Helena Ugrenovic

Schämen für das Sein oder das Glück, so zu sein, wie man ist.

Morgens um sieben, wenn Störfaktore die Wohnung verlassen haben, der Kaffe aus der Tasse
dampft und die zweite Zigarette noch besser schmeckt, als die Erste, machen die meisten von uns das Gleiche. Lesen. Egal was, egal wo. Zeitung, Internet, Teletext, egal, die Palette ist gross, die Informationen vielseitig, Nachrichten sehr wichtig, Tageshoroskope am wichtigsten.

Und dann lese ich die Geschichte einer jungen Frau, die mich, während ich mich Zeile für Zeile durchlese, inspiriert, zum Denken anregt und animiert, selber eine Geschichte zu schreiben. Über Schamgefühle und das Sein. Oder ganz einfach das Glück, so zu sein, wie man eben ist.

Schamgefühle darüber, dass man etwas erwartet und fordert. Liebe, Anerkennung, Emotionen, das Gefühl gebraucht zu werden, Aufmerksamkeit von Freunden, Bekannten, dem Liebsten. Schamgefühle darüber, sich gerade entblösst und die Seele entkleidet zu haben, weil man dieses Manko an Emotionen geradezu erzwingt, denkt die sich gerade Schämende.

Wir, die wir genau so funktionieren, immer wieder vor dem Spiegel stehen, um uns anzubrüllen, wie dämlich, doof und geradezu penetrant gefühlsgeladen wir sind, kennen diese Situation. Prangern das Schicksal an, wieso keiner für uns da ist, wenn wir uns eh schon allein gelassen fühlen, die Probleme uns erdrücken und wir nicht mehr wissen, wieso, wohin, für was und überhaupt was soll das ganze Gefühlschaos?

Wir, die wir genau so funktionieren, in bestimmten Augenblicken, wenn die Sonne wieder lacht, die Zeit uns zwischen den Fingern zerfliesst, wir vor Arbeit nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht, geschweige denn darüber nachdenken können, ob wir nicht gerade jemanden verletzt haben, weil wir seine SMS nicht beantwortet haben, denn später möchten wir das nachholen und später tun wir das auch. Dass WIR das tun, wissen wir, denn wir ticken anders.

Wir, das sind wir, die wir uns dafür schämen, dies auszudrücken verstehen und den andern mitteilen. Was das Loch, indem wir uns gerade befinden, noch grösser macht. Die andern sind die, die das gleiche denken, irgendwo tief verborgen, dies aber nicht auszudrücken verstehen, weil sie sich dafür schämen, denn das darf der Mensch nicht. Man kann doch nicht einfach seine Gefühle herausposaunen, jemandem verklickern, dass man etwas von ihm oder ihr erwartet, jemanden eingestehen, dass man deswegen traurig und verletzt ist. Von einem Mensch wird erwartet, dass er vielleicht „not amused“ ist, aber keinesfalls vor Wut brüllt und ein Glas gegen die Wand schmettert; dass er liebt, aber in Rationen und Portionen, denn man kann nie wissen, wohin das Ganze führt und ob man am Ende nicht der Verlassene und Doofe ist; dass er souverän und ausgeglichen Situationen meistert, denn, wer will schon zu der sich nicht beherrschen könnenden Spezies gehören, die sich nicht unter Kontrolle halten kann; dass er sich darüber keine Gedanken macht, denn schliesslich geht es allen gleich, gibt es mal „ups“ und dann wieder „downs“, gehört zum Leben, ist einfach so, keiner kann es ändern, war immer schon so; dass er in Gygabytes denkt, im Reboot-System liebt, im Konsumverhalten austauscht, wenn was nicht funktioniert und wenn nix mehr geht, eine neue Festplatte kauft.

Wir, das sind wir, die Gott sein dank so sind, wie wir sind, weil wir uns Gedanken über uns und unsere Nächsten machen, die zetern, streiten, uns blöd finden um uns einen Tag später verzückt im Spiegel anzugucken, die wir Rotz und Wasser heulen und in unseren Gefühlen baden. Wir, die von uns selber sagen können, dass wir gerade in Selbstmitleid zerflossen sind und dazu stehen. Wir, die unseren Mitmenschen in umgekehrter Situation um den Hals fallen und sagen können, wie lieb wir sie haben, wie toll wir sie finden, wie schön das es ist, sie als Freunde zu haben, wie sehr wir sie vermisst haben.

Wir entblössen uns, weil wir unsere Gefühle nicht portionieren, sondern diese in geballter Ladung verschenken.

Die andern sind die, die gerne so wären wie wir, weil sie ihre Gefühle nicht in dieser Form zeigen können, weil sie diese vielleicht nicht so empfinden, einen Knoten haben. Einen Knoten, weil es immer schon so war und immer so sein wird. Weil der Knoten sie daran hindert, uns zu zeigen, wie menschlich wir ticken, wie cool wir in ihren Augen sind und wie gerne sie einfach nur so wären, wie wir es sind.

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