Maik Graße

Sentiments - Wut

»Ich war also neugierig genug, mich darauf einzulassen und wollte gern an
einer mentalen Zusammenkunft teilhaben. Aber da noch niemand aus meinem
Bekannten- oder Freundeskreis dabei gewesen war oder darüber berichten
konnte, hatte ich ziemlichen Schiss, zu etwas verleitet zu werden, von dem ich
noch nicht wusste, ob es gut war. An diesem Abend kreisten meine Gedanken
um all die Gerüchte und die verzerrten, teilweise sicher erfundenen
Geschichten, derjenigen, die die neue Bewegung als schlimmste Versuchung
Gottes bezeichneten, die einen schneller in der Hölle brennen lässt, als jede
andere Art sündhafter Gotteslästerung.«
»Versuchung Gottes. Hölle. Glaubst du denn an Gott?«
»Mal mehr, mal weniger. Aber die Welt wäre schöner, wenn es ihn gäbe. Und
Du?«
Diana hatte die Beine übereinander geschlagen und ließ ihren Fuß kreiseln. Sie
stützte ihr Kinn auf die linke Faust und betastete die Kontur des innovativen
Teelöffels, der zwischen Stil und Laffe geschlitzt war, um dem Beutelfaden
beim Ausdrehen halt zu bieten. Nach einem Moment antwortete sie leise:
»Ich kannte da mal ein Mädchen, das sich in die Vorstellung eines gütigen,
weisen Mannes verliebt hatte.«
Isabelle lehnte sich zurück.
»Sie wusste, dass ihr niemals etwas Schreckliches passieren könnte, weil jemand
sie und ihre Familie beschützen würde. Sie lebte mit ihren Eltern und einem
Bruder in einem kleinen Reihenhaus in einer Vorstadt Hannovers. Das war ihr
Paradies. Als sie zwölf wurde, war ihr Vater das erste Mal nicht beim
Auspusten der Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen dabei. Es war bereits
Anfang Mai und ihr Vater hatte seinen Winterurlaub in Griechenland noch
nicht beendet. Er war dort geboren und flüchtete vor den nordischen Wintern
regelmäßig für vier bis sechs Wochen in seine alte Heimat; auch um seine
Geschäfte als Antiquitätenhändler außerhalb der Touristensaison
voranzutreiben, Kontakte zu knüpfen und um den Kopf frei zu bekommen,
wie er sagte. Anders als die Jahre zuvor, hatte er diesen Winter in den Frühling
übergehen lassen. Er bräuchte noch etwas mehr Zeit. Mutter wollte gar nicht
mehr aufhören zu weinen. Schon übernahm der ältere Bruder die Vaterrolle
und tröstete das Mädchen damit, dass er jetzt auf sie aufpassen würde. Immer
und überall. Es wurde Juni. Die Zeugnisse wurden verteilt. Das Mädchen
bekam eine Eins im Sport und eine Eins in Geschichte. Ihr Vater wäre stolz
auf sie gewesen, wenn er davon gewusst hätte. Er sollte es wissen, dachte die
Kleine. Sie packte ihren Schulranzen mit Lebensmitteln voll. Zwei
Olivenbrote, ein paar Fischkonserven, zwei Stück Torte und auch eine Flasche
von dem roten Wein, den ihr Pa so liebte.«
Diana drehte den Teelöffel bedächtig im Kreis.
»Oben drauf saß Baal, ihr hellgrauer Plüschelefant. Sein Rüssel lugte aus der
Deckellasche raus, damit er atmen konnte.« Ihr gekrümmter Zeigefinger trötete
in die Luft. »Das helle Fell war am Bauch fast blank geschmust. Sie hatte ihm
seinen gelb-orange geringelten Strickpulli angezogen, damit er es warm hatte.
Aber das dicke Kugelbäuchlein schaute trotzdem unter dem Pulli hervor.« Sie
deutete die Wölbung mit einer Hand an und bemühte sich, kontrolliert weiter
zu sprechen.
»Mit ihrem Ersparten und dem Zeugnisgeld der Tante kaufte sie sich eine
Fahrkarte. Der Bus vom Hauptbahnhof in Hannover fuhr über 30 Stunden bis
nach Thessaloniki. Der dicken Frau neben ihr hatte sie gesagt, dass ihr Pa sie in
Volos abholen würde und sie die Sommerferien dort gemeinsam verbringen
wollten. Dann stand sie in der Hafenstadt, allein zwischen den schwitzenden
Männern, deren Sprache sie kaum verstand. Ein freundlicher, alter Herr fuhr
sie in seinem Auto aufs Land. Sein Atem roch nach Lakritzschnecken. Das
Dorf lag etwas abseits von der Küste. Der Mann war sehr freundlich zu ihr
und liebkoste sie - bis sie fliehen konnte. Ihren Tornister mit den ganzen
Köstlichkeiten, das Schulzeugnis und auch Baal musste sie zurücklassen. Als
sie den Weg zum Dorf hoch lief, lachten die anderen Kinder, weil sie so
schmutzig war. Eine Frau in einem schwarzen Kleid brachte sie dann zu dem
Ferienhaus. Ihr Vater saß an einem Holztisch. Zwei Jungs, die sehr viel kleiner
waren als sie selbst, saßen auch daran. Ein Baby mit rosa Strampelhose hüpfte
auf seinem Schoß und spielte mit einem Strohhut mit breiter Krempe. Eine
schöne Frau, deren Schürze länger war als ihr Kleid, kochte in der Küche. Pa
war wütend. Warum sie hier sei, hatte er gefragt. Ja, gute Nachbar besuchen
sich auch mal. Aber nicht ohne vorher anzurufen. Sie wuschen sie, gaben ihr
neue Kleider. Pa setzte sie in einen Bus. Es war ein Sonntag, als sie wieder in
Hannover ankam.«

 
Schweigend schaute Isabelle auf. Ihr Kehlkopf drückte einen angesammelten
Speichelkloß mit einem lauten Glucksen durch den zugeschnürten Hals.
»Dann bist du deswegen Polizistin geworden?«, fragte sie leise, um die
unerträgliche Stille zu brechen.
»Wenn es sonst niemanden gibt, der uns vor Ungerechtigkeiten beschützen
kann, … «


***

aus www.hypatia-thriller.de/inhalt.htm
Michél Gerome

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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