Tilman Otto Wagner

DER WAHNSINN DER NORMALEN

 

Es war an einem Sonntagnachmittag im schönsten Frühjahr. Vereinzelte Sonnenstrahlen senkten sich über die Häupter der Versammelten nieder. Die Vielen blickten zornig zu dem Balkon des Regierungsgebäudes hinauf, auf welchem der untersetzte Polizeipräsident mit fuchtelnden Armen nach Erklärungen rang. Mit der rechten Hand schob er das Mikrophon an den Mund heran, während seine geballte Linke fortwährend auf unsichtbare Gegner einzuschlagen schien. Tausende Speicheltropfen spritzten durch die Luft. Mit weit aufgerissenem Mund richtete er sich an die laute Menge: „Es ist mir eine besondere Ehre, an einem historisch so bedeutenden Tag wie diesem – unserem Nationalfeiertag - an die friedliebenden Ahnen dieses Landes zu erinnern, welche mit ihrem heldenhaften Mut den Feind besiegt hatten, und so die Fundamente für unsere Demokratie legten. Es ist unsere heilige Pflicht (Trompetengeräusche) uns diesem Geist zu verbünden ... (räuspern) ... (erneut räuspern) ...!“ Riesige Lautsprecherwellen bebten auf die Vielen hinab. Die heisere Stimme des uniformierten Redners war bis an das südliche Ende des Hauptplatzes zu hören, wo Einige mit Molotowcocktails hantierten. Zehn Streifenwagen riegelten die Zugänge zum Ring ab, während eine lange Kette von bewaffneten Milizen mahnend den Sicherheitsgürtel bildete. Ihre Gesichter waren stumm und kalt. Die Schreie der Vielen prallten an ihnen ab. Die Sonne verschenkte ihre letzten Ressourcen jenes Tages. Sirenengeheul und schrille Pfiffe durchstreiften den klaren Himmel. Von überall kamen Andere, die sich zielstrebig einen Platz zu den vorderen Reihen durchbahnten.

Dann war der Bürgermeister auf den Balkon hinausgetreten. Er winkte den Menschen lächelnd zu. Seine grauen Schläfen reflektierten sich im trüben Licht der Abenddämmerung. Er versuchte mit einem prüfenden Blick einen Punkt in der Menge zu fixieren: „Liebe Freunde ...“ Lautes Pfeifen und Schreie. „..., an diesem historisch bedeutenden Tag sind wir ...“ Erneut Buhrufe und Pfeifen. Diejenigen aus den ersten Reihen, welche unmittelbar unter dem drei Meter hohen Balkon standen, warfen Blumen und zerfetzte Zeitungen in die Luft. Eine junge Mutter hielt ihr Baby in den Armen hoch und rief: „Runter mit den Politikern ! Wir haben eure Lügen satt !“ Der Bürgermeister starrte das Baby ängstlich an, setzte sein Lächeln auf und ergriff erneut das Wort: „... dieser bedeutende Tag hat uns Alle hier versammelt, um mit Gottes Willen diese Nation gemeinsam in eine bessere Zukunft zu steuern. Mit unserer Kraft und unserem Verstand werden wir dieses Land ...“ Eine verfaulte Tomate steuerte auf sein Gesicht zu. Rosen, Tulpen und Margareten lagen zertreten unter seinen glänzenden Schwarzlederschuhen. Zwei Sicherheitsbeamte bemühten sich das fliegende Gemüse aufzufangen. Sie verfehlten ihr Ziel. Das Gesicht des Bürgermeisters sah aus wie ein Pavianarsch. Er fluchte laut ins Mikrophon. Die Leibwächter versuchten ihn vom Balkon wegzubringen, als ein Hubschrauber am Firmament auftauchte. Es war das Kamerateam des Fernsehens. Die Übertragung wollte mit Rekordeinschaltquoten das „Event“ in die Geschichte des Senders eingehen lassen. Viele Millionen Zuschauer beobachteten das Spektakel auf ihren Bildschirmen zu Hause. Es war ihr geliebter Nationalfeiertag. Eine große Festrede mit Beteiligung jeglicher führender Köpfe des Landes aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Medien wurde seit Monaten akribisch vorbereitet. Auch eine traditionelle Truppenparade war eingeplant.

Die Vielen tobten. Ihre Unzufriedenheit kippte in Narrheit um. Es wurde keine Rücksicht mehr auf den politischen Inhalt des Festaktes genommen. Sowohl Militarismus, als auch der Anspruch auf Systematik, Gründlichkeit und Disziplin der Wenigen hatten ihr Ziel verfehlt. Die gesellschaftliche Misere der Neuen Zeit erreichte einen alarmierenden Notstand. Vernunft war zum Inbegriff des Irrglaubens geworden. Der surrende Helikopter flog im Kreis über den Köpfen der tobenden Massen hinweg. Mit erhobenen Fäusten protestierten sie gegen die unabdingbare mediale Präsenz. Es wurden einige Salutsalven abgefeuert, während sich das Staatsoberhaupt daran machte, einige Worte an das Volk zu richten. Mit unsicheren Schritten ging er auf das Mikrophon zu. Die anderen Podiumsgäste kratzten Schmutzreste von ihren Gesichtern und Anzügen ab. Fortan flogen Wurfobjekte auf sie zu. Der Präsident schmunzelte ununterbrochen in die Fernsehkameras. Seine Leibwächter traten näher an ihn heran. Mächtige Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Dämmerung verhüllte das Regierungsgebäude in Schweigen. Die Militärparade verlief unbeobachtet am westlichen Ende des Hauptplatzes. Einige Kinder blickten zu den marschierenden Soldaten hinüber. Blasmusik ertönte schwach unter den lauten Schreien der Menschen. Hubschrauber flatterten durch die Luft. Ein Kameramann hielt drauf. Lange Lichtstrahlen warfen eine schmelzende Wattstärke an die Wand des Regierungsgebäudes. Auf dem Balkon herrschte Hektik. Die Uniformierten und Beamten versuchten dem Regen von Wurfgegenständen standzuhalten. Eine Kiwi traf den Kulturminister in den Hodensack. Er fiel sofort zu Boden. Die Militärkapelle spielte den Siegesmarsch des letzten gewonnenen Krieges. Einige jungen Rebellen versuchten das Haupttor des Gebäudes zu stürmen. Sie schlugen mit Eisenstangen darauf ein. Galoppierende Rappen 
trugen Polizisten zu dem Ort des Geschehens. Während sie reitend näher kamen, zogen sie ihre Gummiknüppel aus den Halftern heraus. Der Reporter zoomte sofort auf die anbahnende Schlägerei hin. Eisenstangen gegen Gummiknüppel!

Verblüfft saßen die Zuschauer vor ihren Bildschirmen zu Hause. Sie riefen in der Redaktion des Fernsehsenders an. Viele machten sich auf den Weg zur Innenstadt. Dunkelheit brach an. Sterne tauchten am Himmel am. Der Mond leuchtete blassgelb. Fensterscheiben lagen verstreut am Boden. Die Feuerwehr und mehrere Krankenwagen waren im Einsatz. Riesige, heftige Wasserstrahlen schwemmten einige Demonstranten weg. Ein zweiter Hubschrauber tauchte am dunklen Himmel auf. Langsam schwebte er hinab. Bewaffnete Soldaten stiegen aus. Sie schwärmten in gebückter Körperhaltung aus. Vor dem Denkmal des „Unbekannten Soldaten“ schlugen Polizisten auf einige Bürger ein. Der gesamte Hauptplatz wurde abgeriegelt. Es wurden keine weiteren Ankömmlinge mehr zugelassen, doch verschafften sich einige mit Gewalt Zutritt zu dem Ort des Geschehens. Sanitäter machten sich an den Blutlachen mit Wassereimern und Schwämmen zu schaffen. Ein abgetrenntes Ohr wurde mit sterilen Handgriffen entfernt. Kinder liefen kreischend hin und her. Im Getümmel wurde ein blondes Mädchen von einem Pferd erschlagen. Das Spektakel wurde binnen Minuten zur Einschaltquote Nummer Eins im ganzen Land. Via Satellit erreichte die Nachricht auch die anderen Länder. Die Situation sei unter Kontrolle gebracht, hieß es in den Berichten der Nachrichtenagenturen weltweit. Doch die Bewohner der Hauptstadt kämpften auf dem Hauptplatz weiter. 500.000 rebellierende Menschen trugen einen utopischen Kampf aus. Die Folgen waren unmöglich vorherzusehen. Der Hubschrauber des Senders wurde abberufen. Flugmaschinen der Luftwaffe hatten den Luftraum beflogen. Der „Unbekannte Soldat“ blickte steinern von seinem Sockel zu der kämpfenden Masse hinab. Überall flossen Blut und Wasser in die Gullys ab.
 
Nacht breitete ihre Schwärze aus, erfüllt von menschlichen Schreien des Schmerzes, durchbrochen und kalt. Todesgeruch lag schwer in der Luft. Das Rauschen des Windes wurde von metallenen Motorengeräuschen abgehackt. Schüsse funkelten auf dem blutverschmierten Asphalt. Ein stürmisches Gewitter zog auf. Der zornige Himmel entlud sich brennender Blitze und peitschender Donnerschläge. Ein Hagelregen überraschte die kämpfende Meute. Haselnussgroße Eiskugeln bombardierten die in Panik geratenen Menschen. Manche fielen blutend zu Boden, andere rannten davon. Polizisten und Militärs schossen auf die Verdächtigen. Die eingebrochene Naturkatastrophe verschaffte ihnen den Vorteil der Schutzhelme. Ihre Maschinengewehre ratterten ununterbrochen. Auf den Fernsehbildschirmen wirkte die Übertragung surreal. Man hätte glauben können, dass es ein Hollywoodfilm war, den das Weiße Haus vergessen hatte zu zensieren. Die Vielen, Zeugen eines mediatisierten Gemetzels, welches binnen Stunden einen Weltuntergangcharakter annahm, saßen verblüfft bei Bier und Chips auf ihren Wohnzimmercouchen und trauten ihren Augen nicht. Inzwischen hatten sich anliegende Parks mit zuströmenden Menschenmassen angefüllt. Sie gerieten in den Strudel hinein. Manche schrieen laut Hassparolen, oder hielten Transparente hoch, andere gerieten durch das herrschende Chaos unfreiwillig in das Geschehen hinein. Der gesamte Innenstadtteil wurde abgeriegelt. Polizeiwagen und Militärtransporter fuhren ein. Der Straßenverkehr geriet außer Kontrolle. Brüllende Autofahrer stiegen aus oder hupten ununterbrochen. Die Demonstrationen breiteten sich wie riesige Tentakeln aus. Überall brannten umgekippte Mülltonnen und zerbeulte Autos lichterloh in der Nacht. Sirenengeheul. Der Hagelschauer ging in einen Nieselregen über. Passanten liefen verwirrt durch die Menge. Ein heftiger Blitzschlag spaltete eine riesige Eiche entzwei, welche brennend auf das Dach eines Polizeiautos umfiel. Blutende Leichen wurden von den strömenden Wassermengen mitgerissen. Panische Schreie. Die Nacht brannte rot. 
 
Ein leichter Wind rauschte durch die zerstörten Straßen. Gestank von Verwesung breitete sich im Massengrab der Innenstadt aus. Die Nationalgarde wurde eingeflogen: Sicherheitsstufe Rot! Eine Million tobender Bürger in der Hauptstadt und mehrere Millionen Fernsehzuschauer waren im Begriff, einem Wahnsinn der Gerechtigkeit zu folgen. Noch konnte man den Staatsorganen nicht entscheidend entgegentreten, doch formten sich neue Kolonnen, die auf den Todeskessel zusteuerten. Anarchie – der Widerstand unkontrollierbarer Subversion, rollte über die geordneten Schranken des Systems hinweg. Der Staat wurde zum Feind des Individuums erklärt, zu der Zielscheibe einer zornigen Gesellschaft, welche aus einem fremdgesteuerten Donröschenschlaf erwachte.

Der Morgen brach schimmernd an. V
orsichtig kroch die Sonne aus ihrem Himmelbett hervor. Einige Wolken zogen am rot-orangenen Horizont vorbei. Die schwachen Lichtstrahlen der Morgendämmerung enthüllten die verheerenden Folgen des Kampfes. Das apokalyptische Panoramabild offenbarte das Schlachtfeld eines Krieges der modernen Zivilisation. Unter dem blutverschmierten Denkmal des „Unbekannten Soldaten“ lagen verstreut Flugblätter am Boden. Verletzte versuchten den Sterbenden erste Hilfe zu leisten. Ein junger Mann erhob sich aus einer Blutlache. Langsam erlangte sein Körper das Gleichgewicht und schritt auf das Denkmal zu. Er suchte verzweifelt nach Jemandem und schrie laut in die Menge hinein: „Viktoria!? Viktoria! Wo bist du? Viktoria ?!“ Angst verzerrte das weinende Gesicht zu einer Grimasse. Tränen liefen über seine Wangen. Die Arme hatte er in die Höhe gestreckt. Tageslicht breitete sich über dem Hauptplatz aus. Sicherheitskräfte führten einige Verhaftete ab. Ärzte behandelten die Verwundeten. Der Balkon war leer. Der Hubschrauber des Fernsehteams tauchte am Himmel auf. Die Übertragung wurde wieder aufgenommen. Reporter aus der ganzen Welt trafen ein. Die Morgennachrichten sendeten live. Aus dem Hintergrund konnte man fortwährend die Stimme des jungen Mannes „Viktoria?!“ rufen hören. Ein neuer Tag brach an. Es war ein Montagmorgen im schönsten Frühjahr. 



2005

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tilman Otto Wagner).
Der Beitrag wurde von Tilman Otto Wagner auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.06.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Tilman Otto Wagner als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

In Krollebolles Reich: Märchen von Irene Beddies



Irene Beddies hat in diesem Band ihre Märchen für Jugendliche und Erwachsene zusammengestellt.
Vom Drachen Alka lesen wir, von Feen, Prinzen und Prinzessinnen, von kleinen Wesen, aber auch von Dummlingen und ganz gewöhnlichen Menschen, denen ein wunderlicher Umstand zustößt.
In fernen Ländern begegnen dem Leser Paschas und Maharadschas. Ein Rabe wird sogar zum Rockstar.
Auch der Weihnachtsmann darf in dieser Gesellschaft nicht fehlen.

Mit einer Portion Ironie, aber auch mit Mitgefühl für die Unglücklichen, Verzauberten wird erzählt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Satire" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Tilman Otto Wagner

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

M20 BIOMATRIX von Tilman Otto Wagner (Gesellschaftskritisches)
Weihnachtslüge von Klaus-D. Heid (Satire)
Verblöden wir langsam von Norbert Wittke (Satire)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen