Helmut Wurm

Entscheidend ist letztlich, was hinten heraus kommt

 Das Gleichnis vom Wohlfühl-Betrieb  oder  Entscheidend ist letztlich, was hinten heraus kommt

Sokrates nahm wieder an einem der vielen Schulkongresse teil, organisiert von idealistischen, gutgläubigen und phantasievollen Schulreformern. Es gibt in Deutschland häufig solche idealistischen kleineren und größeren Bildungs-Kongresse mit den vielfältigsten Themen. Sokrates kennt das schon seit einigen Jahrzehnten. Und auf diesem Kongress nun überlegte man, wie den Schülern das Leben in der Schule so angenehm wie möglich gemacht werden könne. Das Lernen solle erst an zweiter oder sogar erst an dritter Stelle stehen, wenn man die Hoffnungen auf die Sozialisations-Effekte mit hinzunimmt. Glückliche Schüler seien das Ziel nach dem Motto, dass glückliche Kühe die beste Milch geben. Glückliche Schüler würden den Lernzeit-Verlust wegen anderer Beschäftigungen, Aufgaben und Themen als Lernen mehr als genug aufholen, weil sie freudiger lernten und weil das Sich-Mühen auf ein Minimum reduziert wäre – so meinten die versammelten idealistischen Schul-Reformer. Und so erträumten sie z.B. folgende Neuerungen in den Schulen Deutschlands. 

  - Alle spezifischen unterschiedlichen Schultypen werden abgeschafft. Es gibt keine unter-schiedlichen Schultypen und Differenzierungen mehr bezüglich Niveau, Schülerklientel und Abschlüssen. Alle Schüler gehen auf eine Einheitsschule.

 - Noten sollen völlig abgeschafft werden. Damit entfällt jeglicher Leistungsdruck. Wer einmal nicht lernen möchte, der hat eben ein entwicklungspsychologisch oder umweltbedingtes Lern-Desinteresse. Dazu hat jeder Schüler das Recht, denn das ist menschlich.

  - Jeder Schüler soll ohne jeglichen Zwang mindestens 10 Jahre, sogar bis 14 Jahren in der Schule sein dürfen. Er bekommt dafür jedes Jahr einen Beleg für erfolgreiche Teilnahme an einer Jahrgangsklasse, also eigentlich nur für seine Anwesenheit. Man erhofft, dass trotzdem jeder Schüler gemäß seiner jugendlichen Neugierde so viel Denk- und Lernanstöße mitnimmt, dass sich das im weiteren Lebensverlauf mehr als auszahlt.

- Alle Klassen bzw. Lerngruppen sollen sehr persönliche und gemütliche Räume haben, die sie nach ihrem jeweiligen Geschmack mit Blumen. Bildern und Mobiliar selber einrichten. Die Zeit für das Einrichten und die Pflege der Blumen usw. geht natürlich von der täglichen Lernzeit ab. Denn das alles sind letztlich Arbeiten, die das fröhliche Lernen fördern und sind damit nützliche Investitionen. Die Schüler sollen sich so viel wie möglich wohl fühlen.

 - Klassengeschäfte, Gespräche mit Lehrern und Diskussionen über verschiedene Themen, die Schüler interessieren, dürfen in der eigentlichen täglichen Lernzeit geführt werden. Die Freizeit soll voll erhalten bleiben. Jeder Schüler hat das Recht auf ungeschmälerte Freizeit.

 - Der ganze Schulkomplex soll so gestaltet werden, dass er äußerlich eine echte Wohlfühl-Schule wird. Es soll so sein, dass die Schüler sehr gerne schon morgens in die Schule gehen und es nicht eilig haben, nachmittags nach Hause zu kommen. Überall sollen Bäume, Rasen-flächen, Sitzecken, Spielflächen angelegt werden und mittendrin mehrere kleine Schüler-Cafeterias, wo die Schüler Kuchen oder Eis essen und Kaffee, Kakao usw. trinken können.

  - Der Lernstoff soll beschränkt sein und es soll keine verbindlichen Vorgaben und keine Lern-Reihenfolgen geben, die eingehalten werden müssen. Spielerisch und nach Lust und Laune soll gelernt werden. Rousseau ist das große Vorbild.   

  - ... usw., usw.

 Alle Gesichter der illusionären Reformer strahlten vor Glück, vor Erwartungen, vor Hoffnung, vor Selbstsicherheit. Man werde das ideale Schulsystem der Zukunft schaffen, davon waren alle überzeugt... 

 Sokrates hatte bisher still zugehört und sich seinen Teil gedacht. Er weiß, wie unbelehrbar, wie kritikresistent Ideologen und Ideologien sind. Im Grunde kann man sie nur im Laufe der Zeit allmählich verblassen lassen oder erst nach ihrem Scheitern auf Ernüchterung hoffen. Aber bis dahin ist es im deutschen Schulsystem noch weit... Als er aber am Ende der Veranstaltung die selbstsicheren Gesichter sah, ließ ihn die Unrealität der Vorstellungen dieser Teilnehmer nicht gleichgültig und er versuchte, das kritische Denken durch ein Gleichnis etwas anzuregen – sofern das bei Schul-Ideologen überhaupt möglich ist. Er stand deshalb auf, ging nach vorn und erzählte folgendes Gleichnis.

 Sokrates: Ich hörte einmal von einem größeren, wirtschaftlich sehr erfolgreichen Industrie-betrieb, bei dem die bisherige Führung wechselte. Bisher war dieser Industriebetrieb bekannt wegen der Qualität seiner Produkte und wegen des Fleißes seiner Arbeiter. Das ging nicht ohne Mühen bei Führung und Arbeitern ab, aber Erfolg hat eben seinen Preis.

 Die neue Führung war von großer Arbeiterfreundlichkeit und wollte die Mühen der Arbeiter so weit wie möglich mindern und den Betrieb zu einem Wohlfühlbetrieb umgestalten. Sie ging davon aus, dass fröhliche Arbeiter, die von möglichst allen Mühen entlastet sind, sehr gerne arbeiten und dass das Betriebergebnis dadurch noch höher ausfallen werde, als es bisher schon gewesen war. Die Führung beschloss deswegen folgende Neuerungen:

  - Als erstes wurden alle Entlohnungs-Unterschiede nach Ausbildung, Arbeitstyp und Leistung abgeschafft. Alle Beschäftigten bekamen denselben großzügigen Lohn, gleichgültig, was sie arbeiteten und leisteten. Denn alle Menschen seien gleichviel wert und hätten darum auch Anspruch auf gleiche Entlohnung. Die Arbeitsmotivation der besser ausgebildeten Mitarbeiter sank dadurch zwar, während die innerbetrieblichen Ausgaben stiegen, aber die Schaffung eines Wohlfühl-Betriebes auf Kosten der innerbetrieblichen Ausgaben und der Förderung einer Betriebs-Elite hatte Vorrang vor allen Einwänden.

  - Das ganze Betriebsgelände wurde zu einem Erlebnis- und Wohlfühlpark umgestaltet. Überall wurden Grünanlagen, Sitzecken, Spielflächen errichtet, mehrere Restaurants und Cafes waren den ganzen Tag geöffnet. Die Arbeiter konnten sich in den auf Kosten der Arbeitszeit deutlich verlängerten Arbeitspausen im Grünen oder in den Gastronomiebetrieben aufhalten. Wo Gleise oder Fahrstraßen diese Umgestaltung blockierten, wurden sie weit um das Gelände herum verlegt, auch wenn das für die An- und Abfahrt von Rohstoffen und Fertigprodukten hinderlich war. Die Schaffung eines Wohlfühl-Betriebes auf Kosten eines rational-praktisch organisierten Betriebes hatte Vorrang vor allen Einwänden.

  -  Die Arbeitshallen wurden durch Raumteiler in kleinere Arbeitssegmente untergliedert und jede Arbeitsgruppe konnte sich ihr Arbeitssegment gestalten, wie sie es wollte: mit Pflanzen, Bildern und Sitzecken. Diese Umgestaltung und die nötige Pflege der Pflanzen erfolgten in der Arbeitszeit, denn man sah diese Arbeiten als Investitionen für eine fröhlichere und effizientere Arbeitsleistung an. Die reale Arbeitszeit wurde dadurch zwar kürzer, aber die Schaffung eines Wohlfühl-Betriebes auf Kosten eines ergebnisorientierten Betriebes hatte Vorrang vor allen Einwänden.

  -  Da die Arbeitsbänder nun nicht mehr mitten durch die Hallen führen konnten, weil sie so die Gemütlichkeit und Individualität der neuen Raumeinheiten stören würden, wurden sie in viel-fältigen Bögen um die neuen Arbeitssegmente herum oder an deren Rändern entlang geführt. Dadurch wurden die Arbeitsbänder zwar länger und die Wege zu ihnen auch länger, aber die Schaffung eines Wohlfühl-Betriebes auf Kosten eines durchrationalisierten Betriebes hatte Vorrang vor allen Einwänden.  

  - Alle Gespräche, Versammlungen, Beratungen und Beschwerden (sofern es solche überhaupt noch geben würde), durften in die Arbeitszeit gelegt werden. Das wurde damit begründet, dass jeder Arbeiter das Recht auf ungeschmälerte Freizeit habe. Dadurch wurde die reale Arbeitszeit zwar weiter eingeschränkt, aber die Schaffung eines Wohlfühl-Betriebes auf Kosten eines arbeitsintensiven Betriebes hatte Vorrang vor allen Einwänden.

  -  Der strenge Zwang des Arbeitsablaufes am Fließband wurde aufgehoben und durch eine situative Arbeit je nach Lust und Laune ersetzt. Das machte zwar manche Absprachen und Rücksichtnahmen untereinander notwendig, aber man ging davon aus, dass fröhliche Arbeiter, die von möglichst vielen Mühen entlastet sind, gerne arbeiten und dass das Betriebergebnis dadurch noch höher ausfallen würde, als es bisher schon gewesen war. Dadurch wurde die Effizienz der täglichen Produktion zwar eingeschränkt, aber die Schaffung eines Wohlfühl-Betriebes auf Kosten eines effizienten Arbeitsablaufs hatte Vorrang vor allen Einwänden. 

 Nach dieser Umgestaltung, die der neuen Firmenleitung viele Mühen bereitet hatte, fuhr diese in einen längeren und wohlverdienten Urlaub, wie sie meinte. Als sie zurück kam, war sie fest davon überzeugt, dass sie in dem neuen, noch besser als bisher florierenden Wohlfühlbetrieb  nur glückliche Gesichter antreffen würde. 

 Aber wie erstaunt war sie, als sie statt der glücklichen, fröhlichen Gesichter besorgte, ja sogar bedrückte Gesichter antraf. Das konnte sie sich nicht erklären und sie berief deswegen eine Personalversammlung ein. Auf der wurde Folgendes deutlich: 

 -  Weil die reale Arbeitszeit kürzer und die Wege zu den Arbeitsbändern länger geworden waren, weil die Arbeiter an manchen Tagen weniger Lust zum Arbeiten hatten und sich nach der neuen Wohlfühl-Ideologie auch generell weniger bemühten, sank das reale Produktions-ergebnis. Es hatte sich auch nicht gezeigt, dass nach Tagen mit weniger Arbeitsmotivation die Arbeiter dafür umso mehr arbeiteten und dadurch die vergangenen Produktionsminderungen durch eine höhere Arbeitsleistung an anderen Tagen ausgeglichen wurden.

  - Dadurch hatte der Betrieb nicht alle Aufträge/Bestellungen termingerecht erfüllen können und die Folge davon war, dass manche bisherigen Kunden zu anderen Betrieben gewechselt waren, vor allem zu Betrieben im Ausland, die rationaler und kostengünstiger produzierten. Das hatte zwar die Kunden-Nachfrage und die Produkte-Lieferung vom Umfang her wieder in ein Gleichgewicht gebracht, aber von den gesunkenen Aufträgen und Lieferungen konnten nicht mehr alle wohlwollenden Löhne bezahlt werden.

  - Man stand also zwangsläufig vor der Entscheidung, einen Teil der bisherigen Arbeiter zu entlassen und diese Sorge stand nun allen in die Gesichter geschrieben. Oder man musste alle bisherigen Veränderungen im Sinne eines Wohlfühlbetriebes wieder rückgängig machen. Aber selbst danach würde man nicht wissen, ob die alten Kunden alle wieder zurückkämen, denn früheres Vertrauen war verloren gegangen.

Da wurde auch das Gesicht der neuen, so mitarbeiterfreundlichen Firmenleitung ernst. Sie begann hin und her zu überlegen, wie sie die Produktion wieder steigern könnte, um nicht weitere Kunden wegen Lieferschwierigkeiten zu verlieren. 

 Sie beschloss deshalb, die Arbeitszeit pro Arbeitsstück einfach etwas zu reduzieren und die Qualitätskontrolle wurde angewiesen, die Endprodukte weniger streng auf Fehler und Mängel zu prüfen. Dadurch stieg zwar nominell die Produktion in Stückzahlen wieder an, aber die Qualität der Produkte nahm deutlich ab. Das merkten die Kunden bald, es kam zu steigenden Reklamationen (was früher nur selten der Fall gewesen war) und weitere Kunden wanderten zu anderen Betrieben ab. Nun hatte man wieder weniger Einnahmen und konnte nicht mehr alle Mitarbeiter so großzügig wie geplant entlohnen. 

 Die Betriebsleitung beschloss deswegen, die Preise für ihre Produkte zu senken. Man erhoffte sich dadurch einen Vorteil im Konkurrenzkampf um die Kunden, einen wieder zunehmenden Absatz und dadurch wieder mehr Einnahmen. Aber das Vertrauen auf dem Markt war bereits erschüttert und der Betrieb sank in die die Beurteilungs-Rubrik „Billig und schlecht“ ab.

 Nun mussten unausweichlich zunehmend Mitarbeiter entlassen werden und die ganze fröhliche Wohlfühl-Stimmung im Betrieb war endgültig dahin. Die neue Betriebsleitung musste öffentlich eingestehen, dass ihre Vision eines Wohlfühl-Betriebes, so arbeiterfreundlich sie auch gemeint gewesen war, gescheitert war. Denn entscheidend in einem Betrieb ist, so sagte bedächtig ein alter Arbeiter am Schluss einer weiteren Betriebsversammlung, was letztlich hinten aus dem Betrieb herauskommt, nicht was man an Illusionen, Visionen und Idealen alles hineinsteckt, ausprobiert und umgestaltet.

 Liebe Anwesende, (so schloss Sokrates) diese Geschichte vom Schicksal eines gut gemeinten Wohlfühl-Betriebes fiel mir heute im Laufe der Vorträge und Gespräche ein. Ich überlasse es euch, von diesem Gleichnis dasjenige auf euere Schulpläne zu übertragen, was ihr für richtig haltet. 

 Die Reaktionen von Seiten der Anwesenden, die ihm teilweise sowieso nur widerwillig zugehört hatten, waren meistenteils verwundert, voll Unverständnis oder ablehnend. Was habe denn ein Wirtschaftsbetrieb mit Schule zu tun, wurde er gefragt. Diese beiden Organisationsformen könne man nicht miteinander vergleichen. Das wären doch zwei völlig verschiedene Ebenen... Hier ginge es um Produkte und dort um junge Menschen...

 Sokrates: Liebe Schulreformer (sagte darauf Sokrates), man kann beide gut vergleichen. Denn eine Schule ist letztlich auch ein Betrieb. Es heißt ja mit Recht „Schulbetrieb“. Und die Schüler sind die Produkte, die eine Schule formt. Entscheidend ist nicht, was man an Illusionen und Visionen alles in eine Schule hineinsteckt, ausprobiert und umgestaltet, sondern das, was letztlich aus der Schule hinten herauskommt, was bei den entlassenen Schülern heraus kommt an Kompetenzen jeglicher Art, wie der moderne Begriff heißt! Und die Jugend und ihre Kompetenzen sind in unserer globalisierten Welt die Zukunft eines Landes.

 Und damit verließ er den Kongress und überließ es den pädagogischen Illusionären, darüber nachzudenken... Einige sollen das tatsächlich getan haben...  Aber in der Regel sind Ideologen bekanntlich ja kritikresistent...

 (Aufgeschrieben von discipulus socratis, der auch dabei gewesen war und sehr traurig darüber ist, dass besonders in Deutschland pädagogische Ideologen so kritikresistent sind)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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