lastete auf ihrem Gemüt. Wie konnten Männer nur so lange auf engstem Raum ausharren, ohne miteinander zu reden? Sie rutschte nun auf ihrer Bank hin und her und ließ hin und wieder einen leisen Seufzer vernehmen, weil sie nicht die Unhöflichkeit besitzen wollte, selbst ein Gespräch zu beginnen. Irgendwann würde einer von den dreien sie schon ansprechen!
„Ist dir nicht wohl, Mädchen?“ fragte der König sie nun selbst und ihr Herz klopfte wieder aufgeregt.
„Nein, eure Majestät, es ist alles bestens!“
Greganor I. nickte nur und schwieg wieder. Mirjásannáh blickte beleidigt auf ihre Schuhe. Wer hatte denn hier wen gebeten, auf diese Reise mitzukommen? Sollte sie etwa tagelang wortlos mit diesen drei Männern auf engstem Raum reisen?
„Eure Majestät, gestattet mir eine Frage!“ bat sie in distinguiertem Tonfall, ehe es später noch weniger damenhaft aus ihr herausplatzen würde.
„Sicher!“
„Wer ist dieser junge Mann an eurer Seite, wir wurden uns noch nicht bekannt gemacht!“
Der König lächelte schief, was Mirjásannáh nicht einzuordnen wusste, als er antwortete: „Dieser junge Mann ist Ritter Cedrick von Greifenfels, ein Beschützeranwärter!“
„Angenehm!“ sagte sie vornehm mit leicht erhobenen Kinn.
Der Junge stieß nur Luft durch seine Nase aus, ohne sie auch nur anzusehen. Sie schluckte ihre Empörung still hinunter und beschloss diesen Burschen ab jetzt ebenfalls zu schneiden! Wer war er denn, dass er sich so aufspielte, als sei er etwas Besonderes und sie nur irgend jemand? Noch niemand hatte sie so abschätzig behandelt, wie dieser dahergelaufene Soldat! Bei ihr zu Hause riss sich eine Schar von Dienstboten darum, ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen und sie hatte sogar schon höchst annehmbare Heiratsanträge von bedeutenden Persönlichkeiten erhalten, warum also sollte sie sich um die Meinung eines mittellosen Schnösels kümmern? Bestimmt war sie ihm zu dick, dachte sie wütend! Aber was scherte sie das, sie stammte aus einer der angesehensten Bürgerlichen Familien, war die beste Schülerin ihres Jahrgangs und hatte schon mit fünf Jahren fließend Lesen und schreiben gekonnt! Was sollte jemand wie sie schon auf die völlig belanglose Meinung von einem dahergelaufenen Burschen wie diesem Cedrick geben?
Ihr verletzter Stolz verlangte es, diese Frechheit des Ritters nicht einfach hinzunehmen, dass sie ihn jetzt direkt mit besonders geringschätziger Stimme ansprach: „Ah, Ritter Cedrick, welche Dienste könnt ihr dem König bieten, dass ihr mit uns reist?“
Als der Junge nach Augenblicken immer noch dreist schwieg, sprach der König ihn schließlich an: „Cedrick?“
„Ich reise zum Schutz des Königs mit!“ zischte der Junge plötzlich zwischen den Zähnen hervor, als wäre er tödlich beleidigt worden, dazu genötigt worden zu sein, ihre Frage zu beantworten.
„So?“ gab sie indigniert zurück, „welch große Ehre für jemanden wie euch!“
„Ruhe jetzt!“ befahl der Baron so plötzlich und barsch, das Mirjásannáh zusammenzuckte. Wie grob und unhöflich von diesem dunkel gekleideten Mann.
Zum ersten Mal, seit ihrer Abfahrt sah Cedrick sie jetzt direkt an. In seinen wolkigen Augen stand nichts als Abscheu, aber um seine Lippen spielte ein winziges triumphierendes Lächeln, dass zu sagen schien: `Jetzt weißt du, wo du hier stehst. Fordere nicht deine Beliebtheit heraus!´
Ihr Herz rutschte ihr tief hinab und zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt fühlte Mirjásannáh sich unwohl in ihrer Haut.

Sie waren noch eine gute Stunde weiter gereist, ohne, dass jemand auch nur den Versuch gemacht hatte, eine Konversation in Gang zu bringen. Die Gesichter der Männer waren zunehmend angespannt mit jedem Landschritt, den sie voran kamen. Mirjásannáh verstand nicht, was vor sich ging, traute sich aber auch nicht, jemanden zu fragen. Unbehaglicher jedenfalls konnte ihre Reise kaum noch werden, stellte sie düster für sich fest!
„Es ist soweit!“ sprach der Baron mit einem Mal in die bedrückende Stille.
Unverzüglich riss der König einem Kordel, der oben auf dem Kutschbock ein helles Glöckchen zum Läuten brachte. Mirjásannáh hörte den lauten Ruf des Kutschers, als er an den Zügeln riss und die Tiere zum Stehen aufforderte. Noch ehe sie darüber nachdenken konnte, warum sie so unvermittelt mitten auf der Reichsstraße hielten, hatten die Männer auch schon die Türen aufgestoßen und waren aus der Kutschenkabine gesprungen.
„Na, komm schon!“ rief der König nun zu ihr herein, dass sie nur ungläubig die Augen aufriss. Was mochte nur vor sich gehen, wo war sie hineingeraten?
„Komm, oder willst mit der Kutsche allein im Wald ausgesetzt werden?“
So schnell sie eben konnte rutschte sie von der Bank und trat, ohne, dass jemand ihr seine Hand angeboten hätte, auf das Trittbrett der Kutsche und dann auf die Straße. Der König steckte plötzlich Daumen und Zeigefinger in den Mund und gab einen hellen Pfiff ab, dass Mirjásannáh zusammenzuckte: „Hauptmann, hierher!“ rief Greganor I. zu den Eisenmantel Rittern, die vor der Kutsche her ritten.
Der Hauptmann lenkte sein riesenhaftes weißes Kaltblut zu ihnen hin und salutierte vor seinem König: „Eure Majestät?“
„Ihr und fünf eurer Ritter werdet ab hier in der Kutsche weiterreisen! Ich und meine Begleitung werden eure Pferde übernehmen. In der Kleidertruhe auf dem Kutschendach findet ihr für euch und eure Leute Zivilkleidung. Legt sie unverzüglich an. Die Kutsche fahrt bis tief in die Wälder, versteckt sie unter der Plane, die ihr ebenfalls in der Truhe finden werdet, und deckt sie hernach noch gut mit grünen Zweigen von Fichten oder Tannen zu! Habt ihr dies erledigt, reist einzeln oder in Gruppen von nicht mehr als drei Männern weiter nach Avarien. Ihr werdet nur nachts und in der Zivilkleidung reiten, eure Rüstungen lasst in der Kutsche!“
Der König zog jetzt ein versiegeltes Pergament unter seinem Mantel hervor: „Ihr werdet allesamt in Torquiens Fähre die Festung der Schwarzen Greifen aufsuchen und bei Lord Fornworth vorsprechen. Die erste Gruppe wird ihm dieses Schreiben reichen, daraufhin wird er euch Unterkunft gewähren. Solange, bis ihr neue Order von mir erhaltet, seid ihr dem Befehl von Lord Fornworth unterstellt! Zu niemandem ein Wort über dies hier, auch in Greifenfels nicht! Absolute Schweigepflicht ist geboten, wenn wir die drohende Dunkelheit rechtzeitig aufhalten wollen! Alle Befehle verstanden, Hauptmann?“
„Jawohl, eure Majestät!“ kläffte der Ritter in militärischem Ton und salutierte wieder. Er ließ sich keine Gefühlsregung anmerken, sondern machte nur mit seinem Panzerhandschuh die kreisende Bewegung in die Luft, dass sich die übrigen Ritter um ihn sammeln sollten.
„...die drohende Dunkelheit rechtzeitig aufhalten,“ wiederholte der Baron jetzt leise mit einer spöttischer Miene, die Mirjásannáh diesem befremdlichen Mann gar nicht zugetraut hätte. „An dir ist ein Poet verloren gegangen, Greganor!“ Jetzt grinste Baron Albrecht sogar und sie fragte sich, wieso das kaltschnäuzige Oberhaupt einer Geheimgesellschaft den König formlos beim Vornamen nannte, wie einen alten Freund!
„Ich hole den Sack mit unserer Reisekleidung,“ erwiderte der König nur gut gelaunt und erklomm trotz seiner hinderlichen Kleidung leichtfüßig den Kutschbock.
„Ich sehe nach Ran, sie wird während unserer ruhigen Fahrt bestimmt gut geschlafen haben!“ lachte der Baron jetzt, griff in die Kutsche und holte eine kleine Holztruhe unter der Bank hervor, auf der Mirjásannáh mit ihm gesessen hatte. Oben in den Deckel waren Luftlöcher eingelassen. Sie waren also die ganze Zeit mit einem Haustier zusammen gereist, fragte sich Mirjásannáh. Eine Katze konnte es schon einmal nicht sein, dass hätte sie an ihrem eigenen wilden Niesen und ihrer Atemnot eher gemerkt! Ehe sie sich aber weitere Gedanken machen konnte, rief sie der König vom Dach der Kutsche an, auf dem er breitbeinig wie ein Wegelagerer stand: „Fang, Mädchen, und wirf ihn dir über!“
Ein zum Bündel zusammengeschnürter grauer Umhang flog zu ihr herab und es gelang ihr so gerade eben, ihn aufzufangen.
„Cedrick, wir beide beladen die Packpferde!“ instruierte der Baron zu den jungen Ritter, ohne die kleine Kiste aus der Hand zu geben. „Du belädst dein Pferd mit den Zelten, Kochgeschirr, Waschutensilien, Öllampen, Kleidung und so weiter und ich werde unsere Verpflegung auf das andere laden!“
Mirjásannáh starrte perplex auf den groben grauen Stoff in ihren Händen. Sie sollte sich diese Lumpen überwerfen? Das konnte der König doch unmöglich von ihr verlangen!
Mit einem lauten Klatschen setzte Greganor I. neben ihr auf der Reichsstraße auf, dass ihr beinah das Bündel aus den Fingern gefallen wäre: der Monarch war in seinem Ornat einfach vom Dach der Kutsche gesprungen. Das Mädchen starrte ihn entsetzt an.
„Komm,“ sagte dieser nur hastig und gab ihr ermutigend einen unsanften Klaps auf die Wange, wie einem Laufburschen. „Steh hier nicht im Weg, wir müssen hier die Pferde bepacken!“
„Eure Majestät,“ hörte sie sich mit schwankender Stimme fragen: „Was hat das zu bedeuten?“
„Gar kein `Bitte´ mehr davor und keine vornehme, gediegene Sprechweise? Du verbesserst dich, Mädchen!“
„Bitte, eure Majestät, was beabsichtigt ihr zu tun?“
Der König seufzte: „Du kannst doch hoffentlich reiten, Mirja, oder?“
„Gewiss, eure Maj...“
„Dann schwing deinen Hintern auf das Kaltblut dahinten und halt die Backen, bis wir unterwegs sind. Und erzähl mir nicht, du würdest nur im Damensattel reiten, wir haben keine Zeit für solche Sperenzchen!“
Mirjásannáh spürte plötzlich, wie ihr das Wasser in die Augen stieg. Was passierte nur um sie her? Sie hatte sich auf eine vornehme Kutschenreise mit Quartier in den besten Gasthöfen gefreut. War in ihrer Vorstellung mit hochgebildeten Persönlichkeiten in den schweren Sesseln exklusiver Debattierclubs zusammen gekommen, um gemeinsam knifflige sprachliche Probleme zu diskutieren. Hatte, wie daheim, von Silbertellern gespeist und bis in die frühen Nachstunden teuere importierte Tees an prunkvoll verkleideten Kachelöfen getrunken! War für ihre außergewöhnlichen Talente vom König und seinem Stab hofiert worden, zumal sie ja dem Reich wertvollste Dienste leisten sollte!
Jetzt zerfielen diese bunten Träume zu Scherben wie von zerbrochenen Spiegeln und ein Blick auf die Bruchstücke zu ihren Füßen gaben Mirjásannáh ein schreckliches Zerrbild von sich zu sehen: Statt unter Daunenkissen in beheizten Zimmer zu schlafen, würde sie in kalten Zelten auf steiniger Erde ihre Nächte verbringen. Statt gehobene Küche in feinen Kleidern zu genießen, würde sie getrocknetes Brot in Bettel- oder Bauernkleidung zu sich nehmen müssen. Statt Komplimenten und Höflichkeiten würde sie herum gestoßen werden, wie eine billige Magd!
„Ich werde nicht mitkommen,“ sagte sie leise bei sich. Doch als diese Worte vor sich ausgesprochen plötzlich einen sehr angenehmen und richtigen Klang in ihren Ohren bekamen, fand sie den Mut, sie noch einmal lauter zur wiederholen. „Ich werde nicht mitkommen!“ rief sie jetzt laut, wischte sich kurz die winzigen Tränen aus den Augen und straffte nachdrücklich ihre Haltung.
Der Baron baute sich jetzt vor ihr auf und musterte sie eindringlich mit seinen dunkelbraunen Augen, dass Mirjásannáh zu zittern begann. Ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen: „Glaubst du, du hast eine Wahl, Mirja? Wir sind nicht aus Gnossas aufgebrochen, um eine Vergnügungsfahrt zu unternehmen! Wir haben dich nicht mitgenommen, weil wir deine geschätzte Gesellschaft nicht missen mochten! Wir sind losgezogen, um Menschenleben zu retten und wir werden sehr wahrscheinlich deine Hilfe dazu brauchen! Du wirst verstehen, dass wir uns nicht darum scheren können, wie deine Meinung bezüglich unserer Pläne ist!“
„Aber ich will nicht,“ sagte sie mit ersterbender Stimme und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.
„Wir können aber nicht auf dich verzichten. Klugheit und Talent bringen auch eine Menge Verantwortung mit sich, wer viel von davon hat, hat auch viel von davon zu tragen! Jetzt beiß die Zähne zusammen, wir wollen gleich los!“
„Nein!“ rief sie mit dem Mut der Verzweiflung! Sie würde nicht wie ein Landstreicher mit Käfern und Wanzen gemeinsam in einem Zelt schlafen und sich ihre Haare mit eiskaltem Flusswasser waschen! Sie würde nicht frierend am Lagerfeuer in schneeweißen Winterwiesen ausharren, bis wieder Leben in ihre eingefrorenen Hände und Füße zurückkehrte! „Das ist ungesetzlich! Ihr könnt mich nicht zwingen, mit euch zu kommen! Ich will zurück zu meiner Mutter! Ich werde augenblicklich die Heimreise antreten! Ich...“
Mirjásannáh stockte der Atem und sie wurde vor Schrecken ganz steif in allen Gliedmaßen. Mit Entsetzen starrte sie in die Augen des Barons, die mit einem Mal wie glühende Kohlen in bedrohlichem blutrot leuchteten! Nach einem Augenblick war es wieder vorbei und die Iris beider Augen wurde wieder braun wie ehedem, aber ihr Herz klopfte so wild, als wäre sie alle Treppen in ihrer Elterlichen Villa hinaufgelaufen!
„Auch ich könnte mir Schöneres vorstellen, als mich jetzt bei Schnee und Eis auf eine vielleicht lebensgefährliche Mission mit ungewissem Ziel und ohne gesicherten Erfolg zu begeben,“ der Baron wandte sich, ohne weitere Worte, von ihr ab.
Erst Momente später wurden ihre Gedanken wieder klarer und auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Baron Albrecht war niemand anderes, als Jannick, der einzige gute Adept. Augenblicklich begann sie zu frieren und zu schwitzen gleichzeitig, viele Bilder aus ihrem Leben zogen ungeordnet an ihr vorüber. Sie würde sterben, da war sich Mirjásannáh ganz sicher!

                              Arminius:
Seit Tagen folgte er und seine Rotte von Getreuen dem König und seinem kleinen Gefolge. Durch die schneeweißen Marschen Mittelloriéliens, durch die ersten Hügelketten und mitten hinein in die Ausläufer der Gefrorenen Berge waren sie ihnen stets auf der Spur geblieben. Klirrende Kälte wechselte sich mit wärmerer Witterung und Pulverschnee aus wolkigen Himmel ab. Es bedurfte keiner Mühe der deutlichen Spur ihrer sechs Pferde durch die verschneiten Berge zu folgen. Ein im Spurenlesen unbedarftes Kind hätte keine Probleme gehabt, den drei Männern und dem Mädchen zu folgen. Dennoch legte Arminius mit jedem Landschritt, den er den Spuren der Pferde folgte, gewissenhaft seine Wegmarkierung aus zwei gekreuzten Stöcken am Wegrand aus, dass ihm seine Untergebenen folgen konnten. Der längere von den beiden gekreuzten Stöcken wies die Richtung, in die seine Schergen folgen sollten, dieses Zeichen war so einfach zu verstehen, dass sogar die dümmsten seiner Männer es begreifen mussten. Arminius hatte mit neun ehemaligen Rittern der Speerspitze eine fähige Gefolgschaft zusammenstellen können, sie alle waren geschult im Umgang mit Bogen und Schwert. Sie alle würden auf sein Kommando keine Skrupel kennen, sich in den Kampf auf Leben und Tod zu stürzen. Sie alle hatten bereits gemordet und sie alle interessierte es kein Stück, für wen und warum sie töten sollten, solange nur die Bezahlung stimmte. Der Kopfgeldjäger schätzte diese professionellen Söldner, auch wenn er ihnen als vorausschauender Anführer nur so weit traute, wie die Klinge seines Schwertes reichte. Weder weihte er sie in seine Pläne ein, noch ließ er sie in seiner Nähe nächtigen. Er hielt sie mit Informationen und Bezahlung knapp, wie der Trainer von Kampfhunden dessen Tiere mit Liebe und Nahrung. Er klärte sie nur darüber auf, dass er kaum Bargeld bei sich hatte und während der Reise nur wenig zahlen, ihnen aber allen nach Erfüllung des Auftrages eine saftige Belohnung zukommen lassen würde.
Zwar wussten seine Schergen, dass es der König war, dem sie folgten, und dass es ihr Ziel sein würde, diesen festzusetzen und für Lösegeld wieder frei zu lassen. Warum Arminius aber beschlossen hatte, nicht bei der erstbesten Gelegenheit über die ahnungslosen Opfer herzufallen, hatte er ihnen nicht verraten! Seiner Rotte von ehemaligen Rittern hatte sein Wort gereicht, dass sich unter den drei Männern der totgeglaubte Adept befand, den sie nur im günstigsten Moment ohne eigene Verluste würden beseitigen können!
Günstige Momente hatte es gegeben und es würde sie tagtäglich wieder geben, aber Arminius hatte seine Pläne geändert. Ihn trieb keine Hast, es war die Neugier und sein Streben nach größerer Macht, die sein Handeln bestimmte. Nachdem seine Beute noch im Schloss so freundlich gewesen war, ihn über ihre Pläne in Kenntnis zu setzten, hatte er seine umgeworfen. Warum sollte er sich mit dem Lösegeld für einen König begnügen, wenn er dazu gratis auch noch etwas in die Hände bekam, dass ein Ungeheuer aufhalten konnte? Er hatte in seinem Leben genug phantastisches erlebt, hatte mit angesehen, welch gewaltige Kräfte Adepten entfesseln konnten. Jetzt verfolgte Arminius einen überaus mächtigen Adepten, der nach der Quelle einer Kraft suchte, welche die seine noch um vieles übersteigen sollte. Einer Quelle, die vermutlich auch von einem einfachen Menschen zu handhaben war und die der Kopfgeldjäger zu seinem Eigentum machen konnte!
Wie diese Kraft aussehen sollte, beschäftigte ihn nicht, er würde es früh genug erfahren, um zu entscheiden, ob er sie gebrauchen konnte. Hin und wieder wollte er sich dem Lager seiner Beute bis auf eine Distanz nähern, die es ihm ermöglichen würde, an ihren Gesprächen Teil zu haben. Sollte sich dabei herausstellen, dass die Waffe, nach der sie suchten, nutzlos für ihn war, konnte er sich immer noch entscheiden, einfach nur die arglosen Opfer zu töten und sich mit dem Lösegeld für Greganor I. zu begnügen! Im schlimmsten Falle hätte er so ein paar Wochen seines Lebens bei der Verfolgung dieser Menschen verloren, im besten Falle konnte er sich eine Macht aneignen, die um ein vielfaches stärker als die Kräfte eines Adepten sein mussten.
Arminius grinste hämisch unter dem dicken Schal, der sein ganzes Gesicht bis auf seine Augen verbarg: Er genoss es, wie ein Puppenspieler alle Fäden in der Hand zu haben! Seine Puppen durften solange ungestört und unbeschwert ihrer Wege gehen, bis er sich entscheiden würde, einzugreifen. Mit einem Ruck an den Fäden konnte er sie aus dem Leben reißen, doch momentan fand er seine Freude daran, ihr naives Treiben zu verfolgen: Seine Opfer waren ihm keinen halben Tag voraus, hatten in den Morgenstunden die Passstraße des Vorgebirges verlassen und gegen Mittag eine schmale, hüglige Hochebene, die kaum einen Landschritt breit war, überquert. Arminius vermutete, dass sie sich inzwischen an den Abstieg auf der anderen Seite des Berges gemacht hatten, dass er es wagte, ohne Deckung über die langgezogene Hochebene zu reiten.  
Sein braunes Kaltblut stakte durch den hohen Schnee, der dem großen Tier bis weit über die Fesseln reichte. Vorausschauend hatte er seinem und den anderen Tieren Beinlinge aus Biberfell fertigen lassen, die von den Hufen bis zu den Knien reichten und die Muskeln und Gelenke der Pferde warm hielten. Eine dicke weißgraue Satteldecke wärmte und verbarg den Leib des Tieres. Auch Kopf und Hals wurden von einer schützenden Hülle verborgen und schwarze Scheuklappen an beiden Augen der Tiere verhinderten, dass die furchtsamen Pferde in großer Höhe oder auf engen Pässen ängstlich wurden. Arminius trug auch einen weißgrauen Mantel, der ihn, aus der Entfernung betrachtet, mit dem Körper seines Reittieren verschmelzen ließ.
Der Himmel an diesem späten Nachmittag war klar und die Sonne stand im Westen schon so tief, dass die ersten Bergtäler bereits im Schatten verschwanden. Arminius hustete schwach und suchte in den Satteltaschen nach seinem Wasserschlauch. Die Höhenluft war so eiskalt und staubtrocken, dass er in manchen Stunden seine Lunge spürte, wie nach einer schweren Grippe.
Tief im Tal unter ihm konnte er jetzt einen Bauernhof mit einem Viehstall, einem Speichersilo und einer großen Scheune erkennen. Der Innenhof zwischen den Gebäuden war schneefrei und aus dem Kamin des Wohnhauses stiegen dünne weiße Rauschschwaden. Es musste wohl einer der nördlichste Viehzüchter in Loriélien sein, überlegte der Kopfgeldjäger und spähte mit zusammengekniffenen Augen den Berg hinab. Vielleicht befand sich der Hof auch schon auf avarischem Boden, hier oben im Vorgebirge gab keine Grenzmarkierungen, an denen er hätte ablesen können, ob sie schon das Land verlassen hatten. Weiden hatte das Vieh hier genug, nur war der Sommer sehr kurz, dass die Rindviecher fast das halbe Jahr lang mit Heu, Wurzeln und allem, was sonst noch zu finden war, durchgefüttert werden mussten.
Im Augenwinkel bemerkte Arminius plötzlich einen schwarzen Punkt, der sich vor die Sonne geschoben hatte und drehte unwillkürlich sein Gesicht dem leuchtenden Himmelskörper zu. Die Sonne war so hell, dass nichts erkennen konnte und sich schon getäuscht zu haben glaubte, als er doch eine Bewegung am weißblauen Winterhimmel ausmachte. Ein winziger schwarzer Punkt bewegte sich in weiter Ferne und ihm stiegen die Tränen in die geblendeten Augen, als er weiter zu erkennen versuchte, ob er nicht doch einer Sinnestäuschung erlegen war. Was konnte schon so groß sein, das er es aus solcher Entfernung als Punkt am Himmel erkennen konnte, fragte er sich!
Der wandernde schwarze Punkt wurde nun rasch größer und erst jetzt überkam Arminius siedend heiß die Erkenntnis, was er da am Himmel auf ihn zukommen sah! Kein Vogel konnte diese gigantischen Ausmaße haben, dass er sogar noch als Fleck auf der Sonne sichtbar war, wenn er sich vor sie bewegte! Arminius schluckte hart und zog ruckartig an den Zügeln seines Tieres: Es war der schwarze Drache, den er dort am Himmel sah!
Die ominöse Kreatur, die in den vergangen zwei Monaten überall in Avarien Tod und Zerstörung verbreitet hatte.
Der Kopfgeldjäger spürte sein Herz schlagen und verfolgte trotz heftig tränender Augen weiter die Flugbahn dieses Wesens, von dem er bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht recht hatte glauben wollen, das es existierte! Größer und größer wurde der Punkt am Winterhimmel und jetzt erkannte Arminius erste Bewegungen des Ungeheuers: es schlug mit seinen schwarzen Flügeln!
Wie unglaublich schnell sich dieses Wesen in der Luft bewegte, staunte er nur starr vor Faszination und Schrecken: in nur wenigen Augenblicken war der Punkt zu einem Fleck von dem vielfachen seiner Größe angewachsen. Dieser Drache schoß zehnmal schneller durch die luftigen Höhen, als der Bolzen einer Armbrust!
Riesenhaft und pechschwarz war die Kreatur, die direkt auf ihn zugeflogen kommen schien. Seine Hand schloss sich um den Knauf seines Schwertes, wie unsinnig diese Reaktion auch sein mochte, es war tröstlich für ihn, den harten Stahl unter seinem Handschuhleder zu spüren!
Als er bereits die genauen Konturen des schwarzen Bestie erkennen konnte- Hals, Flügel, Rumpf und den langen Schweif, stieß der Drache plötzlich im Sturzflug in die Tiefe des Tales hinab, wie ein monströser Raubvogel! Arminius hielt den Atem an.
Er vernahm aus der großen Tiefe kein Geräusch, als der Drache sich auf der schneebedeckten Scheune niederließ und diese in sich zusammenfiel, wie ein Kartenhaus. Der lange schwarze Schweif der Bestie peitschte durch die Luft und riss die Stützpfeiler unter dem Getreidesilo weg, dass dieser kippte und zerbarst. Arminius riss die Augen noch weiter auf, als die Bestie ihr langes Maul öffnete und ein Flammenmeer wie eine kugelige Wolke daraus hervorbrach und das gesamte Wohnhaus zerfetzte!
Diese brüllheiße Druckwelle konnte niemand überlebt haben: als die Flammen sich auflösen, erkannte der Kopfgeldjäger, dass nur noch das gemauerte Fundament mit Kamin und die Stützpfeiler das Hofes intakt waren. Der geschwärzte und teilweise noch brennende Rest des Gebäudes und seiner Bewohner lag - wie ein grauer Fächer im weißen Schnee ausgebreitet - hinter dem Hof, als hätte ein Riese Holzasche von seiner Hand in die weiße Wiese gepustet.
Ein weiterer, peitschender Hieb des Drachenschweifes fegte das Dach vom Viehstall und wie eine zustoßende Schlage schoss der Kopf der Bestie in das offene Gebäude hinein. Rinder, kaum größer als schwarze Punkte, wurden links und rechts aus dem langen Ställen geschleudert, als der Drache mit seiner Schnauze durch die Ruine fuhr, wie ein wilder Eber durch weiche Erde auf der Suche nach Würmern und Engerlingen.
Jetzt packte der Drache ein verbleibendes Rind nach dem anderen, zerbiss und verschluckte sie wie ein Mensch eine trockene Kante Brot. Ein letztes Rind nahm das Ungeheuer ins Maul, stieß sich vom Boden ab und bohrte sich wie ein Pfeil senkrecht in den Himmel. Unter ihm blieb die Trümmerlandschaft eines eben noch stolzen Bauernhofes zurück. Der ganze Vorgang hatte kaum ein paar Atemzüge gedauert, zwischen Landung und Abflug des Drachens war nur ein Moment vergangen und doch war von den vier Gebäuden nichts mehr übrig, dass noch irgendeinen Wert hatte.
Dieses Monster könnte in einer Viertelstunde eine komplette Großstadt dem Erdboden gleichmachen, sie in eine Wüste aus Asche und Staub verwandeln! Arminius zitterte am ganzen Körper und verfolgte mit rasendem Herz den weiteren Aufstieg der Kreatur in den leuchtenden Abendhimmel.
So weit entfernt, wie ein Berggipfel vom Tal zu seinen Füßen,  rauschte der Drache schließlich über ihn hinweg. Etwas fiel aus der Höhe herab, derweil der Drache weiter in Richtung Norden flog.
Klatschend wie ein vollgesogenes Kleidungsstück schlug keine vier Schritt neben Arminius das gefallene Etwas auf, wurde völlig vom Sturz zerschmettert und spritzte seinen roten Lebenssaft weiträumig nach allen Seiten in den weißen Schnee.
Sein Herzschalg beruhigte sich jetzt wieder, aber als er den warmen, in der Winterkälte dämpfenden Kadaver sah, wurde ihm blitzartig furchtbar Übel. Arminius erkannte den blutigen Brei aus Haut, Fleisch und Knochen als die Hälfte einer Kuh mit Kopf und Vorderläufen. Der Drache schien sie sauber in der Mitte durchgebissen zu haben, hatte ihren schweren Leib zertrennt, wie ein scharfes Messer ein Stück zartes Fleisch. Das Blut des Tieres war bis auf die Satteldecke seines Pferdes gespritzt und obwohl er sich von dem matschigen Gewebebrei abwandte, drehte sich jetzt sein Magen um. Arminius riss sich den Schal von Nase und Mund, beugte sich zur Seite und würgte konvulsivisch.
Als sein Magen nichts mehr hergab, spuckte er mehrere Male noch aus, lenkte aber schnell sein Pferd weiter. `Nur fort von diesem Ort´, dachte er sich.  Jetzt war er sicher, dass es die richtige Entscheidung war, seine Beute solange zu verfolgen, bis sie ihm zu der Waffe geführt hatten, mit der dieses schwarze Ungeheuer unschädlich gemacht werden konnte! Wie sollte er seinen erworbenen Reichtum genießen, wenn zu jeder Stunde jeden Tages diese Bestie plötzlich entscheiden konnte, ihn und seinen Besitz zu zermalmen?
Bitter schmeckte Arminius seine eigene Galle auf den Lippen. Er hatte eine Gestalt aus den Schauergeschichten für Kinder mit eigenen Augen gesehen und überlebt! Seine Beute konnte den Drachen nicht gesehen haben, sie befand sich auf der anderen Seite des Berges und würde sich weiterhin in Sicherheit wähnen. Hätten sie die Bestie sehen können, wäre es für Arminius ungleich schwerer geworden, ihnen unbemerkt zu folgen. So aber – dessen war sich der Kopfgeldjäger sicher – würden die drei Männer und das dicke Mädchen weiterhin arglos sein, weil sie sich in keinerlei Gefahr zu befinden glaubten. Ein eisiger Höhenwind kam auf und brachte vereinzelte Schneeflocken. Arminius seufzte und blickte lächelnd in Richtung der bald untergehenden Abendsonne: er liebte seinen Beruf!

                          Cedrick
Seit sie in die in den Schatten des Berges geritten waren, war die Temperatur um viele Grade gefallen. Cedrick war diese Kälte nicht gewohnt. Noch nie in seinem Leben war er so hoch im Norden gewesen und Berge wie diese, deren Kuppen das ganze Jahr unter massiven Schichten von Schnee und Eis begraben blieben, hatte er auch noch nie gesehen! Es dämmerte bereits, dass ihnen die hereinbrechende Dunkelheit bald zum rasten zwingen würde, denn nichts war gefährlicher, als fernab der Wege durch das Gebirge auf einem Untergrund zu reiten, den sie unter dem Schnee nicht erkennen konnten. Bislang hatten sie Glück gehabt: Keines der Tiere war umgeknickt und lahmte jetzt oder hatte sich gar bei einem Fehltritt die Beine gebrochen.
Cedrick blickt die steil ansteigende Felswand vor sich hinauf! Selbst mit Steigeisen und Krallenschuhen war dieser Berg eine Herausforderung: senkrecht ansteigende Wände oder bröcklige Steilhänge, die nur von den Wurzeln verkrüppelter Sträucher und Gräser festgehalten wurden. Er hoffte nur, das sie nicht noch tiefer in die Gefroreren Berge vordringen mussten. Nicht, weil er die dort ansässigen Barbarenstämme fürchtete, von den rauhen Nordmännern, die einst in blühende Siedlungen lebten, waren nur noch ein Frauen, alte Männer und kleine Kinder übrig geblieben. Nachdem die Barbaren von den Adepten benutzt worden und in Avarien eingefallen waren, hatten die Ritter des Eisernen Mantels und die Schwarzen Greifen fast alle von ihnen in epischen Schlachten aufgerieben und getötet. Für die nächsten Jahre würden die überlebenden Barbaren sicher dankbar sein, wenn sie über den Winter kamen und keine Eingriffe von außen abzuwehren hatten! Was Cedrick tiefer in der Gefrorenen bergen fürchtete, war die drohende Gefahr, einzuschneien oder irgendwo abzustürzen! Die Winterzeit halbierte sich gerade in diesen Tagen und der junge Greif schaute immer wieder besorgt in den Himmel nach den drohenden dunklen Wolken. Oft waren sie schon durch Wolkenbänke hindurch geritten, die noch dichter und undurchdringlicher gewesen waren, als jeder Nebel, den er erlebt hatte. Viele erstaunliche Erfahrungen hatte Cedrick in den letzten Wochen und Tagen gesammelt, selbst der Ritt durch Wolken gehörte dazu, die für ihn bislang nur die unerreichbaren Formationen am Himmel gewesen waren! Das faszinierendste war aber der Anblick des Zeisalgletschers weit im Norden! Wie eine Schlange, wie ein gewaltiger Fluss, wand sich der Gletscher durch das halbe Gebirge! Wenn man den Kartographen glauben schenken durfte, hatte dieser größte aller Gletscher der Gefrorenen Berge mehr Endmoränen, als Cedrick an Jahren zählte. Der eisige Leib des Zeisalgletschers musste vom Himmel aus betrachtet wie bläulich-weißer Sand aussehen, der sich in vielen Tälern, Schluchten und Rissen der Berge festgesetzt hatte, als hätte eine riesige Hand ihn dort hinein gestreut.
Eine sehr unliebsame, hohe und sanfte Stimme, störte ihn in seinen Gedanken auf: sie fühlte sich in seinen Ohren an, als würden eiskalte Fingerspitzen sacht von oben nach unten über seine Brust streicheln. „Wonach suchen wir eigentlich?“ maulte Mirjásannáhs weiche Stimme.
`Nach dir wird jedenfalls keiner suchen, wenn du uns verloren gehst,´ dachte Cedrick nur und blickte sich giftig nach ihr um.
„Das kann ich dir nicht sagen, Mirja,“ antwortete der König mit wenig Begeisterung für diese Frage in seiner Stimme. „Wir suchen eine untergegangene Kultur, vermutlich Unterirdisch. Wir suchen einen Zugang zu ihrem Reich.“
„Das weiß ich doch!“ jammerte die Dicke zurück und Cedrick bis die Zähne zusammen. Wenn sie zu dämlich war, ihre Frage präziser zu formulieren, warum schwieg sie dann nicht? Nicht nur quälte das verwöhnte Gör sie jeden Abend und jeden Morgen mit ihren unendlich hochnäsigen und nervtötenden Selbstverherrlichungen und ihrem Gejammer, wie furchtbar und beanspruchend diese unbequeme Reise doch für sie zartes Geschöpf wäre.  Jetzt fing sie auch noch an, sie unterwegs mit ihrem aufdringlichen Gemaule zu belästigen!
„Ich meine, woran erkennen wir, dass wir möglicherweise einen Zugang zu dem Reich gefunden haben, wenn wir ihn sehen?“ fragte sie jetzt weiter.
Cedrick wandte seinen Blick wieder von ihr ab. In den dicken Winterpelzen, sah sie aus, wie ein fetter Mopshund, mit dem sich einer den Spass erlaubt hatte, ihn eng in ein Dachsfell einzuwickeln. Wie konnte ein Mensch nur so aufgehen, wie ein Hefeteig auf dem Ofensims? Die kleinen Rationen auf ihrer Reise mussten für die verwöhnte Mirjásannáh geradezu eine Hungerkur bedeuten, grinste Cedrick hämisch. In Loriélien war sie es sicher gewohnt gewesen, jede Woche ihr Eigengewicht in Schmalzgebäck und Törtchen mit Cremefüllung zu essen. Zudem fand ihr Gaumen an dem salzigen Pemmikan, den Winteräpfeln und dem doppelt gebackenen Brot bestimmt keine Freude.
„Überlasse das Auffinden eines Einganges einfach uns,“ gähnte Greganor. „Konzentriere du dich auf das Reiten.“
„Ich meine ja nur, das vier paar Augen mehr sehen als, drei!“ gab die Dicke anbiedernd zurück. Cedrick lächelte schäl, als er Mirjásanná wieder anblickte: Es suchten bereits vier paar Augen nach einem Eingang. Jannick und Greganor hatten es nur bisher gemieden, dem Mädchen Ran vorzustellen! Die schöne Wichtfrau verbrachte die meiste Zeit in ihrer behaglichen Vierzimmer Wohnung, die ehemals ein Puppenhaus für reiche Kinder gewesen und zum transportablen Wichthaus umgestaltet worden war. Jannick selbst hatte die Puppenmöbel fest an den Boden des Kastens gedübelt, Trennwände eingezogen und eine vierte Wand als auch ein Dach mit Luftlöchern an dem Puppenhaus befestigt. Cedrick schmunzelte bei sich: für Ran musste die Reise wie die reinste Vergnügungsfahrt sein, denn die kleine Frau hatte scheinbar kein großes Bedürfnis, ihr gemütliches Heim zu verlassen! Ihr musste der Ritt durch die Berge wie eine Schiffsreise unter Deck erscheinen: Ihre Räume schwankten zwar hin und her und es war nicht sonderlich hell, dafür aber konnte sie bequem in einem Sessel sitzen und hatte es warm! Cedrick mochte die zierliche Ran: Sie war immer freundlich zu ihm, nie aufdringlich und ließ ihn völlig in Ruhe, wenn sie nicht gerade alle gemeinsam etwas erörtert hatten.
„Mit meiner Brille sehe ich scharf wie ein Adler!“ unterbrach Mirjásannáh Cedricks Gedanken, als der König nicht sogleich auf ihren Vorschlag eingegangen war und sie sich wohl genötigt gefühlt hatte, weiter zusprechen, um keine unangenehme Gesprächspause entstehen zu lassen. Cedrick betrachtete abschätzig die beiden Flaschenbödendicken Glasscheiben, die nur von einem fragilen Gestell auf ihrer winzigen Nase gehalten wurden. Ohne ihre Augengläser hätte sie ein dressierter Maulwurf an der Leine wahrscheinlich sicherer am hellichten Tag geführt, als ihre eigenen Augen!
Greganor stöhnte jetzt: „Geheime Tunneleingänge in den Gefrorenen Bergen werden meist von einäugigen Bachstelzen mit gelben Kamm und blauen Schwanzfedern bewacht, halte also nach so Vögeln Ausschau!“
Das anbiedernde Lächeln verschwand jetzt aus dem pausbäckigen Gesicht und Mirjásannáh stieß nur demonstrativ die Luft durch ihre Stupsnase aus, ritt an dem König vorbei, um dem unglücklichen Adepten ein Gespräch aufzuzwingen. Cedrick ärgerte sich über sie!
„Baron Jannick,“ begann sie in so gezuckerten Worten, dass man allein vom Zuhören schon an Pfunden zulegte. „Was glaubt ihr, ist an den Gerüchten über diesen schwarzen Drachen alles wahr und was erfunden? Kann eine so große Lebensform überhaupt fliegen? Glaubt ihr außerdem, dass sie tatsächlich Feuer spucken kann, wie die Esse einer Schmiede?“
Jannick schien nicht direkt antworten zu wollen, als überlegte er, was er dem lästigen Mädchen von dem, was er vermutete oder wusste, preisgeben durfte. Cedrick spitzte jetzt aber auch die Ohren. Diese Fragen brannte ihm schon länger auf der Zunge, aber er hatte sich aus diversen Gründen bislang noch nicht überwinden können, sie jemandem zu stellen.
„Ich vertraue den Berichten der Augenzeugen in allen Details,“ setzte der Adept schließlich an. „Auch wenn dieses Wesen einige Besonderheiten verschiedener, mir bekannter Tierarten, auf so geniale Weise in sich vereint, dass die Fähigkeiten dieser Lebensform geradezu erschreckend groß sind! Womöglich weit größer, als die Berichte vermuten lassen!“
Mirjásannáh schwieg vornehm, wandte aber ihren Blick keinen Handbreit vom Gesicht Jannicks, damit dieser seine Erzählung bloss nicht abbrach!
„Zunächst der gewaltige Körper des Drachen, wie ihn der Volksmund getauft hat! Die Beweglichkeit der Bestie weißt darauf hin, dass der Drache kein Wechselwarmer Organismus wie beispielsweise ein Salamander ist, der bei Kälte zunehmend unbeweglich wird! Auf der anderen Seite ist es der geringen Hautoberfläche eines so gewaltigen Landtieres schlichtweg unmöglich, die überschüssige Eigenwärme abzugeben: Wie ein gestrandeter Blauwahl, der dem kühlen Meerwasser entrissen wurde, irgendwann kollabieren würde, weil seine erhöhte Körpertemperatur ihn töten würde, wie einen kranken Menschen das Fieber!“
Cedrick schüttelte fast unmerklich den Kopf: mit welchem wissenschaftlichen Unfug der Adept sich alles beschäftigt haben musste, um solche Theorien zu spinnen! Cedrick selbst hatte sich schon kaum für seine Unterrichtsfächer in Greifenfels begeistern können, auch wenn er ganz leidlich in allem bewandert war! Allein die praktischen Waldläuferkünste und Einzelkämpfertaktiken hatten ihn über das Schulwissen hinaus noch zum Eigenstudium anregen können!
„Wie kann also ein so großes Landtier existieren, ohne an einem Hitzeschlag zu sterben. Weiter stellte sich die Frage, wie ein so schweres Wesen überhaupt fliegen kann: Je größer die Flügel, desto größer schließlich auch die Muskelmasse, um diese zu bewegen. Auf diese beiden Fragen, als auch auf das Phänomen der Feuerspuckens gibt es eine einfache Erklärung!“
„Nun!“ knurrte Greganor nun wieder besser gestimmt von hinten, der den Ausführungen seines Freundes augenscheinlich auch gefolgt war! „Wie ist die Lösung?“
Jannick grinste: „Der Drachenkörper ist kein massiver, wie der anderer Landtiere! Nein, in seinem Körper muss er zahlreiche Hohlräume geben: so, wie beispielsweise die Schwimmblase eines Fisches mit Luft gefüllt ist, um ihn ohne eigene Anstrengung im höheren Wasser zu halten, so sind die Hohlkörper des Drachens mit Gasen gefüllt! Gasen, die leichter als Luft sind, wie das Gas in Grasas Luftschiff! Auf der einen Seite wird so der Körper der Kreatur durch zu gewaltige Fleischberge bei zu wenig Hautoberfläche nicht überhitzt, auf der anderen ist der Drachenkörper viel leichter, als es von außen den Anschein hat!“
„Und das Feuer?“ hakte Greganor nach.
„Zunächst einmal noch zu den Gasblasen,“ der Adept zügelte sein Pferd, langsamer zu reiten, denn sie ritten jetzt durch ein Gebiet, dass von mehreren Rinnsalen durchzogen wurde, dass unter dem Schnee gelegene Eisschichten für ihre Pferde gefährlich werden konnten. „Diese Gasblasen werden vermutlich von dicken Schleimschichten geschützt, dass sie nicht das Fleisch und die Knochen des Drachen zersetzen! Wie unsere Schleimhaut im Magen verhindert, dass wir uns selbst verdauen. Die Gase sind nämlich ätzender Natur! In der Tierwelt gibt es einen Skarabäus mit ganz ähnlichen Gaskörpern!“
„Skarabäus bedeutet Käfer!“ meinte Mirjásannáh plötzlich mit einer raschen Kopfdrehung zu Cedrick, als würde sie einem dummen Kind einen Bissen Bildung zuwerfen! Zähneknirschend schluckte er diese völlig überflüssige Bemerkung mannhaft herunter.
„Diese sogenannten Bombardierkäfer können zu ihrer Verteidigung ein brüllend heißes Gas ausstoßen, der Drachen selbst nun hat vermutlich zwei oder mehr Gasdrüsen in seinem Maul. Vermischen sich die Gase und reagieren mit der Luft, entzünden sie sich. Das Feuer kommt also nicht aus dem Rachen des Drachen, was ihn schließlich selbst Verbrennungen beibringen würde. Der Drache spuckt kein Feuer, er versprüht mit großem Druck Gase, die sich erst außerhalb seines Maules verbinden und entzünden! Grasa könnte vermutlich Genaueres erklären.“
„So, als ob man nach einer Bohnen Mahlzeit einen fliegen lässt und eine Kerzenflamme hinein hält!“
Der Adept lachte über die Bemerkung des Königs: „Nein, ich denke, es geht kontrollierter und heftiger ab! Die Drachenflamme wird einige Wucht haben, wie eine Sturmböe, weil das Gas mit einer sehr hohen Geschwindigkeit ausgestoßen wird!“
„Wenn der Drache also zu fiel Feuer spuckt, wird er zunächst fluguntauglich und stirbt vielleicht sogar, weil sich sein Organismus zu sehr erhitzt?“ Mirjásannáh blinzelte Jannick unter ihrer wuchtigen Brille her an: „Aber ihr erwähntet, der Drache habe vielleicht noch andere Eigenschaften!“
„Nun,“ fuhr Jannick fort, „vielleicht kann die Kreatur wie auch ein Bombardierkäfer einfach nur kochendheißes Gas ausstoßen, ohne, dass es sich an der Luft entzündet. Oder er verbindet das ätzende Gas mit einer anderen Körperflüssigkeit, einem erhöhten Speichelfluss beispielsweise, und versprüht zersetzende Säure!“
„Wie ekelhaft!“ ließ Mirjásannáh vernehmen.
„Wie tödlich!“ zischelte Cedrick genervt. Die Dicke hatte wohl noch immer nicht begriffen, dass ihre Mission nicht darin bestand, den Drachen zu erforschen, sondern darin, ihn möglichst gründlich zu erledigen!
„Ätzende Drachenspucke ist trotzdem auch ekelhaft!“ erwiderte Mirjásannáh mit erhobener Nase.
`Nicht so ätzend, wie deine Gegenwart´, dachte sich Cedrick und überlegte, ob das Mädchen ihre dumme Bemerkung nur wiederholt hatte, um zu zeigen, wie weiblich sie war, Schleim nachdrücklich als ekelhaft zu empfinden.
„Merkwürdig!“ Jannick beobachtete weiträumig die Schneeschicht zu den Hufen ihrer Tiere. „Die Rinnsale scheinen hier irgendwie alle zu versickern! Es werden immer weniger!“
„Unmöglich,“ grunzte Greganor. „Der Boden hier ist wenig weicher als massives Gestein, hier kann nichts versickern! Unter dem Schnee und der steinigen, wie dünnen Erdkruste liegt doch auch schon undurchdringlicher Fels!“
„Ja,“ murmelte Jannick und fuhr sich über sein Kinn. „Aber die Rinnsale werden weniger! Irgendwie müssen sie doch von dieser Hochebene verschwinden!“
„Vielleicht hast du dich einfach in der dräuenden Dunkelheit verzählt, oder die Rinnsale sind abgeknickt, ohne, dass wir es bemerkt haben!“
„Vielleicht,“ gestand Jannick, „aber vielleicht gibt es auch noch eine bessere Erklärung!“
Die Erkenntnis durchzuckte Cedrick wie ein Blitz, als sich seiner eine Erinnerung an die bergige Gegend seiner Kindertage bemächtigte!
„Eine Tropfsteinhöhle!“ Sein plötzlicher Ausruf wurde dabei von Mirjásannáhs Stimme gedoppelt. Sie sahen sich giftig an! Woher wusste dieser dralle Mops von Tropfsteinhöhlen? Sie hatte ihr Leben lang garantiert doch nur Speisesäle und –Kammern  gesehen!
„Das Wasser versickert in einer Höhlendecke,“ ereiferte sich Cedrick jetzt aber, um dem Mädchen zuvor zu kommen. „Die Wassermengen sind so gering und der Stein so hart, dass sich hier kein Flusstal gebildet hat, sondern Stalagtiten in einer unterirdischen Höhle!“
„Eine unterirdische Höhle,“ äffte ihn Mirjásannáh nach. „wie clever! Jetzt sag mir nur noch, dass Flüssigkeiten flüssig sind und Quadrate vier Ecken haben!“
„Es gibt auch ebenerdige Höhlen!“ spie er hervor.
„Und worunter liegen die? Doch wohl unter Erde!“
„Ruhe jetzt! Wir haben jetzt keine Zeit für kindisches Gezänk!“ unterbrach sie Greganor barsch. Cedrick lief wieder rot an und wandte sich bald Zorn entbrannt von Mirjásannáh ab. Was machte er sich überhaupt die Mühe, mit ihr zu streiten? Ab sofort würde er sie nur noch ignorieren, wie er es eigentlich die ganze Zeit schon getan hatte! „Vielleicht habt ihr Recht, und es ist eine Tropfsteinhöhle! Vielleicht besteht sogar die Möglichkeit, dass sie uns unserem Ziel näher bringt. Wir werden schleunigst einen Zugang suchen und vielleicht finden wir sogar einen vor Einbruch der Nacht! Gute Arbeit, ihr beiden!“
Cedrick fand keine Freude an dem Lob, er drückte seine behandschuhten Fäuste abwechselnd jeweils in die hohle andere Hand, bis die Fingergelenke knackten! Mirjásannáh war Schuld, dass der König ihn wie ein Kind gescholten hatte, wie einen ungezogen Jungen und nicht, als den mächtigen Beschützer, der er war! Überhaupt fühlte er sich in der Gegenwart der Dicken ständig wieder, wie ein Kind, wurde willkürlich bei ihrem Anblick zornig und kam sich richtiggehend klein vor! Vielleicht, weil das Mädchen ihm keinen Respekt entgegenbrachte, weil seine Fähigkeiten in ihren Augen nichts Wert waren, sie nicht beeindruckten. Sie sah vielleicht auf ihn herab, aber er wusste, wer er war und was er konnte!

Die Hochebene wurde von einer steil abfallenden Spalte halbiert und in dieser schmalen Spalte hofften sie eine Öffnung im Fels zu der Höhle zu finden, die sich vermutlich darunter verbarg. Das rasch abnehmende Tageslicht hatte sie gezwungen, erst einmal ihr Lager aufzuschlagen, die Pferde zu versorgen und selbst etwas zu sich zu nehmen, bevor sie nicht mehr die Hand vor Augen sagen. Nach dem dürftigen Abendessen, dass selbst Cedricks Magen nicht zufrieden gestellt hatte, band der Adept jedoch ein Seil um den Sattelknauf seines Pferdes und legte das andere um seine Hüfte gelegt.
„Cedrick führst du das Tier so, dass ich langsam an dem Seil in die Schlucht hinab gleiten kann, wie ein Eimer in einen Brunnen? Die Dunkelheit der Nacht soll uns nicht daran hindern, voranzukommen, solange wir noch munter sind!“
Cedrick nickte, nahm das Pferd am Zaumzeug und führte es von der Spalte weg, bis das Seil zwischen ihm und Jannick gespannt war.
„Okay, ich lasse mich jetzt in die Spalte hinab!“ rief der Adept ihm aus einiger Entfernung zu, packte das Seil mit beiden Händen und ließ sich rücklings in die Spalte Kippen. Es war für Cedrick nicht ganz einfach, das große Pferd langsam Rückwärts gehen zu lassen, aber das Tier fügte sich dann doch und Schritt für Schritt sank der Adept in die Schlucht hinab. Aus der Tiefe hörte Cedrick die hallenden Schläge von Metall auf Stein, wenn Jannick mit dem Steigeisen den Fels auf dahinter verborgene Hohlräume untersuchte. Der junge Greif versprach sich nichts davon. Ihre ganze Reise war ohnehin eine Farce! Sie wussten nicht, was sie suchten, sie wussten nicht, ob das, was sie finden würden, ihnen überhaupt nutzen würde und sie hatten noch nicht einmal die richtigen Werkzeuge, um in geeigneter Weise ihre Suche voranzutreiben. Sie waren nicht mit einem Heer von Bergsteigern, Karthographen, Gesteinskundigen oder Prospektoren aufgebrochen, sie hatten kein Kader von gebildeten Männern im Schlepptau, die Funde hätten einordnen und auswerten können. Nein, sie waren klammheimlich als eine Gruppe von drei Männern, die sich nur ganz ordentlich mit Fährtenlesen auseinander gesetzt hatten, einer schwachen Wichtfrau und einem sehr dicken, verwöhnten Mädchen aufgebrochen. Sie würden vermutlich wochenlang durch das Gebirge irren, bis ihnen die Nahrung zur Neige ging und sich darauf geschlagen auf den Rückweg machen müssten.
Greganor trat jetzt an die Kante der schwarzen Schlucht heran, als sei sie nur eine gewöhnliche Treppentufe, formte seine Hände zum Trichter und rief in die Tiefe: „Kannst du was sehen?“
„Besser, als bei Tageslicht,“ hallte es fröhlich hinauf. „Keine blendenden Sonnenstrahlen.“
Ein Ruck am Seil bedeutete Cedrick, dass er das Pferd wieder ein paar Schritt rückwärts führen sollte.
„Meinst du, das bringt etwas?“ Rief Greganor wieder nach unten. „Pickelschläge auf den Fels, das kann doch Tage dauern!“
„Stimmt! Mein Gehör ist nicht geschult genug: Wenn ich erkennen könnte, ob die Töne um Nuancen tiefer oder höher werden würden, könnte ich mich auf die dünnste Wand zuarbeiten! Kannst Ran überreden, herab zu kommen?“
„Schon unterwegs!“
Cedrick folgte dem König mit seinem Blick. Rans kleine Wohnung stand in Jannicks aufgeschlagenem Zelt, auf das Greganor jetzt gemächlich zustapfte. Cedrick war nur froh, dass auch Mirjásannáh sich schon in ihr kleines Zelt verkrochen hatte, wo sie mit Sicherheit in einem unruhigen Schlaf von einem langen Tafel voller Obsttorten träumte!
Greganor steckte den Kopf in Jannicks Zelt und flüsterte unverständliche Worte. Nur wenige Augenblicke später steckte er auch seine Hand hinein und zog sie mit der in Kaninchenfell gekleideten Ran auf seinem Handteller wieder hervor. Er brachte die winzige Frau an den Rand der Klippe, wo sie einfach beide Beine und Arme um das Seil schlang und daran hinunter in die Dunkelheit sauste.
Cedrick fragte sich gerade, ob es der schönen Ran besonders gut oder besonders schlecht ging, dass sie die Tage bis zum Abend ganz allein verbrachte. Wollte sie einfach nur ihre Ruhe oder kam sie nicht damit klar, sich freiwillig von ihrem Säugling getrennt zu haben, um sich auf eine gefährliche Reise zu begeben? Vielleicht weinte sie viel und wollte nicht, dass sie alle sie so sehen würden? Cedrick wunderte sich über seinen Gedanken, für gewöhnlich scherte er sich nicht um die Bedürfnisse anderer, ja, nicht einmal seiner eigenen, aber die kleine Wichtfrau tat ihm Leid!
Wieder hallten hohe Schläge aus der Tiefe hinauf und wieder wurde an dem Seil gerissen. Das Pferd wurde zunehmend nervöser, denn sie hatte sich schon bis auf wenige Schritte dem Abhang genähert.
Cedrick kraulte dem Tier mit dem freien Handschuh die spitzen Ohren und sprach beruhigend auf es ein. „Alles in Ordnung, Weißer, du wirst schon nicht stürzen, wir brauchen dich noch für den Rückweg!“
Als er mit dem Pferd bald darauf direkt an der Kante zur Schlucht stand, kam endlich aus großer Tiefe der befreiende Ruf: „Okay, zieh uns wieder hoch!“ Das Schimmel schnaubte freudig und zog Ran und Jannick wieder in die Höhe.
„Lass uns diesmal zwanzig Schritt weiter rechts in die Schlucht hinab!“ rief ihm der Adept - wieder oben angekommen - zu und sie wiederholten die Prozedur.
Immer tiefer glitt das schwere Tau zurück in die Spalte hinab, wieder und wieder erklangen die vertrauten Hammerschläge, bis Cedrick auf einmal stutzte! Der letzte Ton hatte deutlich unter dem Ton davor gelegen! Er drehte seinen Kopf seitlich in Richtung der Schlucht, um besser die empor hallenden Klänge aufnehmen zu können.
Ganz eindeutig, die Klänge wurden tiefer, so, als arbeite man sich mit Trommelschlägen von deren Rand langsam auf die Mitte der Trommel zu! Sein Herz schneller: würden sie tatsächlich eine Wand finden, die dünn genug war, sie zu durchbrechen und in eine Höhle zu gelangen?
Die nächsten Schläge des Kletterpickels gegen die Felswand wurden wieder heller, aber als Jannick mit Ran auf der Schulter in der inzwischen fast völligen Dunkelheit wieder über dem Klippenrand erschien, sah man im fahlen Licht der wolkenverhangenen Monde seine Zähne weiß Aufleuchten: „Wir müssen noch einmal hinunter, vielleicht keine vier Schritte weiter links!“
Greganor kauerte jetzt geduckt am Rand und versuchte wohl in der schwarzen Tiefe etwas zu erkennen, wandte sich aber bald wieder enttäuscht ab. Wieder und wieder stiegen helle Schläge aus der Tiefe und Cedricks Aufregung hatte sich fast gänzlich verflüchtigt, als ein ungewohnt dunkler Klang und darauf ein helles Jubeln zu ihnen hinauf hallte.
„Achtung!“ rief jetzt Jannicks widerhallende Stimme aus der Tiefe und ein heftiger Schlag gegen den Fels ertönte. Cedrick schrak zusammen, als plötzlich der Boden unter seinen Füßen ganz sanft, wie eine angeschlagene Stimmgabel, vibrierte! Sie alle mussten auf einer gewaltigen Höhle stehen, dass ein einziger Schlag das ganze Gewölbe zum Klingen brachte!
„Eine richtige Höhle!“ jauchzte es aus der Schlucht. „Zieh uns herauf, Cedrick!“
Das ließ er sich nicht zweimal sagen, packte den Schimmel fest am Zaumzeug und zog ihn voran! Eine einsame Schneeflocke ließ sich in diesem Moment auf seiner Nase nieder und schmolz zu einem kalten Tropfen. Kaum waren stand mit Ran auf seiner Schulter wieder auf den grauen Schnee in der schwarzen Nacht, segelten weitere dunkle Flocken vom Himmel. Es begann zu schneien.
Greganor ergriff jetzt den einzigen Kochtopf, den sie mit sich führten, und die dicke hölzerne Rührkelle, um sie unter donnernden Schlägen auf den Kesselboden niederfahren zu lassen. Das Echo hallte von dem gegenüberliegenden Berghang wieder und es dauerte nicht lange, bis kleiner Kopf unter einer völlig zerzausten Lockenpracht aus dem kleinen Zelt nach der Ursache des Lärmes schaute. „Los, Mirjá, auf die Beine und pack dein Zelt zusammen! Wir seilen uns in die Schlucht ab, ehe uns der Schnee unter sich begräbt!“
Cedrick hätte etwas dafür gegeben, in diesem Moment das Gesicht des Mädchens in der Dunkelheit sehen zu können, aber er brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie entsetzt sie dreinblicken musste!
Greganor wandte sich jetzt ihnen zu:„Die Pferde müssen wir hier zurücklassen! Dort unter dem Felsüberhang ist eine geschützte Stelle, wo sie von Wind und Schnee unbehelligt bleiben werden. Das Futter stellen wir ihnen hin, aber in verschlossenen Säcken, dass sie die losen Kordel oder Gewebe erst zerbeißen müssen, um heran zu kommen. So werden sie auch nur so viel fressen, wie sie brauchen und nicht aus Futtergier oder Langmut ihren Vorrat vor der Zeit verzehren!“
Cedrick hielt diese Vorgehensweise für keine besonders gute Idee, ohne aber eine bessere zu haben, so schwieg er und machte sich daran, das aufgeschlagene Zelt, dass er sich mit Greganor teilte, wieder zusammenzufalten. Jannick stand jetzt mit den Rücken zu ihnen an der Kante zur Schlucht und wirkte unbeweglich, als Cedrick ein Knacken und Brechen aus der Felsspalte vernahm. Der Adept nutzte seine Kräfte scheinbar dazu, einzelne Felsen aus dem Massiv zu brechen und tatsächlich hörte Cedrick nach einer beängstigend langen Stille von dem fernen Boden der Schlucht die Geräusche splitternden Gesteins! Der Eingang zu der Höhle war frei!
Der Wind nahm stetig zu und war schon zu einem richtigen Rauschen angeschwollen, als sie sich von ihren sechs Pferden getrennt hatten und die dicke Mirjá endlich damit fertig geworden war, ihr Einzelzelt wieder in den Reisesack zu packen! Voluminöse Schneeflocken hatten sich in seinen Wimpern verfangen und der Wind war so kalt, dass sie nicht den Eindruck erweckten, bald schmelzen zu wollen! Die kleine Ran hatte sich längst an dem - inzwischen an einen Felsen gebundenen - Seil hinabgelassen und Cedrick staunte nicht schlecht über den Mut der Wichtfrau. Nicht nur, dass sie sich Kommentarlos in die tiefe Schlucht hinabgelassen hatte, sondern auch, dass sie den Schneid hatte, als erste die unbekannte Höhle in den Bergen zu betreten, als wäre es eine Selbstverständlichkeit für sie in finsteren Felsstollen umher zu wandeln! Bis auf Mirjásannáhs Zelt, hatten sie sogar schon ihr ganzes Reisegepäck am Seil hinabgelassen und in die Höhle schwingen lassen. Ran hatte darauf immer die Schlinge gelöst, dass sie das Seil wieder in die Höhe ziehen konnten, um weitere Gepäckstücke daran hinab zu lassen.
Jannick stand breitbeinig im tiefer werdenden Schnee und blickte gegen den Wind Himmelwärts in Richtung Westen. Greganor stapfte mit langen Schritten neben ihn und folgte seinem Blick, als gäbe es am Nachthimmel mehr zu sehen, als graue Wolken, hinter denen Schemenhaft der leuchtende Vollmond Parsweil zu sehen war, und Flecken schwarzen Sternenhimmels.
Cedrick wartete auf ein Zeichen, dass sie sich auch endlich aus dem aufkommenden Schneesturm in die sichere Höhle begeben würden. Obwohl ihm die Knie nicht vor Kälte zitterten, konnte er es doch kaum erwarten, endlich an dem Seil hinab in die Schlucht zu rutschen! Mirjásannáh trat neben ihn, umarmte sich selbst und trotz des brausenden Windes konnte er die Zähne des Mädchens klappern hören. Die dicke Brille schütze ihre Augen vor den getriebenen und wild taumelnden Schneeflocken, aber Cedrick musste verbissen seine dicht zusammenkneifen, um die Männer vor ihnen anzusehen. Die beiden hatten ihre Kapuzen in den Nacken gezogen, dass ihre Haare bald unter einer Decke grauer Schneeflocken verborgen war.
Die schnell wandernden grauen Wolkenbanken gaben jetzt den Blick auf den weißgelben Mond und den makellos schwarzen Himmel dahinter frei. Sie schwiegen alle vier eine Weile, bis Greganor Jannick auf den Rücken klopfte und lachend zu seinem Freund meinte: „Wir hätten die Höhle zu keinem besseren Zeitpunkt finden können!“
„Oder späteren Zeitpunkt,“ fügte Jannick in einer Lautstärke hinzu, dass sie gerade noch über den Wind zu hören war.
„Mann,“ der König kratzte sich nachdenklich mit seinem Handschuh den schneebedeckten Schädel, „und ich dachte in den letzten Tagen manches Mal, wir kämen hier nicht mehr lebend raus!“
Impulsiv drehten sich Mirjásannáh und Cedrick einander zu, doch als er anstatt in ihre Augen nur in ihre schweren nachtschwarzen Brillengläser blickte, wandte er sich übereilig wieder ab. Was ging es ihn an, was Greganor gedacht hatte und warum hatte er das Mädchen angesehen?
„Nein,“ stellte Jannick lakonisch fest, „nur Verzweifelte oder Verrückte wagen sich im Zenit der Wintermonate ins Gebirge!“
Der Adept blickte jetzt Mirjásannáh neben ihm an: „Greganor lässt sich als erster hinab, darauf folgst dann du!“
„Ich werde abstützen!“ quiekte jetzt eine gebrochen hohe Stimme, als würde das Mädchen jeden Augenblick vor Angst zusammenbrechen. Zwar hatte Cedrick auch einen Klos im Hals, aber solche Angst fand er lächerlich.
„Wir binden dir das Seil um die Taille und lassen dich langsam herab, dir kann nichts passieren!“
„Bitte nicht!“ piepste die völlig verzerrte Stimme wieder. Cedrick zweifelte keinen Augenblick daran, dass das dicke Mädchen tatsächlich abstürzen würde: vor lauter Angst würde sie Zappeln wie am Spieß und irgendwie aus der Schlinge rutschen!
Greganor und Jannick tauschten nur einen Blick. „Na, mach schon,“ verlangte Greganor jetzt von seinem Freund, „sie soll sich schließlich nicht weh tun!“
Die Augen des Adepten leuchteten jetzt bläulich aus seinem dunklen Gesicht und plötzlich erhob sich die dralle Mirjásannáh mit einem erstickten Quieken von den Füßen in die Luft!
Cedrick verfolgte mit offenem Mund, wie sie zum Abgrund schwebte und schließlich wie wild zu strampeln und zu schreien anfing, aber Jannick ließ sein dickes Paket unbeirrt und konzentriert hinab in die Finsternis gleiten. Cedrick sah ihr schadenfroh nach, packte ermutigt selbst das Seil und rutschte demonstrativ hinter ihr her in die Tiefe hinab! Unter ihm verschwand das schreiende Nervenbündel jetzt in einem schmalen Felsspalt der schroffen Wand und er glitt am Seil ebenfalls bis auf Höhe des Höhleneinganges. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Hände und Beine zitterten, aber er hatte es ganz allein geschafft, stieß sich kurz von der Felswand ab und schwang in die Höhle hinein!
Im schwachen Schein einer Ollämpe, die Ran schon entzündet haben musste, erkannte Cedrick den Boden und ließ das Seil los. Federnd landete er auf dem feucht glänzenden Boden des Höhleneinganges und vor ihm schwebte die inzwischen stocksteife Mirjásannáh zu Boden. Im Licht der Kerzenflamme sah ihr sonst pausbäckiges Gesicht gespenstisch fahl aus. Hätte er einen Zweig gehabt, wäre er versucht gewesen, sie damit zu pieken, denn rühren würde sie sich bestimmt nicht.
Nur einen Augenblick später landete mit einem theatralischen Ächzen Greganor mit dem Zelt des Mädchens unter dem Arm hinter ihm und bald darauf schwang sich Jannick durch den Höhleneingang.
„Na, siehst du, Mirjá,“ sagte der König fröhlich und zwickte dem leichenblassen Mädchen jovial in die fleischige Wange, „das war doch kein Akt, Kind, oder?“
„Du bist ein Barbar, Greganor!“ piepste jetzt die schöne Stimme der kleinen Ran und Cedrick sah sie aus der Dunkelheit auftauchen. „Das war gemein von dir und Jannick, das Kind ist doch ohnehin schon mit den Nerven am Ende!“
Mit fliegenden Schritten eilte die entzückende Wichtfrau ihnen allen entgegen, warf Greganor und Jannick einen bösen roten Blick zu und hüpfte dann, wie ein Heuschreck, auf den Schoß der erstarrt auf dem Boden kauernden Mirjásannáh: „Na, mein Liebes! Geht es dir gut? Jetzt bist du in Sicherheit! Hier in der Höhle kannst du dich erst einmal ausschlafen!“ Rief sie in weichen tröstenden Worten zu dem Gesicht über ihr hinauf.
Dass war Zufiel für Mirjásannáh: Cedrick konnte im Kerzenlicht gerade noch erkennen, wie das Mädchen zuerst mit weit aufgerissenen Augen Ran anstarrte und ihre Augen sich dann verdrehten, ehe sie wie ein praller Kleidersack zur Seite kippte und bewusstlos liegen blieb!
Es herrschte Stille in der Höhle, einen, zwei Lidschläge lang, dann prusteten Jannick und Greganor gleichzeitig los. Die Männer hielten sich bald die Bäuche vor Lachen und auch Cedrick wurde von ihrer Heiterkeit angesteckt: Sie waren den gefrorenen Bergen vorerst entkommen, hatten sich auch einem Schneesturm in den sicheren Fels gerettet. Notfalls könnten sie zwei Monate mit ihrer Nahrung und auskommen und frischen Schnee zur Trinkwassergewinnung herab holen! Auch seine zitternden Hände und Beine wurden schnell wieder ruhiger.
„Das hat ihr den Rest gegeben!“ gluckste Greganor und hatte die Augen so zusammengekniffen, dass sie tränten.
„Schatz, du bist einmalig!“ lachte auch Jannick und kniete sich vor seiner winzigen Frau nieder. Ran hatte nur patzig die Arme vor ihrer Brust verschränkt, aber die niemals lügenden Wichtaugen erzählten, dass der Schmollmund und ihr finsterer Blick nur gespielt waren!
„Ich glaube, das waren die schrecklichsten Tage in ihrem jungen Leben und du hast sie perfekt gemacht!"
„Das war ein Versehen!“ verteidigte sich Ran wahrheitsgemäß.
Jannick sah sie beglückt an und Cedrick bewunderte den Mann dafür, dass er sich so freuen konnte! Ob er jemals auch eine Frau aus solch offenherzigen Augen anschmachten konnte, frei von allem Leid, dass ihn gerade zerfrass?

Sie hatten eine kurze Nacht erschöpften Schlafes hinter sich, als Greganor sie alle mit gewohnter Holzhammermethode aus den sehnsüchtigen Träumen riss: Wieder schlug er die Suppenkelle auf den Boden des Kochtopfes. Die Resonanz der Höhle verstärkte aber den ohnehin schon gemeinen Ton um ein Vielfaches, dass Cedrick nach nur einem Augenblick aus seinem Schlafsack gekrochen und zu Appell vor das Zelt getreten war. Gerade aus einem Traum von warmen Mahlzeiten und einem heißen Bad aufgestört milderte der Anblick Mirjásannáhs doch seinen Groll über das abrupte Wecken: Das Mädchen kam völlig überrascht und ohne ihre Augengläser aus ihrem Zelt gekrochen, blickte angestrengt in die Dunkelheit und richtete sich dann ebenfalls zum Appell auf.
Der König hatte die militärische Disziplin nur wegen dem dicken Mädchen eingeführt, auf der Reise nach Kantila waren sie entspannter aufgestanden. Anscheinend wollte Greganor gar nicht erst den Eindruck entstehen lassen, dass das verwöhnte Kuratorinnen Kind irgend ein Mitspracherecht hatte. Besonders aber der sonst so nachdenkliche und friedfertig wirkende Jannick hatte seit ihrer Abreise in Gnossas keine Zweifel darüber aufkommen lassen, dass er nicht der Ansprechpartner für im Quängelton vorgetragene Beschwerden war! Cedrick kannte das Spiel, dass die beiden Freunde mit Mirjásannáh spielten, aus seiner Ausbildungszeit: Erin Achtfinger und Lord Fornworth hatten es bei jeder Anhörung, zu der er bestellt worden war, ebenso gemacht! Sie spielten `Guter Ritter, böser Ritter´, derweil der eine Ritter den freundlichen Zuhörer mimte, dem man oft unbewusst Hilfe suchende Blicke bei einer Anhörung zuwarf, übernahm der andere den Part des unnahbaren gestrengen und peniblen Vorgesetzten, unter dessen Augen man sich nichtswürdig fühlte, auch wenn man gar nichts ausgefressen hatte. Oft lagen hier die Persönlichkeiten der Ritter antiproportional zu dem Rollen, die sie spielten: Wie der milde Fornworth immer den Unbarmherzigen und der steinharte Achtfinger den Gutmütigen gespielt hatte, so war jetzt Jannick der Schroffe und Greganor der Sanfte. Vielleicht, überlegte Cedrick, spielten gerade die warmherzigeren Menschen gerne die Schurkenrolle, um sich selbst von Gejammer und Wehklagen frei zu halten, die sie nicht so ohne Weiteres hätten abtun können, wie die gröberen Naturen es in ihrer Funktion als Vertrauter konnten!
Mirjásannáh jedenfalls genoss bei den beiden Freunden eine harte Schule und so sehr Cedrick es ihr auch gönnte - war sie doch im Vergleich zu seinem Leben ein Zuckerschlecken – so spürte er doch manchmal eine gewisse Sympathie für das Mädchen. Es war vermutlich die Ähnlichkeit, das Wiedererkennen seiner selbst, wenn er in ihren Augen das Unverständnis ablas, wieso sie so roh angefasst wurde, obwohl sie doch nichts verbrochen hatte. Cedrick war als kleines Kind verprügelt, bespuckt, ausgelacht, gedemütigt und ausgegrenzt worden, weil er seiner Schwestern Kleider aus familiärer Armut auftragen hatte müssen. Dass nun Mirjá kein Verständnis für ihre Klagen und verwöhnten Bedürfnisse bei den Männern fand, war dagegen in Cedricks Augen wirklich kein Unrecht, weswegen sie sein aufrichtiges Mitleid verdiente.
Jetzt beobachtete Cedrick das Mädchen genau, wie es in die fast völlige Dunkelheit der Höhle blickte. Wie bei ihrer Ankunft brannte nur eine einzige ihrer Öllaternen und im entfernten Winkel des ovalen Höhlenabschnitts schimmerte matt das erste Tageslicht durch den von Jannick aufgerissenen Eingang.
Nachdem Mirjásannáh in der vergangenen Nacht in Ohnmacht gesunken war, hatten sie nur noch ein paar Schritt weit von der Höhlenöffnung zur Schlucht hin ihr Nachtlager aufgeschlagen. So waren sie während der kurzen Nacht von der eisigen Luft und dem Heulen des Windes verschont geblieben.
Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, die bewusstlose Dicke zu wecken, sondern Greganor hatte sie hernach nur in ihren Schlafsack gelegt und den dicken Pelzbeutel zu geknöpft! An dem verwirrten Blinzeln des halb blinden Mädchens zählte sich Cedrick an zwei Fingern ab, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand! Er lächelte sie an.
„Eure Majestät!“ flüsterte ihre noch schläfrige Stimme. „Wieso weckt ihr uns mitten in der Nacht? Ist etwas geschehen?“
„Es dämmert schon, Mädchen,“ meinte Greganor nur milde „wir nehmen rasch etwas Brot, Käse und Wasser zu uns, dann dringen wir tiefer in den Stollen vor!“
„Wo sind wir?“ platzte es mit einem mal aus ihr heraus, „und wo ist meine Brille!“
„Hier!“ grinste Greganor und ergriff eine ihrer hilflos den Boden abtastenden Hände um ihr das schwere Ding hinein zu drücken. „Ich habe sie dir abgenommen, damit du dich nicht im Schlaf auf das Gestell rollst!“
Eilig hatte Mirjásannáh sich die Brille auf die Nase gesetzt, aber auch jetzt sah sie im flackernden Kerzenlicht nicht weniger irritiert oder glücklicher aus, als noch vor einem Moment.
„Wo ist der Schnee und wo ist der Himmel?“
Greganor seufzte: „Hast du gut geschlafen, Mirjá? Wir haben Nachts eine Höhle gefunden und weil ein Schneesturm einsetzte, haben wir unser Lager verlegt!“
„Davon habe ich gar nichts mitbekommen!“
`Ach, was du nicht sagst!´ dachte sich Cedrick und machte sich jetzt daran, seinen Biberfell Schlafsack zusammen zu rollen.
„Ich habe nur geträumt, von kleinen Menschen,“ sie gähnte und ihre Augen wurden zu Schlitzen, „ganz kleinen Menschen!“
„Von Wichten,“ lachte Greganor.
„Ja, von Wichten,“ lächelte sie verwundert.
Ein flinker Schatten hüpfte jetzt auf Greganors Schulter und setzte sich dort auf ihren Hosenboden: „Du hast von mir geträumt?“ verlangte Ran amüsiert zu wissen und stützte ihr Kinn auf ihre Handballen, wie ein Kind, das eine längere Märchenerzählung zu hören erwartete. Mirjásannáh taumelte zurück und wäre fast über ihren Schlafsack gestolpert: „Wer bist du,“ stieß sie erschrocken hervor und hielt ihre Hände wohl unbewusst wie zur Abwehr schützend vor sich.
„Ich bin Ran,“ lächelte die Kleine und ihr perlendes Lachen war wie das Klingen winziger Glöckchen, „ich bin Jannicks Gefährtin und Mutter unseres Sohnes Arn!“
„Stimmt!“ Jannick trat lächelnd an Greganor und Ran heran, spitze die Lippen und holte sich ein Küsschen von ihrem winzigen rosa Mund auf seinen ab. „Kommt, das Frühstück können wir auch im Gehen zu uns nehmen, vielleicht vergessen wir über den Anblick der tieferen Höhlengänge, dass wir uns schon seit Tagen von diesem trockenen Futter ernähren müssen! Schultern wir die Rucksäcke, du auch, Mädchen, wir lassen kein Gepäck zurück!“ Der Adept sah die sprachlose Mirjásannáh nur einen Augenblick lang an und als diese nicht reagierte: „Hopp, hopp!“
„Sei nicht so grob!“ flötete ihm Ran zu.
„Ran ist überdies meine bessere Hälfte,“ lächelte Jannick darauf hin, fuhr dann aber gestreng fort: „Jetzt aber los, mich drängt es, Tropfsteine zu sehen, in diesem Höhlenzugang gibt es aber offensichtlich noch keine!“

                       Ran:
Tiefer und tiefer drangen sie in das Gebirgsmassiv vor und die Höhle schien kein Ende haben zu wollen. Die Luft war überraschend frisch. Wenn Ran die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte sie sich besonders lebhaft an die großen und noch unerschlossenen Höhlen im Mittelgebirge – ihrer Heimat – erinnern. Der Hall dieser großen Kaverne war ebenso hell wie in den von Wichthand noch unbehandelten Höhlen, in denen sie die weiten Decken nicht mit Schalldämpfenden Polstern getäfelt hatten.
Ran schmiegte sich an den Hals ihres Liebsten, auf dessen Schulter sie schon seit dem kargen Frühstück saß. Ihre Trauerzeit war überwunden und sie hatte keine verheulten Augen mehr zu verstecken. Arn würde es bei Ronjaxil gut haben und ihre liebe Freundin würde für Rans Sohn genauso sorgen, wie für ihre kleine grüne Tochter. Ran lächelte bei dem Gedanken an das kleine Kind von Grasa und Ronjaxil: Wie es bei den Ansolon Tradition war, würde erst das einjährige Baby einen Namen bekommen, der seinem Naturell entsprach. Ronjaxil – dass hatte ihre Freundin ihr erst vor Kurzem und kräftig schmunzelnd verraten – setzte sich beispielsweise zusammen aus Rotra-Njatik-Xilyn was in der Sprache von Menschen und Wichten so viel hieß wie: Bissiges nimmermüdes Schreikind.
„Woran denkst du Schatz?“ fragte Jannick sie unvermittelt.
„Wieso fragst du?“
„Weil du lächelst. Richtig lächelst, wie länger nicht mehr!“
„Geht´ dich nichts an!“ grinste sie.
Vielleicht wollten die Ansolon durch ihre komischen Kindernamen ihren später einmal erwachsenen Sprösslingen auf der einen Seite bedeuten, wie viel Arbeit sie einst mit ihnen hatten. Und ihnen auf der anderen Seite Mut für deren eigenen Kinder machen, dass das Leben junger Eltern generell mühsam war und sie kein Einzelschicksal ertragen mussten.


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Die Fortsetzung schreibe ich zu Ende, sobald ich als bezahlter Autor genug Erfolg habe ;-). Das vollständige Buch wurde honorigerweise schon einmal bei e-stories kommentiert, als ich dessen sieben Kapitel hier online zur Verfügung gestellt hatte. Um euch dies - mir sehr schmeichelnde - Fazit eines fantasylesenden Unbekannten nicht vorzuenthalten, hier der O-Ton seiner Buchkritik (Copy&Paste):

Bewertungs-Kommentar: Datum: Aktion: JSpieß (jochenspiess@googlemail.com) 06.12.2011
Eine wirklich spannend und kurzweilig geschriebene Geschichte. Die Figuren haben wirklich Charakter, die Dialoge oft eine gute Mischung zwischen Tiefe und Witz.
Macht Spaß zu lesen



 

So...dies ist das vorläufige Ende des zweiten Buches, da ich nicht die Muße fand es zu beenden. Die Story ist komplett ausgearbeitet, aber ich habe nicht die Zeit, das Buch zu schreiben :-(. Für Träumereien vom Leben eines freischaffenden und dafür hinreichend finanziell vergüteten Autoren bleibt mir keine Zeit mehr. Die Zeit (und das leere Portemonnaie) holen einen ein. Schadööööööö, dass so viele infantile Gemüter, ewig-pubertierende-Blut-und-Knochen-Fans und stets-über-die-selbe-Storyline-erschreckenden Leserinnen und Leser die BILD, Wolfgang Hohlbein und Dan Brown den Autorinnen und Autoren vorziehen, die variierende und anspruchsvolle Geschichten zu schreiben verstehen :-(! Immerhin gibt es dieses Forum für alle kreativen Geister, die noch keinen Verlag fanden - und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (Juristendeutsch) auch nicht finden werden - weil sie nicht gewöhnlich genug denken und schreiben! Sorry für alle Tippfehler in meinen Texten, ich hatte noch nicht die Muße, sie zu bearbeiten. Dennoch wünsche ich euch eine kurzweilige Zeit mit ihnen :-)! Viel Spass beim Schreiben wünsche ich euch ebenfalls :-)! Wer schreibt, der bleibt, gell? Und sei es nur im Internet ;-)!

Euer Alex
Alexander Vogt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.05.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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