Tilman Otto Wagner

NEW AGE _______ Eine Zeit-Raum-Montage




Die Ausbeutung des Menschen erreicht einen alarmierenden Zustand! Alle angestrebten Ideale versinken in dem unkontrollierbaren Nostalgie-Geflecht einer seelenlosen Ordnung, deren Ursprung die rationalen Vorstellungen der Humanoiden sprengt. Das Wissen um die verbotenen Früchte der Erkenntnis wird zu einem ökonomischen Prinzip des neokapitalistischen Uhrwerks erklärt. Der Mensch ist ein Produkt!


09:35 Uhr / Mexico City. Reger Verkehr. Staubige Hitze im dunstigen Morgen. Marcela und Ariadne stehen auf einer roten Bank im Alameda – Park und beobachten Ameisen. Sie gestikulieren. Eine alte Tahomara – Indianerin sitzt auf dem dreckigen Boden einer Bushaltestelle und raucht. Sie blickt vom anderen Ende des Parks zu den Schulfreundinnen hinüber und lacht. Auf der Strasse überfährt ein verbeulter Volkswagen einen schwarzen, hinkenden Hund . . . Blut spritzt über den aufgeweichten Asphalt. Die beiden Mädchen springen entsetzt von der Holzbank herunter, ihre Augen weit aufgerissen. Aus dem offenen Fenster des schmutzigen Autos schmunzelt ihnen der Fahrer entgegen Der Lärm des Verkehrs strömt in alle Ecken des Parks.

02:02 Uhr / Tõkyõ–Haneda. Zwei alte Fischer ziehen eine schwangere, tote Frau aus dem stinkigen Japanischen Meer heraus. Lautes Getöse zieht über ihre Köpfe hinweg. Eine Boeing 747 setzt zur Landung an. Das Flugzeug gleitet an der verpesteten Bucht vorbei. Es regnet! Ein dichter Nebelteppich breitet sich zwischen den funkelnden Lichtern der Großstadt aus.

10:12 Uhr / Eureka, Nevada. Der Bürgermeister der Stadt sitzt mit dem Direktor des „Convention & Cultural Arts Center“ vor einem Glas Weizenbier auf der Dachterrasse des „Lollipop“–Clubs. Eine leichte Windbrise verbreitet den stechenden Geruch von Erdöl durch die Gassen der Kleinstadt. Ein Polizeiauto fährt hupend vorbei. Die beiden Männer lächeln. Der Direktor blickt den Bürgermeister fragend an. Dieser nippt an seinem Bier, und blickt mit funkelnden Augen zu den Bohrtürmen am Stadtrand hinüber, die sich pechschwarz vor dem türkisfarbenen Himmel abzeichnen.

17:27 Uhr / Innsbruck, Österreich. Peter Panis - der eskapistische Journalist - recherchiert in dem Brenner–Archiv der Universität nach dem Verbleib des literarischen Nachlasses von Max Riccabona. Er sortiert, notiert und analysiert mit akribischer Besessenheit alle Notizen zu dessen „Bauelemente zur Tragikomödie des x-fachen Dr. von Halbgreyffer oder Protokolle einer progressivsten Halbbildungsinfektion“. Das Surren des Kopierers rauscht durch den langen Korridor des Archivs.


Die geistige Epidemie und der Wortverfall vieler Humanoiden versetzen die Weltlaune in einen erbärmlichen Zustand. Einige hohe Tiere aus den Tropeninstituten X, Y, und Z bestätigen die offizielle Erklärung der Medien, dass sich eine Kataphasiewelle rapide verbreitet. Alle infizierten Subjekte werden in Quarantäne gebracht, um die Verbreitung des Virus zu verhindern. Der Mensch wird als Proband eingesetzt! Die Sisyphusarbeit der Regierungen aller Nationen ist mit den Erwartungen der Ekstatiker und Aktionäre zusammengeprallt. Eine gigantische Chaoswolke schwärzt den zornigen Himmel an. Gott ist auf Geschäftsreise! Die Weltbevölkerung prangert eine Depravation fortgeschrittenen Stadiums an.




... wie aus dem Nichts taucht plötzlich Pokit auf. Er hat zwar kein Gesicht, doch er kann verdammt gut rechnen. Seine Arme sind elastisch, die Beine hat er an einer Jahrmarktsbude in Brüssel verkauft – man muss ja schließlich essen und trinken! Zielstrebig hüpft er auf seinen biegsamen Fortbewegungsgliedmaßen hin und her. Die Reichweite seiner Armschritte versetzt die vorbeigehenden Leute in Angst und Schrecken. Keiner wagt es, diesen 90 cm kleinen, gesichtslosen Körperstummel anzusprechen. Seine dünnen Haare tanzen selbstständig im Wind, welcher von Norden her weht. Es ist Spätherbst im Nirwana, Sommer auf Saturn. Aber all das interessiert ihn wenig. Seine Aufgabe – die Weltaufgabe seiner Rasse - treibt ihn voran, von Timbuktu bis Kinshasa, Paris nach London, Christchurch bis Fairbanks, Kunming, Sucre oder Yĕrũshalayim. Jeder Ort ist ihm recht. Manchmal schläft er mit den Bantukindern im Urwald ein, dann wacht er alleine am Ufer der Seine auf. Hin und wieder, kann man ihn über die Reisfelderterrassen Javas vorbeirobben sehen. Wenn er Durst hat, pflegt er die klaren, süßlichen Quellen der Siouxreservate in Dakota aufzusuchen. Einmal, vor vielen Jahren, hatte er gemeinsam mit zwei Lehrerinnen aus Beirũt, im Zug von Kiew nach Odessa gesessen, und die ukrainische Landschaft nummeriert. Er besitzt eine angeborene Gepflogenheit, alle Erscheinungen von greifbarer Form, materieller Konsistenz und Stärke aufzuzählen. Die Nummerierungslisten hören niemals auf. In seinen Gedanken hatte er schon hunderte, ja tausende Male alle vorbeistreifenden Bäume, Häuser, Wolken, Flüsse, Menschen, Blumen, Kinder, Raffinerien, 
Kirchen, Parkplätze, Banken, Autos, Mütter, Fabriken etc. zusammengezählt und im Geiste analytisch nach Begriffsfeldern archiviert. Dieses ist mittlerweile zu seiner wichtigen Aufgabe geworden, welche er niemals vernachlässigen wollte, die ihm aber auch einen gewissen unbeabsichtigten Bekanntheitsgrad verschaffte. Pokit verwandelte sich im Lauf der Zeit in eine moderne, technologische Maschine - den Computer. Dieser kann die komplizierten Rechenaufgaben der Neuen Zeit viel schneller kalkulieren, und ist außerdem ersetzbar und beliebig reproduzierbar.



13: 07 Uhr / Berlin, Zentralfriedhof. Unter der Erde ist es so dunkel! Ich höre IHRE Schritte. Sie sind lautlos und unmenschlich. Es regnet. Wind hämmert gegen das morsche Holz des Sarges. Winzige Erdkörnchen rollen in das Grab hinein. Wertvolle Sekunden sickern durch. Es ist Spätherbst. Die Bäume schweigen, als ob es schon Winter wäre. Harte Regentropfen fallen wie Bleikugeln hinab. Das düstere Säuseln des Windes hält für eine winzige Ewigkeit den Atem an. Eine ansteckende Totenstille schleicht durch den Friedhof. Der rötliche Mond taucht die Dunkelheit in ein gedämpftes Licht ein. Eine sinnlose, mikroskopische Anstrengung, das ewige Grab zu verlassen, bricht unter der unerträglichen Last der rostigen Nacht zusammen. 

 



1. Explosion . . . BOOOOOM ! KAWUMMM!
2. Explosion . . . BAAAAANG ! TAARUMMM!

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Horror - Vacui - Intermezzo
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Somewhere beyond the stratosphere

Die Sonne existiert nicht mehr. Eine Chlorwasserstoffexplosion gigantischen Ausmaßes hat das Zentralgestirn unseres Sonnensystems vernichtet. Hundert Milliarden zweiatomiger Wasserstoffmoleküle setzten eine Reibungsverbrennung durch Chlor und Sauerstoff frei. Die Licht- und Wärmequelle des gesamten planetarischen Lebensraumes verglüht im schwarzen, eisigen Loch des Weltalls. Jegliche Form organischen Lebens ist binnen Wochen ausgerottet. Das Nichts verschluckt die Zeit. Die Erde fällt, mitsamt restlichen Planeten, dem Chaos zurück, welches sie einst gebar. Die ausgestorbene Spezies des Homo sapiens wird zu einem belanglosen Relikt der Zeitgeschichte ...


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Die erste Posse: CÄSAR UND CLEOPATRA betreten nackt einen Supermarkt. Sein Haupt ist von einem Lorbeerkranz verziert. Kleopatra setzt sich eine goldene Krone mit zwei Schlangenköpfen auf. Sie suchen einen Einkaufswagen und wollen eine Bibel kaufen. Der Supermarkt hat noch vierzig Stunden geöffnet. Cäsar stolpert über eine am Boden liegende Windelpackung. Er flucht ordinär! Kleopatra probiert ein Kosmetikum aus. (Es ist der neue „Beauty-Color–Lippenstift“ in weichselrot!!!)

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Die zweite Posse: Mit einer Geste der gespielten, hochmütigen Eleganz sortiert Cäsar die Windelpackung in das oberste Regal der Haushaltswarenabteilung ein. Kleopatra sitzt auf der Klobrille der Kundentoilette und liest die Vogue. Seine Majestät blickt kurz auf die quadratische, gelbe Plastikwanduhr. Der Supermarkt hat noch neununddreißig Stunden und siebenundfünfzig Minuten geöffnet. Das kaiserliche Paar begibt sich im Adam- und Evakostüm zur Kasse, um sich zu beschweren. Sie haben kein einziges Exemplar der Bibel finden können und sind darüber empört!




18:01 Uhr / Los Angeles, California. Ein untersetzter, rothaariger Coca-Cola – Lieferant rollt in seinem weißen 73´er Ford–Van den Sunset Boulevard hinunter. Die roten Buchstaben der Firmeninschrift glänzen in der reflektierenden Sonne. Er raucht eine Lucky Strike und wippt mit dem linken, aus dem Autofenster leicht herausgelehnten Ellenbogen zum Rhythmus eines Robert-Palmer-Songs. Der dichte Verkehr auf den Seitenspuren und das laute Hupen der anderen Fahrer prallen an den Fensterscheiben seines Autos ab. Er biegt in eine schmale Seitenstraße ein.


22:13 Uhr / Accra, Ghana. Ein unterbezahlter Oberarzt führt eine Darmspiegelung bei einem sechzigjährigen Polizisten durch. Diagnose: Darmkrebs. Die zwei fülligen Krankenschwestern, welche dem rektalen „Schauerspiel“ beiwohnen, sprechen über das Vormittagswetter, während sie das Gastroskop säubern. Das Volta–Krankenhaus ist überlaufen. Der Operationssaal stinkt nach gastrischen Enzymen und Chlor. 32 ° Celsius im Schatten.
 

09:07 / Mokka, Jemen: „Kahi Naro Loti ist gestohlen worden!“, schreit ein junger Zeitungsverkäufer aus voller Lunge den vorbeistreifenden Touristen entgegen. „Kahi Naro Loti ist verschwunden!“ Die zuströmenden Menschenmengen reißen dem Jungen die Zeitung aus der Hand. Verblüfft starren sie auf die Schlagzeile der ersten Seite. Sie beginnen zu schreien und wild zu gestikulieren. Eine kollektive Hysterie breitet sich in den Strassen Mokkas aus!



Pokit wurde als der erste zerebrale Rechenapparat in die Geschichtsbücher aufgenommen. Seine Fähigkeiten hatten ihn berühmt gemacht, doch zuallerletzt wurde sein Name nur noch in Zusammenhang mit genetischem Restmüll, oder Repro-Proband gebracht. Seine Zeit war abgelaufen. Der Computer symbolisiert den Charakter der Neuzeit. Den Programmierern fiel es anfangs schwer diese Umstellung zu akzeptieren, doch sehr bald stellte sich in den Fachkreisen der EDV - Spezialisten eine kollektive Zufriedenheit ein. Der Übergang von Subjektanalyse zur Objektbestimmung wird als Zeichen der fortschrittsgläubigen Globalisierungswelle gedeutet. Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt! Der Mensch ist ein Produkt!

 

00:00 Uhr / Irgendwo in Europa. Eine Ameisenkolonne wird über die feuchte, schwarze Erde eines dichten Nadelwaldes krabbeln. Über Lautsprecher werden mit schreiender, heiserer Stimme Nummern von Personalakten durchgegeben werden. Zahllose Kennziffern werden durch die Nebelwand hindurchzischen, welche sich schleierhaft aus dem Dickicht emporzuheben haben. Die in permanenter Bewegung voranzutreibende Insektenwelt wird sich jeden Zentimeter ihres Lebensraumes mit beharrlicher Zielstrebigkeit erkämpfen müssen. Viele der Beteiligten werden auf ihrem langen Weg zyklischen Naturgewalten, oder menschlichen Übergriffen zum Opfer fallen. Von den Bäumen werden die Lautsprecher metallisch auf das mikroskopische Getümmel herabbeben. Nur einige wenige Ausreißer werden an den knorpeligen Rinden hochkrabbeln, sich Zugang zu dem Inneren der Metallkonstruktionen verschaffen können, um sie durch eine abzusondernde ätzende Säure zum Verstummen zu bringen. Ihre Angriffe werden tödlich enden.  


2006 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.06.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Wörterworte von Iris Bittner



Ich bin nur ein armer Poet
reime und schreib hie und da ein Gedicht.
Wie´s meinem Girokonto geht?
Lieber Himmel, frag lieber nicht!

So beginnt die Autorin dieses Buch mit vielen kürzeren oder längeren, aber meist heiteren Gedichten über die vielen All-täglichkeiten, die sie - und wie wir beim Lesen festellen - auch uns bewegen und beschäftigen. Doch unversehens werden die Texte ernster [...]

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