Angelika Vitanza-Lima

Das vergessene Heute

Draußen schien die Sonne, doch man hatte die Jalousien noch nicht hochgezogen. Sie lag allein in dem verdunkelten Raum und würde warten müssen, bis jemand sie an dem er-wachenden Tag teilnehmen und das Sonnenlicht herein ließe. Nebenan tropfte der Wasserhahn. Es hörte sich an wie der Puls der Zeit. Langsam, schleppend. Das war ihr Jetzt – gefangen in einem fremden Bett, in rauen, gestärkten Bezügen. Sie hatte es genießen wollen, dieses Jetzt, doch nun war es zu spät, und es verblieb nur noch das unweigerliche Warten auf das erlösende Morgen.

Es gab keine Zukunft mehr, und dabei hatte sie allein dafür gelebt. Sie hatte sich Zeit ihres Lebens über das Gestern gegrämt, war verbittert und verhärmt durchs Leben gegangen. Immer in der Hoffnung, eine bessere Zukunft zu erleben, war sie bestrebt gewesen, durch Härte gegen sich selbst, stetige Unnachgiebigkeit diverser Bedürfnisse, diese zu erlangen. Es hatte für sie nur dieses eine Ziel gegeben: der Weg nach vorn, ohne nach rechts und nach links zu schauen – immer geradeaus.

Sie hatte hart gearbeitet, jeden Pfennig auf die Seite gelegt, sich nichts gegönnt, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, nie mehr eine solche Zeit durchmachen zu müssen wie damals, als es ihnen durch Krieg und dessen Nachwirkungen an allem mangelte. Sie hatte sich nichts gegönnt, um es später einmal gut zu haben. Nicht einmal geheiratet hatte sie, geschweige denn, Kinder geboren. Sie wollte nicht wieder ihr Herz verlieren. Auch Freunde gab es nicht. An so etwas hielt sie sich nicht auf. Freunde gaben schließlich nicht nur, sie forderten auch. Das war nichts für sie. Sie wollte auf niemanden angewiesen sein, wollte allein durchs Leben gehen, ein besseres, freies Leben führen.

Vor ein paar Tagen war sie pensioniert worden. Es hatte nur eine kleine Abschiedsfeier gegeben, mit den üblichen Lobeshymnen zwar, aber das war’s denn auch. Man hatte nicht allzu viel Notiz von ihr genommen. Sie war halt die stets fleißige, zuverlässige Mitarbeiterin gewesen. Dass sie so gut wie nie gefehlt hatte, wurde als selbstverständlich hingenommen, doch auch sie selbst sah es ja nicht anders. Da ging sie also, bepackt mit einem Riesen-blumenstrauß, dem Geschenk der Kollegen, deren Vornamen sie zum Teil bis heute nicht wusste. Sie betrat ihre Wohnung – der Schritt in ihre Zukunft.

Sie hatte sich gerade müde und erschöpft in ihren geliebten Sessel fallen lassen wollen, als sie dieser Schmerz in ihrem Kopf befiel, ein unheimlicher Druck. Dann wurde um sie herum alles schwarz. Vor einigen Tagen, sie wusste nicht einmal, vor wie vielen genau, wachte sie in diesem Krankenzimmer auf, unfähig, sich zu bewegen, unfähig zu sprechen. Ihr Gehör funktionierte jedoch einwandfrei, und auch ihr Blick war wach. Sie hatte das Gespräch der Ärzte genau verfolgen können und wusste, dass man ihr nur noch wenige Tage zu leben gab.

Sie hatte einen Schlaganfall erlitten, und ihr Herz war derart geschwächt, dass es nicht mehr lange würde durchhalten können. Sie hatte ihm zuviel zugemutet im Kampf um eine gute Zukunft, mit dem sie die Vergangenheit besiegen wollte. Nur das Heute, das hatte sie dabei vergessen.

Zu spät! Es hatte aufgehört, das Tropfen aus dem Wasserhahn...


© Angelika Vitanza-Lima – 2001-02-13

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