Hannah Koch

Lictaras- Das Amulett der Macht (Auszug) 6. und 7. Kapitel

Lügen und Offenbarungen   

 
 
Die Frau, die im Feuerring stand, hob beschwörend die Hände, murmelte etwas und ließ dann ein rot glühendes Licht erscheinen. Die grünäugige tat ihr gleich, nur schossen aus ihren Fingerspitzen grüne Strahlen. „Nun werden wir sehen, wer der stärkere ist!“, gackerte die erste verbissen und spreizte ihre Arme von sich. Mit einer lässigen Bewegung schickte sie eine erste Ladung roten Lichts von sich. Nice drehte ihr Handgelenk und ihrerseits baute sich die Magie als Stern vor ihr auf und ließ den Angriff abprallen. Wutschnaubend drehte sich „die Rote“ im Kreis und sandte den Rest auf den Weg. Die grünäugige lehnte sich zurück und schoss nach vorne- so aktivierte sie ihren Angriff. Die rote Magie bildete einen Mond und so schossen beide Gestirne aufeinander zu. Doch da begann das Lederband zu beben und riss sich vom Halse der schwarzgekleideten Frau. An ihm hing ein ellipsenförmiges Amulett aus Silber, in dessen Mitte ein roter Stein war. Es vibrierte und strahlte rote Funken aus und verdreifachte somit den roten Schimmer der Magie. Nice wurde in die Knie gezwungen und langsam erlosch ihr Widerstand. Sobald die fremde Magie sie berührte, begann sie sich zu verändern- ihre Beine wurden pelziger, ihr Gesicht länger, ihr Oberkörper breiter und ihre Haare kürzer. Die rote Magie umhüllte sie gänzlich, wirbelte sie herum und setzte die junge Frau schließlich wieder am Boden ab. Doch jetzt war sie auf keine weiße eine junge Frau mehr- sie wurde in ein Pferd mit grünen, kristallenen Augen verwandelt.
„Ich hoffe, dass du daraus lernst!“, knurrte die Frau mit der roten Magie, „leg dich nicht mit mir an. Denn ich, Solmena, werde nie verlieren! Sag diesem Mädchen, dass es gerne kommen soll- ich werde es mit Freuden erwarten. Obwohl… du wirst es wahrscheinlich niemandem mehr sagen können, denn… ich werde dich nun töten!“. Das Pferd schnaubte verwirrt und trabte verängstigt im Kreis umher. „Ja“, lachte Solmena hämisch, „hab du nur Angst! Ich werde dich nie verschonen- dein Leben geh- Ah!“. Die Frau hatte erschrocken aufgeschrien, als ein Schimmel mit Flügeln angeflogen kam. „Was du mir und ihr angetan hast, wirst du noch bereuen!“, rief er voller Zorn. „Amor!“, schrie die Angesprochene erfreut, „jetzt wird es spannend, Nice. Dein Prinz kommt um dich zu retten!“. Plötzlich ging alles sehr schnell. Amor umkreiste die übergeschnappte Magierin, während er das verwirrte braune Pferd anschrie, dass es abhauen solle. Nice gehorchte, entfaltete ihre Schwingen und erhob sich mühsam in die Luft. Der weiße Pegasus ließ von der kreischenden Solmena ab und folgte der gerade Verwandelten.
 
 
 
Als ich aufwachte, befand ich mich in meinem Bett Zuhause. Corinne, Zarah und Fabienne saßen neben mir und hatten ihre Hände auf die Oberschenkel gestützt. „Wie spät ist es?“, nuschelte ich, den Blick auf die Decke gerichtet. „Eliane! Du bist wach!“, riefen alle drei Wartenden durcheinander und beugten sich über mich. „Was ist passiert?“, fragte ich in dem gleichen monotonen Tonfall wie zuvor und wandte meinen Kopf zu ihnen hinüber. „Es ist Abendessenszeit- ungefähr sieben Uhr.“, antwortete Corinne besorgt. „Du warst ohnmächtig, bis jetzt.“, rief Zarah ungläubig grinsend. Fabienne legte ihre Hand auf meinen Arm und flüsterte mir ins Ohr: „Ondine ist weg. Weißt du etwas?“. Ich schüttelte schnell den Kopf und mied den Blick der Frau, was sie allerdings nicht bemerkte. „Wir lassen euch jetzt mal alleine.“, sagten meine Freundin und ihre Mutter gutmütig und verließen mein Zimmer. „Ich bringe dir etwas zum Essen und Trinken hoch!“, versprach meine Tante und ging ebenfalls. Ich drehte mich auf die Seite und starrte an die Wand. Noch immer brannten mir trockene Tränen in der Kehle und ich wischte mir erschöpft über die Augen. Ich runzelte die Stirn und versuchte mich an das letzte zu erinnern, dass Sumit mir gesagt hatte: Komm in einer Woche zum Spiegelfels. Dort wird es dir gelingen, selbstständig nach Lictaras zurückzukehren!
 
Nach drei Tagen ging es mir besser und ich konnte wieder in die Schule gehen. „Kennt ihr einen Spiegelfelsen?“, fragte ich Zarah und Julie in der ersten großen Pause am Donnerstag. Morgen schon sollte ich in das Heimatland meiner Mutter zurückkehren, doch hatte ich immer noch keine Ahnung, wo dieser Felsen liegen sollte. Meine Freundinnen schüttelten einstimmig die Köpfe, aber rieten mir, dass ich zum Stadtinformationszentrum gehen solle.
 
Nach der Schule gehorchte ich und betrat das kleine, weiße Gebäude des Informationszentrums. „Guten Tag.”, begrüßte ich schüchtern die Frau am Tresen, „ Hallo, Frau Moll. Wissen sie, wo der Spiegelfelsen liegt? Haben sie davon schon mal gehört?”. Frau Moll tippte auf der Tastatur ihres Computers herum und ich wartete geduldig, bis die Frau antwortete. „Tut mir leid”, lächelte sie sanft, „keine Treffer. Auch ähnliche Namen gibt es nicht. Da muss dir wohl ein Fehler unterlaufen sein.“ Ich nickte zum Abschied und beschloss, noch einmal im Internet nach zu sehen. Danach schlenderte ich nach Hause und machte meine Hausaufgaben.
 
„Wie war die Schule?“, fragte Corinne mich beim Abendessen, „habt ihr Arbeiten rausbekommen?“. Ich schüttelte den Kopf und schlürfte still meine Suppe. „Du bist anders, seit du nach dem Sturz so lange bewusstlos warst!“, Corinne klang aufrichtig besorgt, doch ich konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Ich bin anders, weil ich dich und Zarah und Julie bald wahrscheinlich nie mehr wiedersehen werde, weil meine Eltern entführt worden sind, weil ich eine neue Welt mit sprechenden Seepferdchen entdeckt habe und weil ich hier keinen mehr habe, dem ich mich wirklich anvertrauen kann! Ich war abwechselnd wütend und traurig und einfach nicht mehr ich selbst. Seit Zarah mich für verrückt erklärt hatte, konnte ich ihr nicht mehr alles unbeschwert erzählen und auch Corinne, die mir nicht wirklich geholfen hatte, würde mich nicht verstehen. Ondine war meine einzige wirkliche Freundin! Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Und genau deshalb werde ich nach Lictaras zurückkehren. Außerdem muss ich meine Eltern befreien-das bin ich ihnen schuldig! „Eliane, hörst du mich?“, unterbrach meine Tante meine Gedanken. Ich nickte, zwang mich zu einem Lächeln und erklärte meiner Verwandten, dass ich nur müde sei. Nach dem Essen verdrückte ich mich in mein Zimmer und öffnete das Internetprogramm meines Computers. Nachdem ich „Spiegelfelsen“ in die Zeile meines Browsers eingegeben und auf ENTER gedrückt hatte, kamen gleich mehrere Treffer. Ich öffnete einen Zeitungsbericht, der vor zwei Jahren veröffentlich worden war:
Sagenhafter Fund
 
Am 18. 10. 2009 entdeckte der 80- jährige Rentner Walter S. am späten Nachmittag während eines Strandspazierganges einen riesigen Findling, der aufwändig mit Farben und Kreiden bemalt worden war. Die Bemalung zeigt eine Graslandschaft im strahlenden Sonnenschein, auf dem mehrere Pferde grasen und sogar als Pegasi im Himmel schweben. Der Felsen wird ab der nächsten Woche im städtischen Park zu sehen sein, wo ihn jeder frei bewundern kann.
„Der Findling soll als Touristenmagnet unsere schöne Stadt wieder interessanter und aufregender machen - für Senioren und Jugendliche jeder Gesinnung.“, erzählt uns Oberbürgermeisterin Gabriela Fischer in einem Interview. Auch die Mehrheit der befragten Einwohner (89%) glauben fest an den Erfolg. Bei einer offiziellen Einweihung am vergangenen Freitag (20. 10. 2009) wurde der Felsen „Spiegelfelsen“ genannt. Wir alle hoffen auf die Aufwertung und den wirtschaftlichen Erfolg unserer Stadt und hoffen, dass das Geplante bald eintreffen wird!
Bericht: Thomas Henrich
 
Ich stöhnte und schlug mir gegen die Stirn. Natürlich! Ich hatte schon einmal etwas von dem Findling im Park gehört, nur wusste ich nicht, dass er „Spiegelfelsen“ getauft worden war. Jetzt stellte sich nur noch eine Frage: Warum hat mich Frau Moll angelogen?
 
Am nächsten Morgen machte ich mich gleich auf den Weg zu dem  Spiegelfelsen. Traurig schaute ich mich um. Vielleicht war das das letzte Mal, dass ich diese Straße und überhaupt diese Welt sah. Bei meinen Beobachtungen entdeckte ich zufällig Frau Moll, die gerade die Stadtinformationsstelle abschloss und, ohne mich zu bemerken, vor mir her ging. In regelmäßigen Abständen schaute die ältere Frau über ihre Schulter- anscheinend wollte sie nicht gesehen werden. Ich wiegte meinen Kopf abwägend hin und her und folgte ihr dann. Immer, wenn Frau Moll ihr Alleinsein überprüfte, versteckte ich mich hinter Mauern und Büschen und bemerkte dann, dass sie geradewegs zum Spiegelfelsen lief. Der Felsen stand umzäunt in einem viel besuchtem Park und wurde von mehreren Touristen bewundert. Frau Moll gesellte sich zu den Fotografen und begutachtete den großen Findling. Auch ich stellte mich in einiger Entfernung zu dem Stein und betrachtete ihn genau. Die Beobachter glaubten wohl, dass der Findling aufwendig mit Farben und Kreidestiften bemalt worden war, doch ich erkannte, dass der Felsen Lictaras darstellte. Wenn man genauer hinsah, erkannte man kleine, geflügelte Pferde, die durch den gezeichneten Himmel schwebten. Die Frau der Informationsstelle wartete, bis alle Besucher des Parks weitergegangen waren. Frau Moll drehte sich im Kreis, schritt zielstrebig auf den Findling zu und verschwand in ihm. Voller erstaunen bemerkte ich, wie auf der Malerei plötzlich eine menschliche Gestalt auftauchte, die sich dann in ein schwarzes Einhorn verwandelte und davon galoppierte. Ich überlegte unschlüssig, schaute mich um und trat kurzerhand hinterher. Wieder durchströmten lilafarbene Blitze den Boden und meine Gestalt wurde wässrig. Ich schloss die Augen, strich mir die Haare aus der Stirn und wartete darauf, dass ich wieder vollends auftauchte. Als dies geschehen war, fühlte ich, dass ich wieder in Lictaras war.
 
Ich stand auf einem Hügel und schaute umher. Ich lachte laut auf vor Freude und schaute den kleinen Berg hinunter, auf dem ich stand. Dort auf einer saftigen und grünen Wiese sah ich Nice stehen. Sie hatte die Flügel friedlich angelegt und weidete das Gras, das sich sanft im Wind wiegte. „Nice”, schrie ich glücklich, „ich bin zurück!”. Nice hob schnaubend den Kopf und wieherte mir prustend zu. Bin ich froh, dass du wieder da bist! Und, was haben Seja und Tala gesagt? Ich hielt schliddernd vor dem Pegasus an und umarmte sie stürmisch. Während sie mir eröffnete, dass sie schon den ganzen Morgen auf mich gewartet hatte und Seja wieder auf „der Lichtung“ in ihrem kleinen Häuschen war. Ich kletterte auf ihren Rücken und sie sprang mit einem Schlagen ihrer kräftigen Flügel in die vom Wind durchströmte Luft. Nice flog sehr schnell und zog ihre muskulösen Beine an ihren bepelzten Bauch. Ich erzählte dem Pegasus alles über das Gespräch mit der Herrscherin über Lictaras und auch über die Bemerkung Talas. Weißt du, was sie meinte? Ich überlegte fieberhaft, doch kam nicht auf die Lösung. Nices Kopf war stur geradeaus gerichtet und ihre Ohren und Augen zuckten und rollten unaufhörlich. Nein. Der Pegasus antwortete knapp und abweisend und sie schien erpicht darauf, das Thema zu wechseln. Wo fliegen wir hin? Ich lugte auf den Boden und sah, dass wir die Lichtung unserer ersten Begegnung schon weit hinter uns gelassen hatten und auch nicht in die Richtung des Kristallmeeres flogen. Wo ist Ondine? Ondine ist noch immer im Kristallmeer. Sie war schon so lange nicht mehr in ihrem Zuhause, dass sie die Zeit ausnutzen will. Ich nickte und wartete unser Ziel ab. Meine Geduld wurde schon bald belohnt, denn wir landeten in einem sonnenbeschienenem Waldstück. Dort stand ein kleines, einfaches Holzhaus. Hier wohnt Nuso, er ist ein Holzkobold. Diese Wesen haben besondere Fähigkeiten. Nice erklärte mir, dass es insgesamt zwei in Lictaras gab und dass dieser hier, eine Art Barbier war. Er wird dich in eine Göttin verwandeln. Meine Augen leuchteten und ich lächelte den Pegasus freudenstrahlend an. Ich schritt vorsichtig und mit zitternden Händen auf die Wohnstätte des Kobolds zu undöffnete die Tür. Im Inneren des Hauses standen nur ein paar Möbel: Ein asymmetrischer Tisch, zwei Stühle und ein Herd standen in der Ecke, ein angeschlagener Spiegel, mehrere Regale (sie hingen an den Wänden) und viele Fläschchen und Tinkturen in der Mitte des Raumes. Staunend drehte ich mich im Kreis und bemerkte zwei Personen, die lächelnd vor dem einzigen Fenster des Hauses standen. Eine von ihnen trug ein helles, durchscheinendes Kleid und darunter einen goldenen Unterrock. Ihre ebenfalls gold- blonden Haare hatte sie zu einer halboffenen Frisur hochgesteckt und ihre Füße waren nackt. „Schön dich wiederzusehen!“, begrüßte die Frau mich und ich erkannte sie wieder. „Ebenso, Seja.“, der Anblick der Herrscherin zauberte mir ein Grinsen aufs Gesicht. „Ich bin Nuso.“, stellte sich die andere Gestalt vor, „ich freue mich sehr, dich kennenzulernen.“ Ich betrachtete den Holzkobold neugierig und erkannte, dass dessen Haut wie Rinde und Kleidung wie Blätter und Zweige aussah. „Setz dich doch!”, bot Nuso mir an, „bevor wir anfangen, muss ich dir noch etwas erklären. Ich werde dir ein neues Aussehen verpassen, was einer Göttin würdig ist-denn genau das bist du nun. Deine Aufgaben werden die Zuversicht und der Mut sein.“ Verwirrt schwirrte mein Blick von Seja zu Nuso und mein Mund öffnete sich wiederstrebend. Die Herrscherin lachte und drückte mich auf einen Stuhl vor den Spiegel. Der Holzkobold begutachtete meine Haare und band mir die Augen zu. „Damit die Überraschung gelingt!“, erklärte er. Ich runzelte die Stirn. Ich mag es nicht, wenn man etwas an mir verändert, ohne mich vorher zu fragen. „Keine Sorge!“, beschwichtigte mich Seja, die meine Gedanken zu kennen schien. Ich nickte langsam und mit vor Angst verkniffenen Augen erlaubte ich dem Barbier, mich gänzlich zu verändern. Ich spürte, wie Nuso mit Schere und Farben an mir herumschnitt und –färbte. Als ich die Augen öffnete und in den Spiegel schaute, hielt ich vor Erstaunen die Luft an. Nuso hatte es geschafft und mein Aussehen an das einer Göttin angepasst. Mein Gesicht wurde von silbernem, schulterlangem Haar umrahmt und meine Augen und Augenbrauen waren nun schmal und fein gebogen. Ich stand perplex auf und drehte mich verblüfft und glücklich um. Ich dankte dem Holzkobold und Seja begleitete mich nach draußen. Als Nice mich erblickte, wieherte sie verzückt und schritt langsam auf mich zu. Du siehst aus wie eine Göttin! Ich … ich hätte nie so ausgesehen, selbst wenn ich… Der Pegasus verstummte und umrundete mich verzaubert. Seja kicherte, aber stimmte ihr zu. Plötzlich verdunkelte ein Schatten das Waldstück und Amor landete wiehernd und mit einer eleganten Bewegung. Der Hengst trottete selbstsicher und hübsch wie immer auf mich zu. Ach du meine Güte. Wer ist das denn? Amor prustete schelmisch und bot der Herrscherin seinen Rücken an. Diese schwang sich grinsend darauf und bedeutete mir, dasselbe auch bei Nice zu tun. Der Pegasus mit den grünen Augen stampfte mit den Hufen auf, streckte sich, schlug mit dem Schweif aus und schwang sich gemeinsam mit dem geflügelten Hengst in die Lüfte. Der Wind pfiff mir um die Ohren und gegen den aufkommenden Sturm anbrüllend, erzählte mir Seja wissenswertes über die Insel, über der wir flogen und bald darauf landeten. Die beiden Pferde versprachen zu warten, während die Frau mich am Arm packte und mich in das Herz des Landstreifens führte. Erstaunt beobachtete ich die Lebensweiße der Einwohner, die doch für mich völlig neu war. Viele Holzhäuser mit Strohdächern gaben uns Einblicke in die verschieden möblierten Häuser. Verlockende Düfte nach Braten und Rosmarin strömten in unsere Nasen, aber auch fremdartige Gerüche, wie gebratene Pilze mit gekochten und gedünsteten Würmern und Larven, strömten aus den Häusern. Einfache Lederbahnen waren ein Ersatz für Haustüren. Kräutergärten, die mit allerlei Pflanzen (Salbei, Basilikum und Lavendel) gefüllt waren, wuchsen genauso gut wie die Salate, Kartoffeln und Erbsen. „Hier hinein.”, Seja deutete auf ein Haus mit der Nummer 666. Ich schob den Ledervorhang zur Seite und trat ein. Im Vorbeigehen flüsterte meine Begleitung mir zu: „Hier lebt Tarata, sie ist Schneiderin. Sie wird dir geeignete Kleidung verschaffen.” Ich nickte und rümpfte die Nase. „Ich muss aber doch kein… Kleid tragen, oder?“, fragte ich besorgt. Seja zuckte mit den Schultern und schubste mich sanft vorwärts. Ein Borkenweibchen, anscheinend Tarata, stand am Herd,  drehte sich dann um und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Sie hatte braune, rindenartige Haut und lief barfuß, ihr Kleid war aus grünem, braunem und rotgelben Laub zusammengenäht und in ihrem Haar hatten sich Blätter und Rinde verfangen. „Wollt ihr etwas essen?”, knarrte sie. „Sehr gerne!”, rief die Herrscherin von Lictaras und sie und ich setzten uns an den runden Tisch im Raum. Die Schneiderin ließ Beerensaft in zwei Becher laufen, füllte Fleisch, Brot und Kartoffeln in Schalen und zündete eine Kerze an. Kaum stand alles auf dem Tisch, langten wir auch schon zu. Nachdem wir satt waren, brachte Seja ihr Anliegen vor. Tarata nickte bedächtig und schaute mich prüfend an. „Sie ist sehr schlank. Das wird mit den Schnittmustern gehen, die ich hier habe. Kommt später wieder, dann ist es fertig.“, die Schneiderin deutete auf die Tür und drückte uns nach draußen. Ich beschloss, mich auf der Insel umzusehen und die Herrscherin von Lictaras wollte mich begleiten. Anscheinend war Markttag, denn wir hörten schon von weitem das anpreisende Geschrei der Händler. Nicht nur Gemüse und Obst, Seifen und Handtücher, Stoffe und Leder, Suppenschüsseln und Becher sondern auch Tiere und Käfige, Lebensmittel und Eimer, Urkunden und Möbel, Gemälde und Krimskrams wurden verkauft. An einem Stand mit Schmuck, blieb ich stehen. Mir war ein Ring ins Auge gefallen. Er war groß und granitfarben, eingeritzte Ornamente, Runen und Linien zogen sich wie Schlangen über das Schmuckstück und ein silberner Diamant in der Form einer Ellipse prangte in der Mitte. „Gefällt er dir?”, fragte Seja. Der Verkäufer, ein einfach gekleideter Mensch, nannte ihr den Preis. Die Frau zählte ihm drei Kupfermünzen in die Hand und nahm das Erworbene an sich. Dann wandte sie sich mir zu und steckte es an meinen Ringfinger.
 
„Wir müssen nun zurück!“, Seja packte mich an der Schulter und zog mich zurück zum Haus der Schneiderin. Meine neuen Kleider waren wunderschön. Tarata hatte meine Abneigung gegen Kleider beachtet, darum hatte sie mir außer dem festlichen Gewand auch noch eine Bluse und eine Hose genäht. Staunend betrachtete ich alles. Das Kleid war aus silbrigem Stoff und hatte goldene Ornamente am Übergang des sonst einfachen Rockes und an der Taille. Die Bluse konnte ich in die weit ausgeschnittene Hose (also eine Art Haremshose) stecken und ein Gürtel mit Platz für verschiedene Utensilien hielt alles an seinem Platz. Ich behielt die Hose und das Hemd an und folgte Seja strahlend zu Nice und Amor. Die beiden bestaunten mein neues Äußeres und flogen uns zurück zur Lichtung. Als ich abstieg wurde mir plötzlich schlecht. Ich krümmte mich vor Krämpfen und wurde dann in die Luft gehoben. Rauch und gold- silberner Staub waberte um mich herum. Funken stoben und färbten den Himmel grün und orange-rot. Als ich wieder auf den Boden aufsetzte war ich ein Pegasus geworden! Ich hatte goldgelbes Fell und silbrige Schweif- und Schopfhaare. Meine geschmeidigen und kraftvollen Flügel hatten die gleiche Farbe und um eine meiner Fesseln hatte sich ein granitgrauer Reif mit einem silbrigen, ellipsenförmigen Diamanten geschlungen- mein Aussehen glich ungefähr das eines Palominos. Seja starrte auf mich und schien geschockt. Nice und Amor wieherten erschrocken und bäumten sich auf. Dann erwachte die Frau aus ihrer Trance und holte aus ihrer Tasche eine Flasche mit einem grünen Inhalt. Sie eilte zu mir und versuchte mich zu beruhigen, als wieder Rauch aufstieg und ich mich zurück in meine menschliche Gestalt verwandelte. Seja ließ die Flasche fallen und wich vor mir zurück. Nach den Lichtern am Himmel suchend, blickte ich in die Wolken. Plötzlich hatte ich das Gefühl zu fallen; ich konnte meine Augen nicht mehr öffnen und starrte auf das, was sich bei meinem inneren Auge abspielte: Ich war nicht mehr am Ufer des Meeres, das zur Portalinsel führte, sondern nahe eines Waldes auf einer mir unbekannten Lichtung. Ich bemerkte eine Frau, die hellbraunes Haar hatte und ein Kleinkind im Arm hielt. Sie stand am Waldrand und die Flammen eines Feuers warfen Schatten auf ihr schlankes und hübsches Gesicht. Im Hintergrund sah ich brennende Häuser und Menschen, die schreiend zu fliehen versuchten. „Flieh, Etienne! Sie wollen Eliane! Ich werde sie aufhalten! Los, geh schon!“. Die Frau mit Namen Etienne schaute auf. „Louis! Ich werde nicht ohne dich gehen! “. Dann sprang sie auf und versteckte das Kind zwischen den schützenden Bäumen. Ein braunes Pferd mit schwarzer Mähne galoppierte auf Etienne zu. Es war wahrscheinlich Louis, denn er ließ sie aufsteigen und blies hinter sich. Ein Feuerwall loderte auf. Auf der anderen Seite des Walles stoppten zwölf schwarze Einhörner und ein schwarzer Pegasus. Die Augen des geflügelten Pferdes glommen rot und das Fabelwesen ging durch das Feuer. Die Einhörner senkten die Köpfe und aus ihren Hörnern schoss Wasser, das die Flammen löschte. Die gehörnten Tiere galoppierten weiter und ließen Seile hervorschnellen. Diese schlängelten sich um Louis´ Fesseln. Er stürzte und verwandelte sich im Fallen in einen hübschen jungen Mann. Etienne fiel von seinem Rücken und auch sie wurde von den Einhörnern gefesselt.
 
Plötzlich wurde ich mit einem Ruck wieder in meinem Körper gerissen. „Was hast du gesehen?”, fragte Seja eindringlich, die mich an den Schultern gepackt hatte und kräftig schüttelte. Ich erzählte ihr von meiner Vision, dem schwarzen Einhorn (das ich auf dem Findling gesehen hatte, als Frau Moll nach Lictaras ging) und von der Frau selbst (die diese Welt anscheinend kannte und mir nur nicht sagen gewollt hatte, wo der Spiegelfelsen liegt). Visala nickte, schaute mich mit ernsten Augen an und begann zu erzählen: „Ich hatte dir versprochen, dass ich dir alles sage, was ich weiß, wenn ich das letzte Puzzleteil besitze. Es ist soweit. Deine Geschichte hat uns gezeigt, was damals wirklich passiert ist. Deine Mutter und dein Vater konnten nicht fliehen, weil der Angriff überraschend war und sie einfach nicht die Zeit dazu gehabt hatten, einen Plan zu entwickeln. Du entkamst, weil Etienne dich versteckt hat und du sicher zwischen den Bäumen lagst. Uns war auch bisher unbekannt, dass Solmena selbst- sie war der schwarze Pegasus- dabei war. Die schwarzen Einhörner sind die sogenannten Ciroma; Gefolgsleute und Krieger Solmenas. Diese Frau Moll ist wahrscheinlich eine Spionin und als du sie nach dem Felsen gefragt hast, wusste sie, dass du den Eingang nach Lictaras kennen könntest und dass dein Alter der Prophezeiung entspricht, das wusste sie natürlich auch. Ja, ich glaube sogar, dass sie selbst ein Ciroma ist! Du und dein Vater, ihr seid Gestaltwandler- ihr könnt zwischen der tierischen und der menschlichen Gestalt wechseln, ohne vorher einen Trank schlucken zu müssen. Solmena wird dich nun jagen, jetzt wo sie weiß, dass du noch lebst und eine viel größere Gefahr bist als früher! Du hattest bereits eine Freundin in Sejatal, dem Dorf, indem deine Mutter lebte. Ihr Name war Morgan. Sie konnte sich nur mithilfe des Trankes verwandeln. Ansonsten war sie ein Pferd.“ Seja deutete auf die verkorkte Flasche, die sie wieder in Händen hielt. „Morgan brachte dich in die Menschenwelt- ihre Mutter hatte ihr immer eingeschärft, dich mit ihrem Leben zu beschützen“, fuhr die Frau fort, „und das hat sie auch getan…“

 

Escalon

Erschrocken schlug ich die Hände vor den Mund. „Soll das heißen, dass sie…“, flüsterte ich heiser. Seja hob abwehrend die Hände. „Nein“, beschwichtigte sie mich, „ihr geht es gut. Ich weiß zwar nicht, wo sie sich gerade aufhält, aber ich bin mir sicher, dass sie sich auf ein Wiedersehen mit dir freut!“. Erleichtert nickte ich und unterdrückte ein Gähnen. „Morgan brachte mich also zu meine Tante?“, fragte ich verwirrt. Mein Gegenüber nickte bedächtig und fuhr dann mit dem Ende meiner Vergangenheit fort: „Sie glaubte, dass du dort am sichersten aufgehoben seiest. Wir warteten alle darauf, dass du zu uns kommen würdest und endlich bereit wärest, deine Aufgabe und die Weissagung zu erfüllen! Ich werde dir jetzt sagen, welchen Weg du gehen musst, denn du musst so bald wie möglich aufbrechen! Hör mir jetzt gut zu: Erst musst du durch die Wüste, dann durch das Meer und zuletzt durch das Eis der Eismerenen. Dann solltest du genügend Verbündete zusammenhaben, die dich unterstützen, um gegen Solmena anzutreten. Wenn es soweit ist, gehe nach Westen in die Schattenklüfte. An dem Ort, wo es am Dunkelsten ist, wirst du ihren schwarzen Palast vorfinden. Ich wünsche dir von ganzem Herzen viel Glück!“. Ich schüttelte erschrocken und den Tränen nahe den Kopf. „Nein, ihr müsst mich mit jemandem verwechseln! Ich kann doch nicht… ich will nicht… ich weiß nicht was ich tun soll!“. Plötzlich stampfte Amor mit seinem schlanken Huf auf und trottete mit edel gebeugtem Hals auf mich zu. Hör endlich zu, Mädchen! Solmena hat deine Eltern gefangen genommen und jede Minute, in der wir hier herumstehen, läuft ihre Lebenszeit ab! Wenn ich du wäre, würde ich alles daran setzten, die zu befreien, die ihr Leben für mich gegeben hätten! Wenn du sie nicht rettest, werden sie irgendwann sterben und ein ganzes Land mit ihnen. Solmena hat ihre Kraft aus einer Kette. Sie wurde den Eltern deiner Freundin Morgan anvertraut, doch wurde gestohlen. Sie besteht aus einem grünem und einem roten Diamanten, die das Gleichgewicht der Welt herstellen sollen. Die Kette verleiht dem Träger unvorstellbare Kräfte und je nach Gesinnung des Trägers wird einer der Edelsteine aus der Kette verdrängt. Die Fassung, in der die Kristalle eingefasst sind, ist ellipsenförmig und die Steine befinden sich genau in der Mitte. Deine Freundin und deine Eltern riskierten ihr Leben um deines zu retten- zeige dich endlich erkenntlich und sei dankbar, dass du die Chance hast, uns alle lebend wieder herauszubekommen!„Amor, bitte“, tadelte Seja, fügte jedoch an mich gewandt hinzu, „aber er hat recht! Wie du sie aufhalten kannst, nun“, sie seufzte und kratzte sich an der Nasenspitze, was, trotz der mehr als ernsten Situation, ziemlich ulkig aussah, „ das weiß ich auch nicht. Aber ich weiß, und da bin ich mir ziemlich sicher, dass du dir so viele Freunde verschaffen musst wie du bekommen kannst und sie dann überreden musst, dir in deinem Kampf beizustehen und hoffentlich zum Sieg zu verhelfen. Nun komm, du musst müde sein!“. Sie hatte recht, mir brummte der Schädel vor lauter Fragen und ich war sehr erschöpft. Ich folgte der Frau einen Hügel hinauf und stand vor einer Villa. Meine Begleiterin begrüßte die Tiere, die sich überall tummelten, freundlich und schickte einen Hirsch und ein Eichhörnchen mit mir, damit sie mich in das große Haus hinein führen und mir das Badezimmer zeigen konnten. Unschlüssig stand ich in dem riesigen Raum, indem Sachen standen, die mir fremd und seltsam vorkamen. „Worauf wartest du?“, fragte Seja, die gerade herein gekommen war und ihren Kopf in das Badezimmer streckte. Ich legte dem Hirsch meine neuen Kleider über das Geweih und er trabte davon, wahrscheinlich irgendwohin, wo sie gewaschen werden konnten. Ich drehte verschiedene Hähne in der Dusche auf und ließ das heiße Wasser auf meinen Körper prasseln. Das Eichhörnchen saß auf dem Duschkabinenrand und reichte mir verschiedene Bade-Öle und ein Handtuch. Ich rubbelte meine Haare halbwegs trocken und wickelte mich in einen Bademantel ein. Ich tapste auf den Flur und drehte mich mit fragendem Gesicht im Kreis. Da tauchte der Hirsch wieder auf und stupste mich sanft den Gang entlang. Am Ende befand sich eine Eichenholz Tür, die ich neugierig aufstieß. Dahinter lag ein großes Zimmer mit einem großen Doppelfenster, einem Schrank und einem einladenden Bett. Hinter mir trat die Herrscherin über Lictaras ein und legte ein seidenes Nachthemd auf das Himmelbett. Ich zog mich an und folgte Seja in das Wohnzimmer. In einem Kamin brannte Feuer und das sorgte für halbdunkles Licht. Auf einem Tisch standen eine Porzellanschüssel mit Brot, ein Glas Ziegenmilch und eine Platte mit Käse und Butter. Nachdem ich gegessen hatte, räumte Seja den Tisch ab und führte mich dann wieder in mein Zimmer. Ich legte mich in das Bett und die Frau wünschte mir eine gute Nacht. Plötzlich brach aus mir die Frage heraus, die mir schon den ganzen Abend im Kopf herum gespukt hatte: „Ich habe noch nie gekämpft! Wie soll ich jemanden besiegen, der diese… Kette trägt?“. Seja lächelte beruhigend und antwortete: „Vertrau auf die Macht der Liebe und Freundschaft! Du wirst es schaffen, verliere nur dein Vertrauen und deine Spontanität nicht, dann wirst du sicher gewinnen und deine Eltern befreien.“
 
 
„Amor!“, schrie die Angesprochene erfreut, „jetzt wird es spannend, Nice. Dein Prinz kommt um dich zu retten!“. Plötzlich ging alles sehr schnell. Amor umkreiste die übergeschnappte Magierin, während er das verwirrte braune Pferd anschrie, dass es abhauen solle. Nice gehorchte, entfaltete ihre Schwingen und erhob sich mühsam in die Luft. Der weiße Pegasus ließ von der kreischenden Solmena ab und folgte der gerade Verwandelten.
Nice und Amor flogen Seite an Seite, bis sie an der Lichtung ankamen, auf der Sejas Villa gebaut worden war. Der weiße Pegasus schubste seine Gefährtin durch die Tür und brachte sie zur der Frau, die ahnungslos an ihrem Tisch saß und aß. Als sie die arme und orientierungslose Nice erblickte, sprang sie erschrocken auf und ließ sich schnell berichten, was passiert war. „Solmena!“, stieß sie wütend aus, „irgendwann wird sie dafür bezahlen!“. Na ja, das Kind der Prophezeiung bin ich allerdings nicht. Nice grinste schwach und schaute Seja eindringlich an. Hast du eine Ahnung wer noch in Frage käme? Die Angesprochene schüttelte seufzend den Kopf. „Nein“, stöhnte sie verzweifelt, „ich hatte wirklich geglaubt, du seist es… So viele Menschenkinder, die der Weissagung entsprechen, kann es doch eigentlich gar nicht mehr geben! Ich glaube, es ist hoffnungslos!“. Das darfst du nicht sagen! Nice trat einen Schritt vor und blickte Seja ernst an. Hoffnung gibt es immer! Überleg noch einmal. Gibt es noch ein Mädchen, das bald 15 wird und hier geboren wurde? Seja zog die Stirn kraus und dachte angestrengt nach. Plötzlich begannen ihre Augen zu funkeln und sie stieß hörbar Luft aus. „Da gibt es noch jemand! Erinnert ihr euch an die Entführung von Etienne und Louis?“. Die beiden Pferde nickten und schauten sich verwundert an. Aber, was hat das mit unserer Frage zu tun? Jeder weiß doch, dass die beiden, nun ja, ein wenig, verrückt waren, oder? „Wie kannst du so etwas sagen?“, brauste Seja auf, „die beiden glaubten eben, dass ihre Tochter, Eliane, das Mädchen der Prophezeiung ist! Und anscheinend haben sie recht gehabt. Ich meine, warum sonst, hätten die Ciroma Sejatal angreifen sollen?“. Amor zog kleinlaut und beschämt den Kopf ein, Nice nickte zustimmend und Seja lief auf und ab. „Weiß Solmena, dass wir nicht genau wissen, wer das gesuchte Kind ist?“, fragte sie aufgeregt. Amor schüttelte den Kopf und antwortete: Nein, zum Glück nicht! Solmena denkt, dass Nice eine Art, äh, Bote von dem Mädchen ist!“. „Gut!“, erleichtert setzte sich die Frau wieder an den Tisch und spielte mit einem Korken, der auf dem Tisch lag. „Wir müssen Eliane suchen!“, sprach sie zu dem Tisch gewandt, „Amor, such Ondine und sage ihr, sie soll sich auf den Weg in die Menschenwelt machen.“ Amor nickte und trat nach draußen.
 
Als ich erwachte, stand bereits die Sonne am Himmel. Ich blinzelte, streckte mich und stand auf. Vorsichtig öffnete ich die Tür und schritt den Flur entlang. Plötzlich trat aus einer Tür rechts von mir Seja, die mir freundlich zulächelte und mir einen guten Morgen wünschte. „Und, bist du bereit?“, fragte sie und führte mich ins Esszimmer. Ich zuckte mit den Schultern und beredete mit der Frau, was ich nun tun sollte.
„Ich hab noch etwas für dich!“, Seja stand auf und kehrte grinsend mit einer kleinen, ledernen Tasche zurück. „Sie ist aus der Haut der Farntiere, deshalb ist sie innen größer als man denkt.“ Ich bedankte mich und packte sogleich lang haltbare Lebensmittel, Wasser und mein Kleid hinein.  Ich wusch mich, zog mein Hemd und die Hose an und warf mir einen schwarzen Umhang über die Schultern. „Hübsch siehst du aus!“, gab Seja zu und klopfte mir aufmunternd auf den Rücken.  Ich nickte entschlossen und trat nach draußen. Ich biss in einen Apfel und verabschiedete mich von Cylix, Sumit, Amor, Nice und Seja. „Ich würde dir raten, in der Wüstenstadt Escalon anzufangen.”, riet mir diese und ich nickte dankbar, verwandelte mich und schwang mich in die Lüfte.
 
 
 
 
Ich hatte mir über Nacht viele Gedanken gemacht. Ich wusste wenig über Lictaras, Solmena oder die anderen Bewohner, doch wusste ich, dass ich denjenigen, der mir oder meinen Eltern Schaden zufügen wollte, bekämpfen würde.
 
Nach ein paar Stunden wurde ich müde- das Fliegen war anstrengender als ich angenommen hatte. Die Windböen, Luftlöcher und entgegenkommenden Vögel beschwerten den Flug und außerdem hatte ich vorher noch nie meine Schwingen benutzt. Plötzlich sah ich unter mir eine Lichtung, auf der ich, um mich auszuruhen, landete und mich umschaute. Um die Lichtung herum war nur Wald und die wenigen Pflanzen, die sich aus der trockenen Erde streckten, verrieten mir, dass hier einmal etwas gebrannt hatte. Da riss ich erstaunt die Augen auf, da ich den Ort aus meiner Vision erkannt hatte. Hier stand also einst Sejatal? Ich trottete zum Waldrand und betrachtete den Boden genau. Hier musste ich gelegen haben, als Etienne mich versteckt hatte. Eine Träne rann aus meinem Augenwinkel und ich legte mich erschöpft in den Schutz der Bäume, wie ich es vor langer Zeit schon einmal getan haben musste. Dann döste ich ein.
 
Ich erwachte davon, dass sich etwas über mich beugte. Langsam öffnete ich die Augen. „Mmmm”, stöhnte ich, „wer ist da?”. Niemand antwortete mir. Langsam rappelte ich mich auf und schüttelte mich. In der Mitte der Lichtung lag ein sandfarbenes Pferd und starrte mich an. „Ich bin Eliane.”, rief ich- einer musste ja schließlich den Anfang machen. Ob das ein Ciroma ist? Es ist zwar nicht schwarz und macht einen guten Eindruck, aber man kann ja nie wissen. „Bist du das Mädchen der Prophezeiung?”, fragte mich das Pferd vorsichtig. Ich nickte mit einer sterbenswehen Miene und hätte mich ohrfeigen können. Ich kann doch nicht jedem einfach meinen Namen verraten! Da könnte ich doch gleich zu Solmena gehen und sagen „Hallo da bin ich!“!“ Misstrauisch schielte ich hinüber zu dem Pferd, das mir freundlich entgegen lächelte. „Schön dich wiederzusehen!“, sagte es und rappelte sich auf. „Ich komme oft hierher, hier verbergen sich traurige Erinnerungen aus der Vergangenheit!“, seufzte sie und schaute sich um. „Bei mir auch!“, rutschte mir heraus, bevor ich mich bremsen konnte. „Ich weiß.“, das Pferd grinste schwach und schaute mich durchdringend an, „ich war dabei! Mein Name ist übrigens Morgan!“.
 
„Warum hast du das nicht früher gesagt?“, fragte ich erschrocken und mir stieß die Röte ins Gesicht. „Ich wollte wissen, ob du mich erkennst.“, antwortete meine alte Freundin knapp und lächelte mir entschuldigend zu. „Ich bin auf dem Weg nach Escalon, begleitest du mich?“. Die Frage purzelte mir aus dem Mund, obwohl ich wusste, dass sie nicht wirklich gut formuliert war. Morgan schaute mich verdutzt an und spitzte die Ohren. Ich würde wahrscheinlich auch so reagieren! Wenn sie mich fragen würde, ob ich mit ihr irgendwohin gehe, obwohl ich sie nicht erkannt und seit 14 Jahren nicht mehr gesehen habe! „Na klar!“, erklang die Stimme des Pferdes und es sprang erfreut in die Luft, „ich hatte schon Angst gehabt, du willst nichts mit mir zu tun haben!“. Nun war es an mir, erstaunt zu schauen. „Warum sollte ich? Weil du mir das Leben gerettet hast?“. Ich schlug mit meinen eindrucksvollen Flügeln und schnaubte. Morgan kam auf mich zu und legte ihren Kopf auf meine Kruppe. „Ich bin froh, dass du wieder da bist!“, flüsterte sie und galoppierte so plötzlich los, das ich wiehernd den Kopf nach oben warf. Prustend nahm ich die Herausforderung an und schwang mich in die Luft. Als ein Windstoß kam, legte ich die Flügel an, um noch schneller zu werden. Als ich nach unten schaute, sah ich Morgan, die genauso schnell war wie ich. Warum kann ich sie nicht überholen? Verärgert kniff ich die Augen zusammen. Für mich war es nun ein Rennen geworden; ich wollte unbedingt gewinnen! Ich schlug schneller, schneller und schneller mit den Flügeln. Da sah ich die ersten Wüstenanläufe. Von so weit oben konnte der Sand sehr einladend wirken. Doch ich wusste, dass Sandstürme, Treibsande und Dünen, die einen einsinken ließen, nur die kleinsten Gefahren waren. Und trotzdem lebten einige Wüstenpferde in dem sandigen Gebiet (das jedenfalls hatte Seja mir erzählt). Für jene, die das Leben zwischen dem Sand nicht gewohnt waren, war ein Überleben fast unmöglich. Als ich nach unten sah um zu schauen ob ich meine Freundin abgehängt hatte, war niemand mehr zu sehen. Ha! Ich feixte innerlich. Ich habe sie nun doch hinter mir gelassen! Ich schaute siegessicher nach vorne und erschrak. Ein Schatten galoppierte weit vor mir. Ich ging in den Sturzflug, bis ich mit den Hufen fast den Boden berührte. Ich beobachtete Morgan genau und sah, dass ihre Hufe kaum den Boden berührten. Da bemerkte ich eine kleine Raute auf der linken Flanke des sandfarbenen Pferdes. Sie ein Rifama! Aber auch das wird ihr nichts nutzen! Vor mir lag ein kleiner Fluss. Das letzte Gewässer vor der Wüste. Ich grinste hämisch, denn während ich hinüber fliegen konnte, musste Morgan über die alte, morsche Brücke gehen - und dies konnte sie bestimmt nicht in vollem Galopp! Doch Morgan dachte gar nicht daran! Sie machte einen Satz und sprang erfolgreich über den Fluss, ohne ihr Tempo zu drosseln. Ich verzog mein Gesicht zu einer wütenden Grimasse und suchte nach neuen Chancen. Hier, die Wüste begann. Ich konnte, ohne auf Dünen und Treibsand achten zu müssen, über sie fliegen. Doch Morgan musste wohl oder übel in den Trab, gar in den Schritt fallen. Doch sie überraschte mich schon wieder: Meine Freundin galoppierte weiter im  gestreckten Galopp. Sie wich Dünen, Nattern, Sandbänken und Treibsand aus. Mir blieb der Mund offen stehen als ich begriff: Morgan ist ein Wüstenpferd!  Ich konzentrierte mich wieder auf das Pferd vor mir. Sie war nun doch in den Kanter gefallen. Ein schmaler Weg war der einzige, sichere Ausgang aus der „Natterndüne”, wie Einheimische die Dünenlandschaft, durch die wir gerade kamen, nannten. Nach ungefähr zehn weiteren Kilometern, meine Flügel wurden wieder schwerer, war Morgan noch immer nicht langsamer geworden. Endlich waren die ersten Wachtürme der Stadt Escalon zu sehen. Als ich landete, wurde auch meine Freundin langsamer. Wir waren nun vor den Toren Escalons angekommen. Ich bat um Einlass und die Tore öffneten sich. Äußerlich war die Stadt aus Palisaden erbaut. Vier Wachtürme, jeder von ihnen acht Meter hoch, standen an den vier Ecken der Stadt. Das riesige Tor war fast so breit wie die kurze Seite der Stadt. Innen, ja, wie soll man das beschreiben, sah es sehr… offen aus. Da die Stadt ursprünglich als Rettung vor Sandstürmen gebaut war, sah Escalon im inneren nicht wie eine typische Stadt aus. Die Palisaden waren verdickt, da dort ein paar Zimmer und zwei Wirtshäuser lagen, doch ein Dach gab es keins, der Boden war aus Wüstensand. Wie in alten Westernfilmen, gab es dort, wo die überdachten Seiten der Stadt in den freien Himmel übergingen, einen hölzernen Unterschlupf, unter dem eine Treppe auf den niedrigeren Sandboden führte. Auf dem Platz standen ein paar Marktstände, teils zusammengefallen, teils ganz. Ein Kobold verkaufte Tiere, ein Mensch, der nur einen Karren besaß, pries jedem der vorbei ging, Lavendelseifen, Kämme, Raumdüfte in verschiedenen Sorten, Duftwasser und weiche Handtücher an. Eine alte Frau, die ein durchlöchertes Tuch über den Knien trug, wollte geputzte Äpfel, Karotten, Kartoffeln, gewaschenen Salat und heiße Linsensuppe loswerden. Insgesamt sah Escalon ärmlich und kränklich aus.
Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich. Angestrengt versuchte ich meine Gestalt zu wechseln. Dieses Mal schaffte ich es ohne das grüne Licht; nur ein bisschen Staub stieg auf. Ich taumelte; es war ungewohnt wieder nur auf zwei Beinen zu stehen. Ich betrachtete die Lavendelseifen, sie rochen sehr gut. Morgan bat mich aus ihren Satteltaschen ein kleines Flächen zu holen; das gleiche, das auch Seja in der Hand gehalten hatte, als ich mich plötzlich verwandelt hatte. Morgan schluckte den Trank und sie verwandelte sich in einen Menschen. Morgan trug einen weißen Kaftan, rote, kurze Haare, Sommersprossen und eine Pumphose. Mein schlichtes, weißes Hemd kam mir plötzlich ziemlich hässlich vor, deshalb ging ich beleidigt in das erst beste Wirtshaus. Morgan folgte mir. Ich nahm zwei Krüge vom Wirt entgegen und setzte mich an einen Tisch. Meine Freundin bestellte einen Brotlaib und zwei Linsensuppen. Während wir aßen unterhielten wir uns. „Warum musst du diesen Trank benutzen?“, fragte ich neugierig (die Suppe hatte mich wieder beruhigt). Morgan lächelte schüchtern und antwortete: „Ich bin als Mensch in Sejatal geboren, doch als ich zwei Jahre alt wurde, verwandelte ich mich in ein Pferd. Nur mit diesem Zaubertrank kann ich wieder in meine menschliche Gestalt wechseln. Ich versteckte mich bei dem Angriff zwischen den Bäumen- ganz in der Nähe von dir und brachte dich, als die Ciroma verschwunden waren, zu der Portalinsel. Ich wartete darauf, dass sich die Pforte öffnete (das tut sie immer um Mitternacht bei Neu- und Vollmond) und trug dich zu deiner Tante. Als sie dich auf der Türschwelle liegen sah, hat sie ein ganzschön verdutztes Gesicht gemacht, das kannst du mir glauben. Ich wartete also, bis ich sicher war, dass… Corinne…. dich aufnahm und kehrte nach Lictaras zurück. Das war das letzte Mal, dass ich dich sah- bis heute jedenfalls.“ Ich staunte und empfand plötzliche Dankbarkeit für Morgan.
 
 
 
Als wir die halbwegs leckere Mahlzeit gegessen hatten, gingen wir wieder nach draußen und beratschlagten, wo es als nächstes hingehen sollte. Ich erzählte Morgan, was Seja mir geraten hatte und schlug ihr vor, dass wir die Wüste durchqueren sollten. Nach einigen Überlegungen hatten wir beschlossen, dass wir zu Morgans Großeltern fliegen (ich würde sie auf meinem Rücken tragen) und dann bis zu den Menschendörfern, die hinter der Wüste lagen, ziehen würden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.06.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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