Volker Greulich

Unfall

 

Der schwere Audi kam nur langsam voran. Auf der Autobahn hatte sich in Richtung Frankfurt ein Stau gebildet, und der Fahrer sah immer wieder in den Rückspiegel. Der jüngere der beiden Fahrgäste wirkte entspannt, der ältere hingegen war ziemlich nervös. Er war irgendein hohes Tier von einem Hedgefonds und musste heute Nachmittag noch eine Maschine vom Flughafen Frankfurt nach London erwischen.

Im Verkehrsfunk hatte es geheißen, Unfall, sechs Kilometer Stau. „Entschuldigen Sie, meine Herren, da vorne kommt eine Ausfahrt. Wenn ich ein Stück über die Landstraße fahre, dann kommen wir noch rechtzeitig zum Flughafen. Hier ist alles ziemlich dicht.“

Der jüngere, ein Unternehmensberater bei der großen Beratungsfirma, welcher der Wagen gehörte, nickte kurz. „Tun Sie das, wir haben es eilig.“ Dann wandte er sich an seinen Sitznachbarn.

Es tut mir leid, ich hätte nicht gedacht, dass die ganze Sache so lange dauert.“ „Es war wohl kaum zu erwarten, dass der alte Wollenhorst begeistert sein würde. Immerhin verliert er die Firma. Diese alten Knaben verstehen einfach nicht, wie das Geschäft läuft. Nimmt einen Kredit bei seiner Hausbank auf und wundert sich, dass diese ihn an uns weiterverkauft. Kommt in Zahlungsengpässe und glaubt, er könne so einfach eine Verlängerung aushandeln wie bei seinem alten Kundenberater. Das Unternehmen ist eine Goldgrube, wenn man es richtig macht. Wir können mindestens die Hälfte der Arbeitsplätze wegrationalisieren. Und die Anlagen in Waldbruch verkaufen wir und die Produktion der Kleinteile dort lagern wir aus.“

Der Berater zuckte die Achseln. „Manche lernen es nie. Wie hat er uns genannt? Heuschrecken. Die Tschechen produzieren eben billiger. ich verstehe nicht, warum Leute wie Wollenhorst das nicht einsehen wollen. Volkswirtschaftlich ist das sinnvoll und notwendig, schließlich herrscht auch auf dem Arbeitsmarkt wieder das Gesetz von Angebot und Nachfrage.”

Der Banker grinste. “Verschonen Sie mich mit Ihren Rechtfertigungen. So etwas ist gut für Pressekonferenzen oder parlamentarische Anhörungen. Sie wissen so gut wie ich, dass es um eines geht, Geld zu machen. Die Volkswirtschaft oder Arbeitsplätze interessieren weder mich noch meine Anleger. Die bezahlen meine Prämien und Ihr Beraterhonorar dafür, dass wir für sie Geld verdienen.”

Draußen dämmerte es, und zu allem Überfluss fing es auch noch an zu nieseln. Endlich kam die Ausfahrt und der Wagen verließ die verstopfte Autobahn und bog auf die Landstraße ab in Richtung Wiesbaden. Der Regen wurde stärker. Die Straße war schmal und kurvig.

Der Banker wurde ungeduldig. “Ich hoffe nur, dass ich meinen Flieger noch bekomme. Ich habe heute Abend noch einen wichtigen Termin.” Der Fahrer zuckte zusammen und fuhr noch etwas schneller.

Es kam, wie es kommen musste. Der entgegenkommende Motorradfahrer fuhr zu schnell und kam auf der glatten Straße in einer Kurve ins Schleudern. Um nicht zu stürzen, fuhr er auf die andere Fahrbahnseite, wo er zu spät den entgegenkommenden Audi bemerkte.

Der Fahrer des Audis riss erschrocken das Lenkrad herum. Der rechte Vorderreifen kam von der Fahrbahn ab und das Fahrzeug geriet außer Kontrolle.

Der schwere, schwarze Wagen schoss durch das Gebüsch und raste einen steilen Abhang herunter. Dabei streifte er einen Baum und kam ins Schleudern. Schließlich überschlug er sich und kam in einem Bach, auf dem Dach liegend, zum Stillstand

Der Fonds-Manager spürte einen heftigen Schlag auf den Kopf, und dann wurde alles schwarz. Kurz bevor das Bewusstsein endgültig verlor, spürte er aber noch wie das eiskalte Wasser durch seinen teuren Anzug drang.

Als er wieder zu sich kam, war sein Kopf unter Wasser. Voller Panik löste er den Sicherheitsgurt und öffnete die Autotür. Dies ging erstaunlich leicht. Er kletterte die Böschung empor aus dem Bachbett hinaus und setzte sich. Erst jetzt sah er den Berater, der ebenfalls durchnässt und sichtlich geschockt im nassen Gras saß. Unaufhörlich fiel der widerliche Nieselregen.

Meinen Flug kann ich vergessen. Wo, verdammt noch mal, ist der verfluchte Fahrer?” “Keine Ahnung, als ich aus dem Wagen gekrochen bin, war von ihm nichts zu sehen.” “Haben Sie versucht Hilfe zu rufen, übers Handy?” “Geht nicht, ist wahrscheinlich nass geworden.”

Meine Aktentasche ist wasserdicht. Holen Sie sie?” Der Berater sah den Fonds-Manager unsicher an. Er wollte etwas sagen, verkniff sich dann aber den Widerspruch und stieg hinunter zum Wagen. Die Aktentasche schwamm im Innenraum auf der Wasseroberfläche. Der Berater fischte sie heraus und brachte sie seinem Kunden.

Ohne eine Wort nahm dieser die Tasche entgegen und öffnete das Schloss. Die Dokumente waren trocken. Erleichtert griff der Banker nach dem Handy und schaltete es an.

Verdammt kein Signal. Das gibt es doch nicht!” “Wir sind mitten im Wald, vielleicht gibt es hier wirklich kein Signal.” “Verdammt! Ich hoffe die Polizei kommt bald. Dieser Idiot von Fahrer holt ja wohl hoffentlich Hilfe. Man holt sich in dieser Kälte sonst noch den Tod.”

Der Berater räusperte sich. “Ich glaube, es ist besser, wenn wir zur Straße zurückgehen. Irgendein Auto wird hoffentlich anhalten. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ „Ich bin nass bis auf de Knochen, der Anzug ist hin, die Schuhe auch, mein Flieger fliegt ohne mich nach London. Aber danke, sonst geht es mir gut.”

Unsicher sah der Berater ihn an. Eigentlich traf ihn ja nun wirklich keine Schuld. Aber der Mann war ein Kunde, sein Fonds ein wirklich guter Kunde. Irgendwie konnte er sich des Gedanken nicht erwehren, dass dieser Vorfall seiner Karriere nicht unbedingt nutzen würde.

Die beiden wateten durch den Bach und kämpften sich durch das Gebüsch und stolperten dann über den nassen Waldboden. Es war ein Nadelwald, bis auf ein paar Farne wuchs nicht viel zwischen den Bäumen. Schweigend gingen Sie eine Weile, dann blieb der Berater stehen.

Was ist Mann, wir haben nicht ewig Zeit!” “Nein, warten Sie. Wir gehen in die falsche Richtung.“ “Was soll das jetzt schon wieder?” Der Fond-Manager war sauer, stinksauer. Er war klatschnass und fror. Der Regen, der gnadenlos auf sie herabrieselte, trug auch nicht dazu bei, seine Stimmung zu heben. “Also, warum bleiben wir stehen?”

Wir sind einen Abhang herunter gerollt. Daran erinnere ich mich ganz genau.” “Richtig, und?.” “Sehen Sie hier einen Abhang?” Der Manager sah sich um, der Waldboden war eben, von der Straßenböschung, die ihr Wagen herunter gerollt war, war nichts zu sehen.

Verdammt, Sie haben recht. Was nun, Sie Schlaumeier?” “Lassen Sie uns nach links gehen.” Wieder gingen Sie eine Weile. Aber von einem Abhang war nichts zu sehen. Diesmal blieb der Banker stehen. “Wir gehen in die Irre. Lassen Sie uns zum Wagen zurückgehen. Irgendwann wird die Polizei dort schon auftauchen.

Der Berater zuckte die Achseln. “Sie haben recht. Ich glaube, wir haben uns verlaufen. Eigentlich kann die Straße gar nicht so weit weg sein. Übrigens, meine Uhr ist stehengeblieben. Wie spät haben Sie es?” Der Manager sah auf die Uhr. “17.20 Uhr. Mist, das war die Zeit, als der Unfall war. Meine Uhr geht auch nicht mehr.”

Der Berater sah hoch in den grauen Himmel, aus dem unablässig der widerliche Nieselregen herab rann. “Das muss doch jetzt fast eine Stunde her sein. Aber es ist noch nicht dunkel. Der Banker zuckte unbehaglich mit den Schultern. “Wahrscheinlich verschätzen Sie sich. Vielleicht waren wir nur ein paar Sekunden ohnmächtig. Länger kann es nicht gewesen sein, sonst wären wir ja wohl ertrunken.

Der Berater sah ihn an. In seinem Gesicht zuckte es. Er war unsicher. “Ich weiß nicht, wie lange ich ohnmächtig war. Aber ich war eine ganze Weile vor Ihnen wieder bei Bewusstsein und habe dagesessen, während Sie mit dem Kopf unter Wasser waren. Ich dachte, Sie seien tot.”

Ein eiskalter Schauer durchfuhr den Fonds-Manager, seine Stimme überschlug sich fast. “Reden Sie keinen Unsinn. Sie haben einen Schlag auf den Kopf gekriegt und bringen jetzt Sachen durcheinander. Überhaupt, was stehen wir hier herum wie die Idioten. Zurück zum Auto. Die Polizei ist vermutlich schon längst da und wundert sich, wo wir sind.”

Sie stapften zurück in die Richtung des Autos. Die Schuhe und die teuren Hosen waren schlammverschmiert. Wieder marschierten sie eine ganze Weile. Aber sie sahen weder den Audi, noch den Bach, noch das dichte Buschwerk, das den Bach säumte.

Der Fonds-Manager fauchte den Berater an. “Verdammt, kriegen Sie denn nichts auf die Reihe?” Der Berater fuhr herum. “Mir geht es genauso schlecht wie Ihnen. Ich bin auch durchnässt, ich bin auch müde. Mir ist kalt, und ich habe Kopfschmerzen. Vielleicht habe ich mich verlaufen. Aber wenn Sie glauben, dass Sie sich besser zurechtfinden, dann bitte. Gehen Sie voran, ich laufe gerne hinter Ihnen her.”

Werden Sie nicht unverschämt, junger Mann. Wir zahlen Ihre exorbitanten Rechnungen. Da kann ich etwas Höflichkeit verlangen. Ich kann auch verlangen, dass Sie sich nicht wie ein Idiot benehmen, sondern sich anstrengen, uns hier raus zu bringen.”

Dann hören Sie auf, herumzumeckern und kommen Sie mit.” Sie hielten sich jetzt weiter rechts, aber sie kamen nicht an den Bach. Alles was zu sehen war, war der düstere Tannenwald im gleichen trüben Dämmerlicht und dazwischen der Nieselregen.

Der Berater blieb stehen und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. “Verdammt es muss doch irgendeinen Ausweg geben.” Erschrocken fuhr er herum. Er und der Fonds-Manager sahen sich an. Genau das hatte Wollenhorst am Ende ihrer Diskussion auch gesagt, und beide erinnerten sich an die Antwort, die der Manager gegeben hatte. “Es gibt Situationen, die haben keinen Ausweg.”

Der Manager lachte verlegen. “Was soll der Unsinn. Natürlich gibt es einen Ausweg. Das ist ein Wald. Ein ganz normaler Tannenwald im Taunus. Gut dreißig Kilometer von hier liegt Wiesbaden. Der nächste Ort ist wahrscheinlich nur vier oder fünf Kilometer entfernt. Irgendwo dahinten ist die Autobahn. Wir sind mitten im dichtbesiedelten Herzen Deutschlands.”

Der Berater sah ihn unsicher an. “Ich weiß nicht, wo wir sind. Und das macht mir Angst.” Der Fonds-Manager verlor die Beherrschung. Er merkte, wie sich eine eiskalte Beklemmung um sein Herz legte und ihm langsam die Luft abdrückte. “Sie sind ein Idiot. Und deshalb reden Sie so einen Unsinn. Was wollen Sie damit sagen? Was für Schauermärchen erzählen Sie? Was soll der ganze Unsinn bedeuten?”

Der Berater drehte sich um und ging wortlos weg. “Bleiben Sie stehen, Mann. Verdammt, bleiben Sie stehen!”

Aber der Berater hörte nicht auf ihn und ging einfach weiter. Noch etwas weiter und seine Gestalt würde zwischen den Tannen verschwinden. Der Manager spürte Panik in sich aufsteigen.

Bleiben Sie doch hier! Was wollen Sie denn alleine?” Der Berater blieb kurz stehen. “Lassen Sie mich in Ruhe. Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe. Immer kommandieren Sie herum. Immer beschweren Sie sich. Machen Sie doch, was Sie wollen, aber ohne mich!”

Und dann ging der Berater weiter. Der Fonds-Manager wollte hinter ihm her rennen, aber er stolperte über eine Wurzel. Dann fiel er hin. Der Waldboden roch modrig. Der nasse Anzug war jetzt völlig verdreckt. Ärgerlich versuchte er, den Dreck abzustreifen, aber der klebte an dem teuren Anzug. Und immer noch rann der Regen hinab.

Als der Mann sich wieder hochgerappelt hatte, war von dem Berater nichts mehr zu sehen. “Wo, sind Sie? Verdammt noch mal, wo sind Sie?” Mit einem Mal hatte er das Gefühl, als ob alles davon abhinge, seinen Begleiter wieder zu finden.

Er rannte los, fiel wieder hin. Stand auf und rannte wieder los. Aber nichts war zu sehen außer den düsteren Tannen und dem Regen, der aus dem dämmerigen, grauen Himmel herunter rann.

Wo sind Sie?” Und dann, voller Verzweiflung: “Wo bin ich? Gibt es denn keinen Ausweg?” Aber der Hedgefonds Manager bekam keine Antwort.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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