Volker Greulich

Sonntagnachmittag


Es
ist ein typischer Sonntag: der Tag fühlt sich an wie eine
chinesische Wasserfolter. Den ganzen Tag über tröpfeln die
ständigen Quengeleien und Nörgeleien der
Eltern auf die verwundbare Seele des pubertierenden Sohnes. Befreit
von den Sorgen und Mühen des Alltages können sie die ganze
Aufmerksamkeit waren, auf den Sohn konzentrieren.
Das
Mittagessen ist das übliche wöchentliche Ritual: Kartoffeln,
Braten, Gemüse in der überhitzten Küche. Der Vater schwitzend, die
geöffnete Bierflasche neben dem Teller. Die Mutter verkniffen,
erschöpft von der Anstrengung, das Essen auf den Tisch zu bringen.
Das
Essen wird auf die Teller geschaufelt. Die Mutter: 'Nimm mehr Gemüse.
Das ist gesund.' Der Vater. 'Mein Gott! Setz Dich gerade hin.'
Widerstand ist zwecklos, Widerspruch bringt nur noch mehr desselben.
Die
Woche wird durchgehechelt. Die letzte Klassenarbeit, eine Zwei Minus
in Mathe. Na ja, aber der Kevin hat eine Eins. Die Nachbarin hat sich
über die laute Musik beschwert. Kannst Du Dich denn nicht benehmen.
Dieses Gejaule geht einem auch wirklich auf die Nerven.
Die
Aufmerksamkeit wendet sich einen Moment vom Sohn ab und dem
politischen Geschehen zu. Ach ja, die Politiker, seine ätzendsten
Bemerkungen hat sich der Vater für diese Gattung aufbewahrt. Der
Sohn ist unvorsichtig. Er hat im Sozialkundeunterricht aufgepasst.
Stolz präsentiert er seine neuen Einsichten.
Der
Vater schaut ihn durchdringend an. Er wird nicht ärgerlich, er
brüllt nicht. Er schaut seinen Sohn nur kühl an. 'Du musst noch
viel lernen, junger Mann, ehe Du es Dir erlauben kannst, eine Meinung
zu haben. Erwirb erst mal Lebenserfahrung.'
Ein
Stich in den Luftballon, ein Schlag gegen das Selbstbewusstsein. Und
überhaupt, warum kann der Sohn sich nicht gerade hinsetzen. Und die
Mutter lässt auch nicht locker, will wissen, warum er nicht genug
Gemüse isst. Zwischendurch schafft sie es noch, eine paar
Bemerkungen über die Tina zu machen. Freche Göre, schnippisch, und
überhaupt, viel zu stark geschminkt und viel zu kurze Röcke.
Wahrscheinlich ahnt sie nicht, dass ihr Sohn insgeheim in genau
dieses Mädchen verliebt ist, aus genau diesen Gründen. Oder
vielleicht doch, vielleicht sagt sie es genau deshalb.
Endlich
ist das Essen vorbei. Der Tisch wird abgeräumt. Der Vater hilft
nicht, aber der Sohn tut es, wissend, dass er sich sonst den
väterlichen Zorn zuziehen würde. Zurück in sein Zimmer, vor den
Computer. In Welten, in die ihm keiner folgen kann. Und deshalb
dauert es auch nicht lange, bis das Gesicht seiner Mutter in der Tür
erscheint. 'Musst Du hier schon wieder vor dem Bildschirm sitzen.
Draußen ist so schönes Wetter.' Zaghafter Widerspruch, wird sofort
erstickt. 'Du sitzt sowieso viel zu oft vor dem Computer. Was meinst
Du wohl, was wir früher gemacht haben. Man kann auch ohne Computer
auskommen. Komm, wir gehen raus, Bewegung wird dir guttun.'
Natürlich
wird der Spaziergang ihm nicht guttun, aber Widerstand ist zwecklos.
Die Drei gehen aus der Wohnung, steigen die Treppen herunter vom
dritten Stock ins Erdgeschoss. Stehen auf dem Bürgersteig. Der Vater
gibt die Richtung vor, wie immer zielgerichtet aufs Nachbarviertel,
das mit den schmucken Eigenheimen.
Heraus
geht es aus den Mietshäusern mit den braven kleinen Leuten zu den
Häusern der braven, aber nicht so kleinen Leuten. Die Mutter redet
mit dem Vater, über die Nachbarn, über das Sonderangebot bei C&A,
denn der Junge braucht unbedingt neue Hemden. Der Vater antwortet,
unregelmäßig, einsilbig. 'Junge heb doch die Füße.' Dann
der Generalangriff: Man muss sich anstrengen, wenn man im Leben was
erreichen will. In der Schule wäre noch viel mehr möglich, aber die
Scheiß-Computer. Was soll aus dem Jungen werden, träumt immer nur
rum.
Nun
hat auch die Mutter wieder etwas zu sagen. Viel zu schweigsam ist der
Junge. Er redet nicht mit seinen Eltern, teilt sich nicht mit,
kapselt sich ab. Sie erinnert sich an einen Beitrag über einen
Zwangsneurotiker, den sie im Fernsehen gesehen hat. Hat eigentlich
nichts mit dem Thema zu tun, hat sie aber beeindruckt. Und überhaupt,
wie wichtig ist eine normale Entwicklung. Der Vater kann dem nur
uneingeschränkt zustimmen.
Wie
gut ist es, Kinder zu haben. Wenn die Unzulänglichkeiten des Sohnes
nicht wären, worüber könnte man sich dann überhaupt noch
unterhalten.
Und
jetzt geh doch endlich mal gerade. Und heb doch endlich mal die Füße.
Und sei gefälligst nicht so bockig, mein Gott, was bist Du für eine
Mimose.
Der
Vater redet mit der Mutter über die Arbeit, den blöden Neumann, den
Arschkriecher. Dem geht es nur um die Beförderung.
Der
Sohn ist froh, dass sich die Aufmerksamkeit für einen Moment auf
etwas anderes richtet. Er fühlt sich von den Eltern immer so
bedrängt und eingeengt. Kriegt keine Luft. Ist niedergedrückt. Dann
macht er einen Schritt. Der Fuß berührt nicht den Boden. Er
schwebt. Und noch ein Schritt, er schwebt immer noch. Er ist
erstaunt. Und immer weiter geht er, ohne den Boden zu berühren. Die
Eltern merken es nicht. Er schwebt über den Boden, zwanzig
Zentimeter, dreißing Zentimeter über dem Asphalt.
Der
blöde Ackermann geht vorbei, mit seinem hässlichen Pudel und seiner
eingebildeten Frau. Sie sind auf der anderen Straßenseite, zu weit
weg für eine gehässige Bemerkung. Aber nicht zu weit, um sich über
den Bengel aufzuregen.
Und
so starren sie den Jungen an, den Jungen, der jetzt fast einen halben
Meter über dem Boden schwebt. Die Frau tuschelt mit ihrem Mann, der
schaut böse hinüber. Der blöde Pudel kläfft.
Der
Vater dreht sich um. Er sieht seinen Sohn über dem Boden schweben.
Die Mutter dreht sich um. 'Junge was machst Du schon wieder für
einen Unsinn. Kannst Du Dich nicht ein einziges Mal vernünftig
benehmen.' Der Vater ist ärgerlich. 'Das meine ich auch. Immer nur
Unsinn im Kopf. Die Nachbarn gucken schon.'
Der
Junge fühlt, wie das Gewicht auf seinen Schultern wieder schwerer
wird. Er spürt, wie ihm wieder die Luft zum Atmen wegbleibt. Doch
dann schüttelt er sich und fliegt elegant gen Himmel. Er drehte ein
Pirouette. Der Vater, die Mutter, die Ackermanns, der widerliche
Pudel. Das alles wird immer kleiner. Er kann ahnen, wie dem Ackermann
der Mund offen steht. Der Pudel kläfft wie wild und reißt sich sich
genau in dem Moment los, als ein Auto um die Ecke fährt. Der Pudel
verschwindet unter dem Auto.
Der
Junge aber schwebt immer höher. Zum ersten Mal sieht er, dass der
Himmel blau ist. Kleine weiße Wolken ziehen über den Himmel hinweg.
Immer höher steigt er hinauf. 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Volker Greulich).
Der Beitrag wurde von Volker Greulich auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Volker Greulich als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Klartext von Norbert van Tiggelen



Klare Texte aus dem Pott...

…Frei von der Leber weg spiegelt van Tiggelen sein Leben in seinen Gedichten wieder in einem charmanten Stil der den kleinen Mann der Straße ebenso anspricht, wie den Mann in der Limousine. Wahrheit muss nicht teuer sein, sie muss nur vom Herzen kommen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Volker Greulich

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Unfall von Volker Greulich (Mystery)
Wer will schon Millionär werden? von Holger Gerken (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Adieu kleiner Tippi... von Rüdiger Nazar (Lebensgeschichten & Schicksale)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen