Tilman Otto Wagner

KALTE ERDE




Unter der Erde ist es so dunkel! Ich höre IHRE Schritte. Sie sind lautlos und starr. Es regnet. Der Wind hämmert gegen die morschen Bretter des Sarges. Porige Erdkörnchen rollen in das feuchte Grab hinein. Wertvolle Sekunden sickern durch. Es ist Spätherbst. Die alten Eichen, welche das Grab bewachen, schweigen, als ob es schon Winter wäre. Ich träume vom Tod. Die harten Regentropfen schmettern wie Bleikugeln vom zornigen Himmel hinab. Das düstere Rauschen des Windes hält für eine winzige Ewigkeit seinen Atem an. Eine ansteckende Totenstille schleicht durch den Friedhof.

 
<KEINE ANGST, BÜRGER? ES GEHT EIN GESPENST UM IN EUROPA!>


Eine kalte Anstrengung, das dunkle Grab zu verlassen, bricht unter der schweren Last der rostigen Nacht zusammen. Der stechende Gestank von Millionen verfaulten Insekten steigt gewaltsam in meine blutende Nasenhöhle auf. Es regnet. Ich kann IHR lautes Schluchzen hören. Einige von IHNEN sind froh, dass es so gekommen ist. Mein zitternder, nackter Körper ist dreckig. Dreck und Schlamm, Kadaver von Larven und verfaulten Würmern fressen sich in das aufgerissene Fleisch hinein. Das Weinen DERER und das Rauschen des Windes heulen den Weltschmerz in das lineare Nichts IHRER gesellschaftlichen Ordnung hinein. IHRE blassen, in Tränen stehenden Gesichter blickten in staunender Bewusstlosigkeit zu dem frischen Grab herab. Es regnete. Die dunklen Schatten IHRER Augenringe nahmen mit gespielter Traurigkeit Abschied. Die sieben Vertreter IHRER Ordnung setzten die Masken auf, welche für derartige Rituale vorgesehen waren.

 
 KEINE ANGST, BÜRGER! DER TOD IST BESCHÄFTIGT IN EUROPA!>

„Staub bist du und sollst wieder zu Staub werden“, waren die letzten Worte der Zeremonie. Die Versammelten setzten sich in Bewegung. Der Leichenschmaus ward aufgetischt. Sie hatten schrecklichen Hunger. Es regnete. SIE trugen den schwarzen Holzsarg auf IHREN Schultern zum Leichenwagen. Die vier kräftigen, bärtigen, in schwarzen Anzügen und weißen Krawatten gekleideten Männer zogen lange Gesichter, wie es Beamte bei der Ausübung ihrer Pflichten taten. Die herumstehenden Personen blickten zu dem feierlich-langsam vorangehenden Leichenzug hinüber, wohlwissend, dass auch sie eines Tages in einer Holzkiste aus ihrer Wohnung herausgetragen werden sollten. Sosehr sie in jenem Augenblick IHREN momentanen, lebendigen Sieg über den Tod eines ANDEREN in Gedanken feierten. Während der Sarg in den Leichenwagen hineingeschoben wurde, streifte ein vorbeilaufender Junge, der mit einem bunten Ball spielte, den Rockzipfel eines Trägers. Dieser geriet für einen kurzen Augenblick ins Schwanken, ohne aber sein Gleichgewicht zu verlieren. Sie schlossen die Türe zum hinteren Teil des Leichenwagens mit der gewohnten Routine. Zwei von ihnen stiegen vorne ein und fuhren vor den Blicken der Passanten weg.

 
 ÖKONOMISCHE TODESMASCHINERIE – DAS ORGANISIERTE PARADIGMA DER NEUZEIT!>


Die Mutter schaute ihren Sohn weinend an. Sie wusste bereits, dass der junge Mann, welcher einst das erste Licht der Welt an ihrer Brust erblickt hatte, sterben wird. Die Ärzte stellten ihr keine Genesung ihres Kindes in Aussicht. Die Befunde hatten eine toxische Vergiftung in seinen Lungen diagnostiziert. Nach einer fünfjährigen Laborarbeit in dem Chemischen Universitätsinstitut für Krebsforschung konnte sich sein endokrines System nicht mehr regenerieren. Die Verzweiflung sollte ihre letzten Hoffnungen vernichten. Die Mutter hatte durch mehrere Anläufe versucht, einen Strafprozess gegen die Institution einzuleiten. Der ehemalige Angestellte war das vierte Todesopfer in der Geschichte des Chemischen Universitätsinstituts für Krebsforschung.
 

<AN DEN BÜRGER: SCHAFF UND ERWIRB, ZAHL STEUERN UND STIRB!>


Der zärtliche Blick seiner Mutter ließ die Situation in den Augen des kranken Felix zu einer grotesken Farce verschwimmen. Er hatte die Selbstverständlichkeit des Sterbens in seinen jungen Jahren noch nicht erkennen können. Seine glasigen Augen, der abgemagerte Körper und sein schwerer Atem ließen ihn, im trüben Licht jenes späten Märztages, wie einen dahinsiechenden Greis aussehen. Das Schlafzimmer war von einem grauen Gestank erfüllt, vorwegnehmend, was in den nächsten sechs Monaten dort passieren sollte. Draußen wehte ein starker Wind. Felix richtete sich in seinem Bett auf. „Könntest du bitte das Fenster ein wenig öffnen, Mutter?“ „Es ist aber schon spät, Liebster. Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat!“ Sie ging hinüber, schob die schweren, dunklen Vorhänge beiseite, blickte kurz zu den alten Eichen hinüber und öffnete das Fenster. Ein heftiger Windstoß blies ihr ins Gesicht. Sie zuckte zusammen und schloss sofort das Fenster. Als die Mutter am nächsten Morgen das Frühstück auf sein Zimmer brachte, wurde sie von seinem fröhlichen Lächeln überrascht. „Wie fühlst du dich heute, mein Schatz?“ „Es geht mir blendend, Mutter! Könnten wir nach dem Frühstück einen kleinen Spaziergang machen?“ „Aber du weißt doch, was der Arzt gesagt hat.“ „Mutter, ich fühle mich wirklich gut. Fühl mal, das Fieber ist weg!“ Er nahm ihre linke Hand und legte sie auf seine Stirn. Die Mutter lächelte glücklich. Sie küsste ihn und streichelte sein schlankes Gesicht. Seine Augen hatten erneut jenen Lichtfunken. Sie umarmten sich. Ein Sonnenstrahl sickerte durch einen schmalen Spalt des Vorhangs durch. Das in Licht getauchte Bildnis glich einer Malerei Botticellis.

 
 ES IST DIE LIEBE, VEREHRTE BÜRGER – DER EINZIGE WAHRHEITSSINN!>


Als sie auf die sonnige Straße hinaustraten, blickte der Junge zum türkisfarbenen Himmel hoch, welcher sich wie ein unendliches Meer vor seinen Augen erstreckte. Er fühlte zum ersten Mal in seinem Leben, wie ihn das Irdische in seine Magie einhüllte. Eine Schwalbe flog graziös über ihre Köpfe hinweg. Die Mutter legte ihren rechten Arm um seine Schulter. Eine winzige Träne rollte an ihrer linken Wange hinunter. Blitzartig wandte sie ihr Gesicht ab. Sie liefen die menschenleere Straße hinunter. Die Sonne setzte ihren Weg zwischen den Wolken fort. „Mutter, warum musste es so kommen?“ Sie blickte ihn an. Ihre Augen standen in Tränen. Sie wollte ihm eine Antwort geben, doch sie brachte keinen einzigen Laut über ihre Lippen. Ihre Finger verkrampften sich und drückten seinen Körper an ihre Brust. Sie vergrub ihren Schmerz ganz tief in ihrem Inneren, jenem Teil des Unterbewusstseins, dessen unsystematische Komplexität sie unmöglich steuern konnte. Als sie über den kleinen Marktplatz am Ende ihrer Straße spazierten, geriet der Sohn ins Schwanken. Blut! Er fiel zu Boden. Seine Mutter stieß einen Angstschrei aus. Sie bückte sich über seinen regungslosen Körper, nahm den Kopf in ihre Hände und legte ihn zärtlich auf ihren Schoß.

 
<DER TOD SCHLEICHT DURCH EUROPA – GESPENST DER NEUZEIT!>
 

An einem Sonntag hatte Felix eine Verabredung mit seiner Arbeitskollegin Kassandra. Er freute sich schon auf ihre Gegenwart. Sorgfältig rückte er die Falten des Tweedanzugs zurecht, welchen seine Mutter für ihn gekauft hatte, während er den schmalen Weg zum kleinen Haus hinaufging. Das einladende Lächeln Kassandras begrüßte ihn aus dem Türrahmen. Durch das fröhliche Zwitschern der Vögel hörte sich ihre Stimme süßlich und melodiös an. „Du siehst so elegant aus, Felix!“ „Ach, da hatte meine Mutter ihre Hände im Spiel.“ Sie küssten und umarmten sich. Jede freie Minute verbrachten sie zusammen. Man hatte schon insgeheim von einer Verlobung gesprochen. Sie hatten jene Mischung aus beruflicher Ausgeglichenheit und seelischem Komfort zu ihrer gemeinsamen Zukunft verschmelzen lassen.

 
<HEIRATEN – GELD VERDIENEN – KINDER ZEUGEN ...
UND DANN, WAS DANN, VEREHRTE BÜRGER?>


Manchmal trafen sie sich heimlich. In der Mittagspause konnte man sie in der Cafeteria des Chemischen Instituts in einer Ecke sitzen sehen. Ihre Verliebtheit wurde zum Intrigenspiel der Arbeitskollegen. Felix und Kassandra machte das nichts aus. Als sie eines Tages beisammen saßen, fiel der jungen Frau auf, dass Felix Nasenbluten hatte. Sie griff sofort zu einer Serviette, welche auf dem Metalltisch lag, und wischte den dickflüssigen Tropfen aus seinem Gesicht. „Es ist doch gar nichts, Kassandra. Wahrscheinlich ist bloß ein winziges Blutäderchen geplatzt. So was kommt vor.“ „Du solltest es vielleicht von einem Arzt untersuchen lassen. Felix, sei doch bitte vernünftig!“ „Wie kommt ihr denn mit dem neuen Laborbericht bei euch drüben zurecht? Ich könnte doch mit . . .“ „Ich meine es ernst, Felix.“
 

 <AN DEN BÜRGER: WEITERSTRAMPELN, SCHÖN WEITERSTRAMPELN!>


Als Kind hatte Felix T. niemals das Bedürfnis verspürt, die Eltern für seine Traurigkeit verantwortlich zu machen. Er war eines von jenen Kindern, welche stillschweigend die manchmal ungerechten Entscheidungen der Erwachsenen hinnahmen. Als er einmal mit der Mutter spazieren ging, offenbarte ihm diese, wie sehr sie nach dem frühen Tod des Vaters daran gedacht hatte, ein neues Leben anzufangen. Gemeinsam mit ihrem Sohn wollte sie auswandern und die Vergangenheit zurücklassen. Es kam ganz anders. Das Geld zog ihnen einen unabdingbaren Strich durch die Rechnung. Sie wurden in ihrem Mut gebremst und sollten in dem stillen Städtchen, mit all den Erinnerungen an das einstige Leben zurückbleiben.



copyright by Tilman Otto Wagner ▓ 2005

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tilman Otto Wagner).
Der Beitrag wurde von Tilman Otto Wagner auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.06.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Tilman Otto Wagner als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Francks Debüt von Axel Kuhn



Die letzte Treppe musste sie zu Fuß emporsteigen. Sie wusste, dass es im Erdgeschoss eine Nachttür gab, durch die sie das Gebäude verlassen und ins Leben zurückkehren konnte. Aber sie wusste nicht, ob sie das wollte. Alles war so furchtbar grau. Noch einmal hob sie das Gesicht in den Wind. Sie trat ans Geländer und schloss die Augen.

Stuttgart 1980: Die beiden Amateurdetektive Andreas Franck und Petra Giseke geraten in ein undurchsichtiges Geflecht privater und politischer Beziehungen. Vier Personen bleiben auf der Strecke: Unfall, Selbstmord oder Mord? Das Verbrechen nistet sich schon im Alltag ein, und die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Gesellschaftskritisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Tilman Otto Wagner

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ein Bildungsprogramm zwischen den Kulturen von Tilman Otto Wagner (Multi Kulti)
irgend etwas ist anders, als sonst ! von Egbert Schmitt (Gesellschaftskritisches)
Ohne meine Mutter springe ich nicht von Achim Müller (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen