Christa Astl

Wo ist mein Freund?

 
 
Ein Anführer war er wohl schon immer gewesen, der Gregor, der Geg, wie ihn seine Freunde nannten. Und mit den Fäusten durchgesetzt hatte er sich auch schon immer, auch als er noch im Heim gelebt hat. Seit kurzem geht er hier zur Schule, und schon hat er das Sagen in der Klasse. Seine Ideen sind super, genial, doch auch gefährlich, Mutproben.
Eine kleine Schar Buben und Mädchen ist auf dem Heimweg von der Schule. sie warten nicht auf den Bus, sie gehen zu Fuß, auf der Straße am Inn entlang. Jetzt im Frühsommer ist der Fluss ziemlich hoch, die Steine am Ufer sind jedoch noch frei. „Spielen wir Insel-Hüpfen?“ Natürlich ist es Geg, dem so etwas einfällt, doch alle machen mit und rutschen die Böschung hinunter.
Es ist lustig, auf einem Stein zu stehen, rundum plätschert das Wasser. Von Stein zu Stein geht die Reise, nun werden die Inseln auf denen schon jemand steht erobert, und dabei passiert es. Heli betritt Gegs „Land“. Wollte er sich nur festhalten, kam es zum Kampf, wer weiß es? Plötzlich liegen beide im Wasser, und gerade an dieser Stelle ist die Strömung sehr stark. Entsetzt weichen die Kinder ans Ufer zurück, angstvoll blicken sie auf die beiden wild um sich schlagenden Körper, die unablässig langsam abgetrieben werden. Hilflos müssen sie zusehen, wie die Punkte im Wasser kleiner werden, dann ist nur mehr einer zu sehen. …
Gregor ist es, der sich über Wasser halten konnte. Viele Meter weiter erwischt er einen Ast, an dem er sich ans Ufer ziehen kann, er allein. Von Heli fehlt jede Spur.
Erschöpft lässt sich Geg in den Sand fallen, Schließt für Momente die Augen, spürt die Sonne auf seiner unterkühlten Haut. Als er wieder zu sich kommt, liegt er im Schatten. Langsam erinnert er sich. Der Heimweg, das Inselspringen, der Sturz ins Wasser, - Heli – Wo ist er? Die Angst reißt ihn hoch, er rennt – nach Hause, zu der Frau, die jetzt seine Mutter ist.
Auch die Kinder sind nach Hause gerannt, voller Angst, das grausige Schauspiel noch vor Augen. Zwar behaupten sie, die können ja schwimmen und werden sich schon retten. Glauben kann es keiner, doch alle hoffen. Still und verängstigt sitzen sie hinter den Tischen. – nur zwei Mütter warten noch.
Am Spätnachmittag kommt Geg heim. Die Schultasche hat er verloren, oder abgestreift, oder die Strömung hat sie ihm weggerissen, er weiß nichts mehr.. Die Mutter ist wütend. Mit dem Buben hat sie sich ja was Schönes aufgehalst. „Wo treibst du dich denn wieder herum, und wie schaust du denn überhaupt aus?“, schimpft sie. Ja, schmutzig, voller Lehm und Sand ist er, bemerkt er plötzlich. Er gibt keine Antwort, als die Mutter nach der Schultasche fragt, geht in sein Zimmer, zieht sich aus, legt sich aufs Bett. Im Kopf ist nichts, nur Heli. –
Die Mutter ruft ihn, Frau Berger, Helis Mutter ist da. Sie weiß inzwischen von dem Unglück. „Du Mörder, du hast ihn umgebracht!“, schreit sie ihm entgegen, als er die Treppe herunterkommt. Gregor wird blass, kann sich kaum auf den Beinen halten. Die Frau, die seine Mutter sein sollte, schweigt, lässt ihn allein.- -
Mondnacht blickt ins Zimmer, Geg findet keinen Schlaf. „Mörder“ hallt eine Stimme durch den Raum, „Heli, wo bist du?“ fragt eine andere. Niemand antwortet.
Die Mitschüler meiden ihn, die Erwachsenen stecken die Köpfe zusammen, wenn er am Schulweg vorbeikommt. Gregor ist allein, mit seinen Fragen, mit seiner Schuld, mit seiner Angst. Wie durch einen Nebel nimmt er den Unterricht wahr, hört zu, bekommt nichts mit. Er sieht den leeren Platz vor sich. „Bin ich schuld?“ Was anderes kann er nicht mehr denken.
Polizei kommt ins Haus, die Wasserrettung sucht den Inn ab, nach einigen Tagen wird weit entfernt eine Kinderleiche aus dem Wasser gefischt.
Am Begräbnis nimmt die ganze Klasse teil. Gregor steht abseits. „Ist er mir böse? Darf ich überhaupt dabei sein?“ Niemanden kann er fragen, von niemandem bekommt er Antwort. Alle beobachten ihn mit scheelen Blicken.
Als er vom Friedhof weggeht, zischt das Wort „Mörder“ über ihn hinweg.
Immer wieder kommt die Polizei ins Haus, immer wieder stellen sie die gleichen Fragen, und immer noch weiß er keine Antwort. Es ist ja alles so schnell gegangen, plötzlich sind sie beide im Wasser gelegen, Heli hat sich zuerst an ihn geklammert. Geg weiß nur noch von seiner Angst vor dem Ertrinken. Als er ans Ufer gekommen war, hat er geglaubt, Heli sei schon daheim. ---
Geg kann nicht mehr schlafen. Immer wieder schreckt er hoch, hört die Frage: „Was hast du getan, du Mörder?“. Er will nichts essen, hockt blass und still und teilnahmslos in der Schule, im Zimmer, ist allein.
Die junge Polizistin kommt wieder. Schon drei Wochen sind seitdem vergangen. Doch heute fragt sie anders. „Wie geht es dir?“ – Das erste Mal, dass er selber angesprochen wird! Er kann nicht antworten. Aber sie fühlt wie es ihm geht. „Denkst du oft an Heli?“ Dann sagt sie weiter: „Er hat jetzt seinen Frieden. Erzähl mir von ihm!“ Zögernd beginnt er zu reden. Es ist, als ob er zuerst einen Panzer knacken müsste, um die Worte, die er so lange versperrt hatte, herauszulassen. Die Polizistin sitzt still und schaut ihn nur hin und wieder aufmunternd an. Er berichtet, wie er den Mitschüler das letzte Mal gespürt hat, in der angstvollen Umklammerung, sieht wieder die schreckensweit aufgerissenen Augen. Teilnehmend folgt die Polizistin der Erzählung. „Wo ist er jetzt?“ Mit dieser Frage schließt Gregor seinen Bericht. Es folgt eine lange Pause. Fragend, um Antwort bittend, sieht er zu ihr hinüber. Der warme Blick aus ihren dunklen Augen tut ihm gut. „Da wo dein Freund jetzt ist, ist alles gut. Dort gibt es keine Schuld, alles Böse ist vergessen, verziehen. Verabschiede dich nun von Heli, er sieht dich, er ist dir nicht böse.“
Zögernd streckt ihr Geg seine schmale Hand hinüber, die sie fest und schützend mit ihren beiden Händen hält. „Es wird alles wieder gut. Du konntest nichts dafür:“

 
 
(nach einer wahren Begebenheit, Namen sind natürlich geändert.)
ChA 2008

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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