Gerald Schwetlik

Pronto Socorsso


Durch die braunen Fensterläden unseres Refugiums bildeten die Sonnenstrahlen ein Streifenmuster auf unserer Bettdecke, und frische Seeluft, die vom Lago Maggiore herübertrieb, kitzelte in meiner Nase.
Mein Schatz lag neben mir, den Kopf unter dem Kissen versteckt.
Leise kletterte ich umständlich aus dem Bett, um die Sonne vollends herein zu lassen. Kaum hatte ich die linke Hälfte des Fensterladens geöffnet, ertönte ein gequältes Murren aus dem Bett.
»Nicht so viel Licht, Schnausi. Das blendet mich«, stöhnte sie.
Ich hob das Kissen ein wenig an und sah die Bescherung. Es war höchste Zeit, einen Fachmann zu konsultieren! Ihr linkes Auge war knallrot angeschwollen und ein unaufhörlicher Strom einer farblosen Flüssigkeit hatte das Laken schon komplett durchnässt.
»Lass es uns doch erst mal in einer Apotheke versuchen«, sagte Hanna unsicher, »die haben vielleicht ein paar Augentropfen für mich.«
Die Vorstellung, dass ihr irgendein Mensch mit einer Lampe auf ihre Iris leuchten könnte, um sodann ein spitzes Instrument, welcher Art auch immer auszupacken, war eine Horrorvision für meine Frau. Augenärzte schienen in ihrer Vorstellung mehr zum Augen ausstechen zu neigen, als zur Heilung einer Erkrankung signifikant beitragen zu wollen.
»Wir fragen den Wirt, ob ein Krankenhaus in der Nähe ist «, sagte ich selbstsicher und zu meiner Überraschung nickte sie nur kraftlos.
Die Dame des Hauses verwies uns an einen Arzt, den sie für uns vorab kontaktieren wollte. Leider schien der „Dottore“ ein eifriger Benutzer seiner Fernsprechanlage zu sein.  Außer einem „Besetzt“ Zeichen bekamen wir keine Antwort. Hanna begrüßte diesen Umstand aus bekannten Gründen und wenig später befanden wir uns in einer Apotheke.
Ich war weich geworden. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit den drohenden Arztbesuch zu vermeiden? Die resolute Chefapothekerin, eine dunkelhaarige rassige Frau in ihren Vierzigern, warf einen kritisch prüfenden Blick auf das Klätschauge. Dann schaute sie mich ebenso an und knurrte etwas. Ich suchte schon nach Fluchtwegen, aber dann griff sie flugs in ein Regal, um Chloramphenicol-haltige Augentropfen hervorzuzaubern.
Das würde bestimmt helfen, war ihre feste Überzeugung. Ich bezahlte die 14,70 Schweizer Franken und Hanna applizierte das Wundermittel umgehend.
Da nach einer derart kompetenten Beratung sofort Besserung einzutreten hatte, geschah dies auch.
Wir begaben uns also in die City von Locarno und streiften durch die zahlreichen Geschäfte. Der Umstand, dass es dort auch Schuhgeschäfte gab, beschleunigte den temporären Heilungsprozess meiner Gattin immens. Von dem unbändigen Konsumtrieb meines Schatzes angetrieben, eilten wir von Geschäft zu Geschäft.
Hanna kaufte jedoch nichts. Trotz ihrer Unbeschwertheit betrachtete ich ihr immer noch rotes Auge mit Sorge. Ich war unsicher, ob der Tag uns nicht doch noch in ein Arztzimmer führen würde.
Nach einer wirklich beeindruckenden Fahrt mit einer Seilbahn und der Feststellung, dass weiße Tische enorm reflektieren können, wenn sie einer direkten Sonnenbestrahlung ausgesetzt werden, kamen Hanna doch einige Zweifel ob der Angemessenheit der Behandlungsmethode. Wir kehrten gegen späten Nachmittag in unser Hotel zurück und sie legte sich in unser verdunkeltes Zimmer, um ihr krankes Auge nun mit Ruhe zu kurieren. Ich hatte mir fest vorgenommen, sie noch einmal auf die Tatsache hinzuweisen, dass es auch in der südlichen Schweiz Augenärzte gäbe, aber als ich gerade zu meiner Rede ansetzen wollte, überlegte ich es mir anders. Sie würde von alleine auf die Idee kommen.
Ich verbrachte den sonnigen Spätnachmittag lesend im Gartenrestaurant und wurde recht höflich mit Bier versorgt.
Als ich gegen 19:00 Uhr unsere Suite betrat, verkündete Hanna mir, dass sie die Wundertropfen unserer Apothekerin nun doch lieber nicht mehr nehmen wollte. Ich konnte ihr da nur zustimmen. Ihr Auge war mittlerweile vollkommen zugeschwollen.  Sie schaute mich mit rot geädertem Augapfel an, und fixierte mich mit einem schielenden, in die Ferne schweifenden Blick. Die klare blaue Farbe ihrer Iris hatte ein schmutziges Graublau angenommen.
»Hanna, ich finde, wir sollten jetzt endlich zum Arzt fahren«, sagte ich besorgt.
»Ich würde ja gern, aber wir haben sieben Uhr. Jetzt ist doch alles geschlossen!«, antwortete sie leise und etwas kleinlaut.
»Okay«, sagte ich, »morgen nach dem Frühstück geht es sofort ab zum Doc. Klar?!«
»Klar«, zustimmend nickte mein leidgeplagter Liebling. Trotz ihrer Behinderung verbrachten wir noch einen netten Abend in der Restauration des Hotels. In der Nacht mussten einige Taschentücher daran glauben.
Am nächsten Morgen, es war Samstag, packten wir unsere Habseligkeiten zusammen und ich schleppte den ganzen Kram in unser Gefährt. Der Wirt befand sich wie immer in seinem Fernsehsessel und stopfte unaufhörlich braungraue Kräcker in sich hinein. Es lief die Sesamstraße. Auf Italienisch. Witzig. Von Zeit zu Zeit lachte er krachend und bombardierte die Mattscheibe mit einer undefinierbaren Masse aus perfekt eingespeichelten graubraunen Kräckern. Dabei stieß er gutturale Laute aus, die mir so vorkamen wie die in der Sesamstraße üblichen Zählübungen. Wenn das Krümelmonster über den Bildschirm hüpfte, wurde er besonders aufmerksam. Jetzt wusste ich zumindest, woher der Wirt die Art hatte, Kekse zu essen. Ein ausgezeichneter Schüler!
Seine Gattin schob derweil lächelnd meine Kreditkarte durch den Rechnungsdrucker und ich bekam einen etwas trockenen Hals, als ich des Endbetrages gewahr wurde.
Unser Frühstück verbrachten wir in Gesellschaft eines englischen Pärchens, das sich in bester britischer Manier, einen kalten Leberpudding zum Morgen gönnte. Als der Sir sich sein hartgekochtes Ei mit selbst mitgebrachter Pfefferminzsoße verfeinerte und ein distinguiertes
„Wonderful, isn’t it? Or is it not?“
dazu ausstieß, verließen wir den Frühstücksraum. Im Augenwinkel konnte ich noch sehen, wie die Lady sich Bacon, Marmelade, Kartoffelbrei und etwas ähnliches wie einen knusprigen Goldhamster auf ihr in Milch eingeweichtes Brötchen legte.
 
Als wir die Rezeption ein letztes Mal passierten, blickte die Wirtin tief in das Klätsch-Schwellauge meines Schatzes und stieß ein mir zunächst unverständliches Wort aus, dass ungefähr so klang:
»Prrronto Zocorrzsoo!«
Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass sie uns jetzt umgehend zur Erste-Hilfe Station des ortsansässigen Krankenhauses schickte. Mit blumigen Worten schilderte sie, wie ihr seinerzeit dort ein bösartiges Furunkel in der Gesäßgegend, problemlos entfernt worden war. Auf unsere Nachfrage, ob die Herrschaften sich denn auch mit Augenerkrankungen auskennen würden, nickte sie heftig.
»Das sind Spezialisten«, sagte sie, »die können sogar amputieren.«
Meine Frau sank dahin.
Da sie federleicht ist und ich dem fortgeschrittenen Krafttraining fröne, trug ich sie in unseren PKW.
Nachdem ich sie festgeschnallt hatte und durch liebevolles Tätscheln ihrer Wangen wieder etwas Leben in den gebeutelten Körper zurück bringen konnte, fuhren wir ab.
Das Krümelmonster hatte ausgezählt und stand schmatzend im Eingang. Seine Gattin winkte hinter ihm durch ein Fenster. »Kommen sie bald wieder. Es war sehr schön, sie als Gäste bei uns zu haben. Gute Reise. Und alles Gute, Signora!«
Nun gut, wir werden darüber nachdenken.
Die exzellente Beschreibung unserer Wirtin führte mich durch viele kleine Seitengässchen direkt zu einem weißen Schild auf dem in Rot geschrieben stand: Pronto Socorsso!
Hanna hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass sich ein Besuch bei einem dieser Augenausstecher nicht mehr vermeiden ließ und ging zielstrebig auf den vermeintlichen Eingang zu. Wenn man nur noch ein Auge zur Verfügung hat, leidet das räumliche Sehen doch erheblich.
Ich holte sie aus der kleinen Bar und entschuldigte mich bei der recht ansehnlichen Italienerin, die immer wieder stammelte:
»Nix Doctor, nix pronto, nix socorosso, parlare italiano per favore!«
An der richtigen Türe angelangt, wurde uns nach Drücken eines schwarzen Knopfes Einlass gewährt.
Der junge, gutaussehende Mann hinter der Milchglasscheibe, musterte uns von oben bis unten und Hanna lüftete zur Erklärung die Sonnenbrille. Wir mussten ein Formular ausfüllen und warten. Der Warteraum war mit allerlei Völkchen gefüllt, das uns mehr oder weniger krank erschien. Eine Hinweistafel wies darauf hin, dass die Kunden nach der Reihenfolge aber auch nach der Schwere ihrer Erkrankung behandelt werden würden. Die Station befand sich im Halbsouterrain und war mit einer schwachen Beleuchtung versehen.
Hanna bedeckte ihr Auge mit einer Serviette.
Ich empfand ihren Zustand als außerordentlich besorgniserregend. Da wir wussten, dass in diesen Etablissements bar bezahlt wird, machte ich mich auf den Weg, um noch ein paar Franken beim Geldautomaten abzuheben. Unprofessionell, dass der Pronto Socorsso keinen hatte.
Nach einer halben Stunde kam ich zurück. Das Publikum hatte sich unwesentlich verändert und Hanna auch nicht. So blieb uns nichts anderes übrig als mitanzusehen, wie die Behandlung von Kranken in einer italienisch-schweizerischen Krankenstation von statten ging.
Kurz nach meiner Rückkehr vom Geldautomaten schleppte sich ein Mittvierziger, der offensichtlich vor nicht allzu langer Zeit einen Bandscheibenvorfall gehabt haben musste, in die Station. Der relativ schlanke Mann zog sein rechtes Bein kraftlos hinter sich her und seine  Senkrechte wirkte vollkommen verdreht. Er machte es sich auf einem der harten Plastikstühle so bequem, wie es einem Menschen in seiner Lage möglich war. Dennoch, jede noch so kleine Bewegung auf dem Stuhl schien ihm schlimmste Schmerzen zu bereiten. Er sah wirklich so aus, als sei dringende Hilfe bei ihm angesagt. Dennoch öffnete sich die Milchglasscheibe und beinahe frohgemut rief der Gutaussehende nicht den Namen des so schwer gezeichneten Rückenkranken, sondern ein Italoschweizer wurde herbeigeflötet, der, in edles helles Leinen gekleidet, elegant und leichtfüßig durch die Schwingtüre hüpfte, um sich pronto bei was auch immer helfen zu lassen.
Der Bandscheibenvorfall atmete rasselnd ein und seufzte fatalistisch.
Jetzt stampfte eine schwergewichtige Schweizeritalienerin zur Milchglasscheibe. Die mit dem Fingerfett fest verwachsenen Goldringe verursachten ein nerven-reizendes metallisches Klacken, als sie wie besessen auf das Glas hämmerte. Dieses Mal öffnete eine junge Dame. Der folgende Redeschwall, der sich wie ein Tsunami über die wehrlose Arzthelferin ergoss, ist leider mit Worten nicht zu beschreiben. In jedem Fall schien er seine Wirkung nicht verfehlt zu haben. Die fette Dame plumpste schnaufend auf einen Stuhl, der merkwürdig fragil unter ihr wirkte und wurde eine Minute später aufgerufen.
Hanna verbrauchte derweil das achte Taschentuch. Der rückenkranke Italiener hatte offensichtlich vor Schmerzen einen Krampf bekommen und massierte sein rechtes Bein, das er im neunzig Grad Winkel beinahe unwirklich von seinem Körper weg drückte.
Immer noch saßen haufenweise Kranke herum, die meiner bescheidenen Ansicht nach alle viel kranker aussahen, als diejenigen, die einfach herein schneiten und sofort behandelt wurden. Allen voran der arme Rückenkranke, der durch die Schmerzen soeben die Kontrolle über seine Oberlippe verlor. Aber er war nicht allein. Ein sehr kleiner Mann in einer schlecht beleuchteten Ecke des Warteraums fiel mir plötzlich auf. Dieser Mensch strahlte Verzweiflung pur aus.
Er schien sich geschnitten zu haben. Die linke Hand war mit einer komplett rot verfärbten Mullbinde verbunden. Vier weitere rote Mullbinden lagen vor ihm auf dem Tisch. Mit der rechten Hand drückte er fortlaufend auf seine Handgelenk und dies wirkte auf mich, als würde der Mann versuchen, den Blutstrom aus seiner Wunde ein wenig zu verlangsamen. Darauf dass er offensichtlich schon eine Menge Blut verloren haben dürfte, deutete seine aschgraue Gesichtsfarbe hin. Ich starrte den Mann entsetzt an und zu meinem Erschrecken bemerkte er es. Traurige braune Augen trafen mich mit der Schärfe einer Rasierklinge. „Fremdschämen“ kenne ich, aber kann man ein schlechtes Gewissen für etwas haben, für das man nicht verantwortlich ist?
Und wie nennt man das dann?  
Der Summer befreite mich von meinen Selbstzweifeln, als die Tür vehement aufschwang. Zwei aufgetakelte Italoschweizerinnen betraten laut schnatternd den Raum.  Wie sich das für einen anständigen Mann gehört, suchte ich die beiden erst einmal nach ihren primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen ab, um dann die offensichtlich hochgehaltenen rechte Hand wahrzunehmen, an deren rechtem Zeigefinger ein rosafarbenes Pflaster von der Größe einer Erbse eine Wunde zu verdecken schien. Soviel zu der Motivation der Damen sich hier aufzuhalten. Allerdings dürfte der Rest ihrer Erscheinung mehr Worte wert sein.
Ein sehr kurzes, schwarzes Stretch-Kleid entblößte ihre Kurven mehr als es irgendetwas zu bedecken gedachte. Auch die dazu ein wenig deplaziert wirkende himmelblaue Seidenjacke bemühte sich redlich zu kaschieren, sie scheiterte aber ebenso offensichtlich wie das Kleid. Schwarze Stilettos an den Enden ihrer langen, schlanken, braungebrannten Beine, zogen die Blicke der anwesenden Männer nicht nur magnetisch sondern auch willenlos an.
Ihre Begleiterin stand der Dame allerdings in nichts nach.
Eine wilde schwarze Mähne krönte das Haupt dieser Dame und ihre Hauptbeschäftigung bestand darin, die scheinbar zufällig in ihr ebenmäßiges Gesicht fallenden Strähnen, kunstvoll mit filigranen Händen und perfekt lackierten Nägeln aus eben diesem zu streichen. Der totale Männer- Magnet war aber der knallrot geschminkte Mund mit jenen vollen weichen Lippen, die Männer wegschmelzen lassen, wie Butter unter einem heißen Messer. Der Anblick des prächtigen Ausschnitts ihrer weißen Bluse entspannte den krampfenden Rückenkranken auf der Stelle.
Das nenne ich Pronto Socorsso.
Die dicken Dinger, die da von einem unsichtbaren BH gehalten wurden, erregten Aufmerksamkeit selbst durch die Milchglasscheibe, die emsige, im verborgenen hart arbeitende, italoschweizerische Doktoren von den Hilfesuchenden trennte.
Drei Männerköpfe zwängten sich, wie durch unsichtbare Lockstoffe herbeigerufen, gemeinsam durch die Öffnung und starrten mit halboffenen Mündern auf die wogenden Protuberanzen. Ein kurzes Wortgefecht folgte, was offensichtlich einen vierten Vertreter des männlichen Geschlechtes herbeigelockt hatte. Dieser tauchte, charmant lächelnd, hinter der Eingangstüre zum Behandlungsbereich auf. Mit Siegermiene wurde die schwerverletzte Dame unter ausführlichem Studium ihrer Auslagen in Empfang genommen. Der verblutende Aschfahle grinste den Rückenkranken an und ächzte: „Bella Signorina! Bella!“ Der Rücken hob seine rechte Hand unter sichtbaren Schmerzen, formte mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Spitze und küsste diese verzückt!
„Perfecto!“ stieß er hervor.
Diese Italoschweizer können im Sterben liegen und trotzdem huldigen sie der blendenden Schönheit des weiblichen Geschlechtes, dachte ich erstaunt.
Das enttäuschte Dreigestirn hinter der Milchglasscheibe musste nicht lange warten, bis eine weitere junge Dame ähnlichen Aussehens leicht hinkend den Raum betrat. Die drei entführten die Leidende in den Behandlungsbereich.
Wir saßen immer noch unbeachtet. Nach welchem Schema die Menschen im Pronto Socorrso in der Südschweiz behandelt wurden, wurde mir immer undurchsichtiger. So wären wohl noch einige Stunden vergangen, wenn ein älteres Ehepaar, das fließend Deutsch sprach, nicht Mitleid mit meiner kleinen Gattin, die sich da neben mir im grellen Licht quälte, bekommen hätte.
»Wenn sie dort rein wollen, dann müssen sie sich beschweren. Ihrer Frau geht es doch schlecht. Tun sie was junger Mann«, forderte mich die leicht dickliche Dame nachdringlich auf.
»Meinen Sie?« fragte ich unsicher auf meinem Stuhl hin und her rutschend.
»Aber ja, junger Mann! Sonst seid ihr Deutschen doch immer so kämpferisch? Haben sie Angst vor dem Doktor?« Der Alte klopfte mit seinem Sock energisch auf. Ich verfügte über keine körperlichen Merkmale, die von den Doktoren als besonders interessant betrachtet werden würden und so zögerte ich.
»Jetzt heben sie schon ihren dicken Dups und machen sie etwas für ihre kleine Frau, sie alter Stoffel!« schimpfte der alte Mann und seine blauen Augen funkelten wie die von Terence Hill kurz bevor er zum Schlag ausholt.
Ich zögerte noch einmal, aber der Alte fasste seinen Stock fester und so stand ich auf und klopfte sehr vorsichtig an die Scheibe. Eine junge Frau öffnete und fragte:
»Pronto?«
»Nee«, sagte ich und plötzlich durchströmte mich ein wahrer Mut-Strom, »Socorsso, aber Pronto Socorsso, du alte Luffpump du!«
Ich war über mich mehr als erstaunt.
Die Dame blickte ebenfalls verdutzt und ich nutzte die Zeit, um ihr im feinsten Hochdeutsch zu erklären, dass es meiner Frau nicht gut ginge und sie bitte die geilen Ärzte von den Italoschweizerinnen runter holen sollte, sonst würde ich das persönlich tun.
In jedem Fall: es wirkte!
Ob es meine Größe war, oder einfach die deutsche Sprache, die ja bekanntermaßen sehr brauchbar im militärischen Bereich ist: die Pforten des Pronto Socorsso öffneten sich für uns drei Minuten später. Die drei Schweizeroitalienerinnen verließen restlos geheilt die Station und ein Dottore verkündete unseren Familiennamen.
»Signora Swetlike!« Wir gingen beide zur Türe, aber ich wurde sofort energisch zurückgewiesen. Ich drückte ihre Hand zum Abschied und Hanna begab sich voller Mut in die Fänge der Augenausstecher.
Nach zehn Minuten wurde auch ich herbei gerufen. Der nette Arzt in unserem Alter erklärte, dass er keine Ahnung hätte, was meine Frau für eine Erkrankung haben könnte und er ebenfalls die Augentropfen unser forschen Apothekerin verschrieben hätte. Er beschrieb uns liebevoll -mit Zeichnung- den Weg nach Lugano. Im dortigen Krankenhaus praktiziere eine Augenärztin, die er jetzt noch anrufen werde und die wir aufsuchen müssten.
Im Hinausgehen konnte ich sehen, dass der kleine Mann, der sich die Finger abgesägt hatte, hinter einem kleinen Bengel herjagte, der ihm offensichtlich zwei seiner Extremitäten gemopst hatte.
Der Rückenkranke war mittlerweile so steif geworden, dass die Ärzte ihn mitsamt Stuhl in das Behandlungszimmer schleppten. Sein Bein stand um 120 Grad ab. Die restlichen Durchschnitts - Pronto Socorsso Besucher dösten vor sich hin und hielten sich von der Umwelt abgeschottet. Ich vermutete, dass die Hilfesuchenden ihre Sensoren einzig auf das Hören ihres Namens reduzierten.
Wir machten uns auf den Weg nach Lugano.
Hanna bedeckte sich die Augen mit ihrer dünnen Wolljacke und lag zusammengerollt auf dem Beifahrersitz. Die Sonne nahm keine Rücksicht auf meinen Schatz und strahlte erbarmungslos in unser Auto hinein.
Eine Stunde nach Verlassen des Pronto Socorsso in Locarno, standen wir vor dem Schalter des Pronto Socorsso in Lugano. Über uns ragte ein Krankenhaus-Tower in den blauen Himmel.
Eine kleine dunkelhaarige Schwester wuselte hinter Glasscheibe hin und her. Sie schien uns zwar registriert zu haben, aber da keiner von uns beiden röchelte oder Blut spukte, war für sie keine Eile gegeben. Die Luganer waren, was das Abkassieren von kranken Touristen angeht, wesentlich weiter fortgeschritten als die Locarner.
Ein Schild CARTASI mit allen gängigen Kreditkartensymbolen darunter, wies den kranken Ausländer daraufhin, dass hier niemand, ohne seinen Obolus zu entrichten, entkam.
In Locarno waren wir zu unserem großen Erstaunen, ohne zu bezahlen, abgefahren.
Ich vermute, dass diese Tatsache mit Charme und Aussehen meiner Gattin zu begründen ist. Sie weckt in Männern offensichtlich immer eine Art Beschützerinstinkt.
Auch hier befanden sich Hinweisschilder in drei Sprachen, dass keinerlei ausländische Krankenscheine anerkannt werden würden. Nach einer guten viertel Stunde begann die kleine Italoschweizerin mit der Aufnahme der persönlichen Daten meiner Frau. Neben der Tatsache, dass sie perfekt italienisch sprach, verstand sie unseren Familiennamen überhaupt nicht. Selbst das Aufschreiben in Druckschrift brachte diesbezüglich keinen nennenswerten Fortschritt. Mir kam der Gedanke, dass es sich um eine Analphabetin handeln müsste. Vielleicht war sie auch einfach nur römisch-katholisch erzogen und schrieb Latein. Das Studium ihrer Größe -maximal 1.43 Meter- in Verbindung mit ihrem geringen Kopfumfang, brachte mich auf des Rätsels Lösung:
Sie hatte in etwa die Stufe eines Humanoiden erreicht, konnte aber noch nicht als Homo Sapiens eingestuft werden.
Nach einer weiteren viertel Stunde war auch dieser Kelch an uns vorbei gegangen und wir befanden uns auf dem Weg zu der Augenärztin. Der freundliche Dottore in Locarno hatte unsere Ankunft schon angekündigt.
Die Tür des Aufzugs öffnete sich und wir standen vor dem nächsten Schalter. Ich suchte nach dem Kreditkartenschild, fand aber keines. Es war keine Menschenseele zu sehen. Wir räusperten uns einige Male laut. Keine Reaktion. Hanna hatte sich mittlerweile dermaßen an das ständige Brennen und Tränen ihres Auges gewöhnt, dass sie mir vorschlug, doch wieder zu fahren. Schließlich könnte man doch sehen, dass keiner da wäre. Während sie so zu mir sprach, blickte sie die ganze Zeit auf die Wand links von mir, was meine Aufmerksamkeit erregte. Ich berechnete die chromatische Abweichung ihres Blickwinkels unter Einbeziehung des Satzes von Pythagoras und landete auf dem Behandlungsstuhl der Augenärztin, der durch eine offene Türe hinter dem Schalter zu sehen war. Allerlei martialisches Instrumentarium zur Vernichtung der Sehfähigkeit eines Menschen gruppierte sich munter um den plastikbezogenen Foltersessel.
Ein Duft von Krankenhausessen, vermischt mit dem Geruch von kranken Menschen, umschmeichelte derweil unsere Nasen.
Der Blick von hier oben war einmalig. Man konnte die gesamte Stadt, sowie den Luganer See übersehen.
»Ein tolles Panorama«, sagte ich zu meiner Frau, während sie wieder mal die Wand anstarrte. Wir warteten eine weitere viertel Stunde, dass schien hier die allgemeingültige Warteeinheit zu sein- und eine blonde Schweizeroitalienerin kam uns fröhlich kauend entgegen. Ich bekam sofort Assoziationen an braungraue Kräcker.
Im schönsten Italienisch quatschte sie auf uns ein, bis meine Frau ihr klar machte, dass wir keine Silbe verstanden. Daraufhin murmelte sie nachdenklich etwas wie:
»Tedeschko, tedeschko, tsstsst no parlare italiano. Tstststs.«
Ich sagte noch erklärend auf das Auge meiner Frau zeigend:
»Pronto socorsso, Pronto Socorsso oculi!«
»Si, Si«, kam es voller Anteilnahme zurück.
Sie machte uns klar, dass die Dottorin gleich kommen würde und wies uns zwei Sitz-Plätze vor deren Behandlungszimmer an. Uns gegenüber befanden sich offensichtlich die Krankenzimmer der Station.
Händchenhaltend harrten wir der Dinge, die da kommen würden.
Eine ortsübliche Zeit-Einheit verstrich.
Plötzlich vernahmen wir ein seltsames Geräusch aus dem rechten vor uns liegenden Behandlungszimmer. Hanna fasste meine Hand fester. Ich spannte meine Muskeln an. Zwei Gehhilfen erschienen im Türrahmen. Gelbe krähenfußartige Hände umklammerten die Plastikgriffe in dreiviertel Höhe der Krücken. Dann gab die Tür den Blick auf eine Dame frei. Sie war höchsten einen Meter und fünfzig groß und sehr alt. Ein Auge war mit einem weißen Mullverband bedeckt. Ihre grauen Haare standen wild zu Berge. Das ihr verbliebene Sehorgan starrte uns hungrig an. Zwei Schlurfe weiter und die Alte hatte die direkt vor unserer Nase liegende Gemeinschaftstoilette erreicht. Wir atmeten auf, als sich die Türe hinter hier schloss. Hanna hatte diese Örtlichkeit vorher schon in Anspruch genommen und war mit den Worten zurückgekehrt:
»Da merkst du, dass du auf einer Augenstation bist!«
Eine halbe Einheit ging ins Land, als sich die linke Türe öffnete. Ein Mittfünfziger, ebenfalls auf einem Auge eingemullt, strebte der Toilette zu. Er riss die Klotür auf und gab den Blick auf die Oma frei, die gerade damit beschäftigt war, ihre Unterwäsche zu ordnen. Die beiden wechselten einige drastische italienische Worte, deren Inhalt uns verborgen blieb. Der weiße Überwurf des Mannes war hinten praktischerweise offen und gab den Blick auf sein nacktes Gesäß frei. Er war leicht untersetzt.
Die alte Dame schlurfte gemächlich in ihr Zimmer.
Der Mittfünfziger schlug derweil mit einem lauten Klatsch und nacktem Po auf den Boden der Toilette auf. Lautes italienisches Fluchen verriet uns, dass er unversehrt geblieben war.
Die alte Dame hatte zwei Blatt Toilettenpapier an ihrem linken Schlappen befestigt. Kurz bevor sie den letzten für uns sichtbaren Schlurf ansetzte, hielt sie inne. Sie stützte sich mit der linken Hand auf die Gehhilfe, um ihre rechte Hand zu ihrer Nase zu führen. Ein schnupperndes Geräusch war zu vernehmen. Dann hielt sie die Hand ganz dicht vor ihr nicht bandagiertes Auge und grunzte unverständlich. Plötzlich fielen wir beide ihr wieder ein und sie blickte, wie wenn jemand bei einer unanständigen Handlung überrascht wird, in unsere Richtung. Mit Hochgeschwindigkeitsschlurfen verzog sie sich in ihr Zimmer.
Die Klotür öffnete sich erst nach einer weiteren Einheit. Wir hatten wildes Wasserrauschen und leises Fluchen durch die geschlossene Türe vernehmen können.
Es vergingen weitere anderthalb Einheiten, bis die Ärztin endlich auftauchte. Sie war eine nette, freundliche Frau mit kurzen, blonden Haaren und Bestimmtheit im Blick. Hanna folgte ihr wie ein Lämmchen zur Schlachtbank in das Behandlungszimmer. Die nun folgenden Minuten waren sehr schwer für meinen Schatz. Die blonde Krankenschwester im Verbund mit der Ärztin brachten so zirka zehn deutsche Worte zusammen. Hanna verfügte über die entsprechende Anzahl an italienischen Worten. Im Englischen war ihr Wortschatz durchaus akzeptabel, aber der Ärztin fehlten die notwendigen Detektoren.
Durch die Schalterscheibe konnte ich die teilweise lebhaft geführte Diskussion im verdunkelten Behandlungszimmer verfolgen.
Es war mir wichtig, dass ich rechtzeitig einschreiten konnte, falls die Frau Dottorin eines ihrer Folterinstrumente in Betrieb nehmen wollte. Sie verzichtete auf dergleichen. Nach zwei Einheiten kam Hanna aus dem Behandlungszimmer. Diagnose: Augenentzündung.
Wenn wir nicht ins Krankenhaus gegangen wären, wir hätten das nie herausgefunden!
Die ersten beiden Behandlungsmethoden hatten zur Verschlimmerung der Erkrankung geführt. Ein dritter Weg wurde seitens der Ärztin vorgeschlagen: Die Behandlung mit einem nicht-veresterten Kortikosteroid.
Dieses mussten wir uns in einer Apotheke in Lugano besorgen. Wir nahmen das Rezept entgegen, bedankten uns und machten, dass wir hier raus kamen. Hanna murmelte noch etwas von Bezahlung, aber ich erinnerte sie, dass uns wohl niemand nach Geld gefragt hätte und ich nicht planen würde, solange zu warten, bis es einer täte.
Ich studierte die Lagebeschreibung der Apotheke im Foyer des Krankenhauses und wir eilten zu unserem Auto.
»Bist du denn ganz sicher, dass du die Apotheke findest?« fragte Hanna besorgt.
»Na klar«, sagte ich selbstsicher, »ich habe mir das ganz genau gemerkt. Die Apotheke kann nicht weit weg von hier sein.«
Sie war weit weg.
Zwei Luganer Krankenhauszeiteinheiten vergingen, bis wir in einer kleinen Seitengasse der Hauptstraße, an der die Apotheke lag, parken konnten. Ich besorgte das Medikament und wir verließen Lugano auf dem kürzesten Umweg.
Sollte mich in späteren Jahren noch einmal jemand fragen, wie mir denn mein Aufenthalt in Lugano gefallen hätte oder was ich vom Lago Maggiore und Locarno halten würde, ich werde ihm zur Antwort geben:
»Pronto socorsso! Pronto, Pronto«

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.06.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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