Steffen Herrmann

Endstation

Endstation
 
-
 
Diesmal hatte ich es übertrieben.
Todeskälte. Mein Körper lag am Boden eines schwarzen Schachtes, eingesaugt in einen eisigen Sumpf. 
Es war so kalt. So finster. 
Undurchdringliche Schwärze und der matte Schimmer eines riesigen Auges, das auf mich herabsah.
Der Tod war nicht gut. Er war steif und unfreundlich. Ich trat von ihm zurück. Ein milder Hauch streifte mich, dann versank ich wieder in Bewusstlosigkeit.
 
Tausend Jahre. Was mich geritten hatte, tausend Jahre zu schlafen ...
Gewiss, bei meinem letzten Aufenthalt hatte ich mich nicht wohl gefühlt. Ich war in einer Zeit gestrandet gewesen, die mir nicht gefallen hatte. Zeithüpfer wie ich führten ein seltsames, schnelles Leben und man kam nicht gegen die innere Verwahrlosung an.   
 
Tod auf Zeit. Zuerst dämmerte man in eine Narkose hinein. Der Körper kühlte herunter, das Blut wurde durch ein Konservierungsmittel ersetzt. Das musste so rasch geschehen, dass die Zellen keine Zeit hatten, zu sterben. Der Stoffwechsel musste auslaufen, ohne dass der Leib in einen toxischen Zustand überging. 
Das heikelste Organ war das Gehirn. Während der Körper erstarrte, musste das Gehirn an einen externen Blutkreislauf angeschlossen werden. Die Narkose hatte das Grosshirn entlastet, jetzt war es auch von der Aufgabe befreit, sich um den Körper zu kümmern. Funktionslos geworden, lief es noch eine Zeitlang ins Leere und war schliesslich bereit zu seiner Abschaltung. 
In dieser Phase hatte man Träume. Viele und starke Träume, Phantasmen.  Man nahm sie mit in seinen Untod, sie wurden konserviert wie das Fleisch. 
Später würden sie wiederkommen. Diesselben Träume, in umgekehrter Reihenfolge. Himmlische und höllische Fetzen aus Bewusstsein. Träume, die sich an sich selbst erinnerten. 
 
Irgendwann begriff ich, dass ich wach war. Ich konnte meinen Kopf nicht bewegen, aber ich konnte sehen. Es war sehr wenig Licht. War es Nacht? 
Ich hatte keine Lust. Wenn ich tot geblieben wäre, es hätte mir nichts bedeutet. 
Wieder heraus, heraus aus dem Kokon. In die Welt hinaus. In was für eine Welt?
Ich war nur ein Kopf. Mein Blick ging starr nach oben. Ich sah Spinnenweben. 
Eine Fliege brummte durch den Raum. Das erste Geräusch.
Ich hörte ein Schlurfen. Das war noch jemand. Natürlich. 
Die Kälte kam zurück. Diesmal schlimmer. Sie war überall, böser als ein Schmerz und sie sprach zu mir: Du solltest nicht da sein! Ich wusste, was das bedeutete. 
Das Leben war jetzt sehr nah.
 
-
 
"Guten Morgen."
Die Stimme des Roboters gefiel mir. Worte, Worte nach einer Unendlichkeit des Schweigens.
Er hatte den Deckel  meiner Box hochgeklappt und half mir, mich hinzusetzen.
"Welcher Tag ist heute?"
"Der 26. August."
"Und welches Jahr?"
"3814."
Es stimmte. Tausend Jahre. Auf den Tag genau.
Ich war noch immer benommen und lustlos. Doch auch neugierig. Und ich hatte Angst.
Der Roboter verharrte reglos neben mir.
"Gibt es was zu essen?" fragte ich.
"Es ist schon bereitet. Wollen Sie ins Speisezimmer oder soll ich es herbringen."
"Bring es. Ich bin noch nicht ganz ausgeschlafen."
Der Roboter lachte und tänzelte auf leisen Sohlen davon.
Ich schaute mich inzwischen genauer um. Der Raum war staubig, verfallen. Überall Spinnenweben, die Fenster so verdreckt, dass man nicht hindurchsehen konnte. 
Der Roboter kam mit einem Tablett zurück. Traubenzuckertabletten und Kamillentee.
"Wo sind die anderen?"
"Es gibt niemanden mehr sonst."
"Ich bin der Einzige?"
"Sie sind der Letzte. Das Klinikum wird jetzt geschlossen."
"Deswegen macht niemand mehr sauber hier?"
"Die letzten 350 Jahre war ich allein hier. Mit Ihrem Körper."
 
Endstation.
 
"Und? Was für eine Welt ist da draussen?"
"Weiss nicht. Ich war die ganze Zeit hier."
Schien ein ziemlich dummes Exemplar zu sein. Oder er tat nur so.
Ich stand auf. War noch wacklig auf den Beinen. Ich ging durch die verlassenen Räume des einst so stolzen und betriebsamen Klinikums. Erinnerungen kamen zurück. 
Der Roboter zeigte kein Interesse mehr an mir.
"He!" rief ich. Er verharrte stumm. Ich spürte, dass ich allein war, auf eine schlimme Weise allein.
"Gibts hier was zu lesen?"
"Zu lesen?"
"Bücher oder so. Hab ja ziemlich viel verpasst."
"Nein. Es gibt hier keine Bücher mehr."
Hier war also nichts mehr los, ich konnte auch gleich gehen.
"Kann ich etwas zu essen mitnehmen? Zu trinken? Meine persönlichen Sachen?"
Er gab mir Traubenzuckertabletten und eine Flasche Wasser. Meine alten Kleidungsstücke waren zu Staub zerfallen. Ich fand eine Stoffdecke, wickelte den Zucker und die Flasche ein, verknotete das Ganze und warf mir das Päckchen über die Schulter.
Ich trat ins Freie.
 
-
 
Früher war hier eine Stadt gewesen. Das Klinikum lag etwas abseits, am Waldesrand, doch in Sichtweite zu den Häusern. Jetzt war hier Wald. Ein recht vertrauter Birkenwald, hell, ohne Unterholz. Häuser waren keine zu sehen. Seltsam.
Ich ging los, lief ein paar Stunden in eine Richtung, ohne jemandem zu begegnen, ohne überhaupt Anzeichen von Zivilisation  zu entdecken. Waren die Menschen von hier weggezogen? Gab es überhaupt noch welche?
Ich war nicht gut im Überleben. Möglicherweise würde ich hier verhungern. Ich konnte mich nicht gut von Birkenrinde ernähren. Wurzeln und Pilze? Ich hatte keine Ahnung davon. Würmer und Insekten? Selbst wenn man davon absah, dass sie nicht schmeckten, ich würde niemals genug von ihnen kriegen, um mich zu ernähren.
Wenn schon, denn schon. Ich ass am Abend die restlichen Tabletten. Kraft kehrte in mich zurück, doch der Hunger blieb beissend.
Grausame Ironie. Ein Äon in die Zukunft gereist und dann verhungert wie ein Wilder ....
Ich war nicht alt, ich war gerade einmal dreissig. Oh Mann, das war nicht gerecht!
Ich legte mich hin, wickelte mich in meine Decke. Beim Einschlafen überlegte ich noch, was ich tun konnte. Viele Möglichkeiten hatte ich nicht. Ich konnte versuchen, zum Klinikum zurückzugehen, würde es aber kaum mehr finden.
Wider Erwarten schlief ich gut. Die Nacht war klar, doch nicht kalt. Gute Luft. Als ich erwachte fühlte ich mich auch nicht verzweifelt. 
Der Hunger meldete sich wieder.
Ich setzte mich hin und betrachtete die Sonne, die vor einer Stunde aufgegangen sein mochte. 
Dann erlebte ich eine Überraschung. Direkt neben mir fand ich ein Päckchen, was ich sogleich öffnete. Es war gekochtes Fleisch drin, ein paar Scheiben eines sehr schwarzen Brotes und Früchte, die ich nicht kannte.
Na also. 
Ich ass. Das Fleisch schmeckte etwas fade, doch es machte mich satt. Das Brot war köstlich. Die Früchte hob ich mir auf.
Ich marschierte los. Da war also noch jemand. Ich spähte immer wieder umher, doch es war nichts und niemand. Ich fühlte mich beobachtet. Ich nahm mir vor, nicht paranoid zu werden.
Der Tag verlief ereignislos. Die Einsamkeit lastete auf mir. Am Abend hockte ich mich auf einen Baumstamm, ass die undefinierbaren Früchte (die gut schmeckten) und sinnierte vor mich hin.
Ich bin ein Stadtmensch und ein sehr schlechter Naturbeobachter. Jetzt, beim Hereindämmern der Nacht, bemerkte ich viele Tiere. Grosse libellenartige Insekten, geschwänzte faustgrosse Schildkröten, die erstaunlich flink über den Boden huschten. Dann ein seltsames Tier, das wie ein Ball über den Waldboden rollte, dann aber plötzlich mehrere Beine ausfuhr und auf einen Baum sprang. Viele der Tiere hier waren neu.
Am nächsten Tag fand ich wieder ein Päckchen.
 
Jemand sorgte für mich.
 
Ansonsten passierte nicht viel. Als ich auf ein Bächlein traf, beschloss ich, in Richtung Quelle zu laufen. Das musste meine Chance erhöhen, auf Menschen zu treffen.
Zumindest traf ich auf mehr Tiere. Ich sah ein hasenartiges Tier, das aber gross wie ein Reh war und auf den Bäumen affenähnliche Tiere mit sehr langen Armen. Beim Hereinbrechen der Nacht tauchte unweit  von mir eine schattenhafte Gestalt auf. Ein Zweibeiner? Ein Mensch?  Ich zuckte zusammen. Hätte ich mich bemerkbar machen sollen?
Ich beschloss herauszufinden, wer mich nachts immer besuchte. Ich blieb wach und horchte auf das leiseste Geräusch. Irgendwann muss ich weggedämmert sein. 
Erst in der folgenden Nacht erjagte ich den Boten. Ich stellte mich schlafend, doch war hochkonzentriert. Die Stunden vergingen quälend langsam.  Dann sah ich mein Päckchen auftauchen. Es wanderte über den Waldboden. Ich sprang auf, ergriff geistesgegenwärtig meine Decke und warf sie darüber. Es zuckte, ich warf mich, meinem Jagdinstinkt gehorchend, darauf und presste meine Hände um das zuckende Bündel.
Das Ergebnis war etwas enttäuschend. Eine Kugel mit vielen Tentakeln, eine Art stählerne Spinne. Ich untersuchte die Maschine, dann liess ich sie frei. Sie huschte in Windeseile davon.
 
-
 
Am nächsten Tag traf ich endlich auf Menschen. Ich war schon auf Einiges eingestellt und dann auch nicht besonders überrascht, als ich auf eine Art Horde stiess. Sie lungerten am Flussrand herum, etwa zwanzig Personen, eine Art Grossfamilie.
Ich war so froh, endlich jemandem zu begegnen, dass ich nicht einmal Angst hatte.
"Hallo!" rief ich.
"Komuk!"
Ich ging auf sie zu, und sie auf mich. Sie stierten mich an, irritiert, dann lachten sie laut und ansteckend.
"Wer seid ihr?"
"Kumuk, komuk, Takaman."
Sie zerrten mich zu ihrem Lager und es ging dabei laut zu. Es war nicht bedrohlich.
In dieser Gegend wurde früher Deutsch gesprochen. 
Zumindest fühlte ich mich nicht mehr einsam. Die Komuk (so nannte ich sie bei mir) waren ein freundliches Volk, sie nahmen mich bei sich auf. Die Männer waren bärtig und korpulent, die Frauen von derber Schönheit, die Kinder laut und unbeschwert. Die meiste Zeit über rasteten wir, aber jeden Tag machten wir auch einen kräftigen Marsch. Es ging in Richtung Süden, vermutlich zum Winterquartier. Manchmal begegneten wir anderen Horden. Das waren dann lärmende Begegnungen mit gemeinsamen Gesängen und zeremoniellen Ringkämpfen.
Mit der Zeit lernte ich die Sprache. Es gab in etwa dreihundert Wörter, die sie regelmässig benutzten und vielleicht noch einmal so viele, die zum seltener gebrauchten Wortschatz gehörten. Die Komuk stammten vermutlich von den Deutschen ab, das war bei genauerem Hereinhören in ihre Sprache zu vermuten. 'Takaman' hiess 'starker Mann', 'Pauta-pauta' hiess Pause machen.
Jeden Abend versammelten sie sich zur Andacht und jeden Morgen fanden sie ihre Esspakete, manchmal auch Kleidungsstücke.
Ich hatte keine Perspektive mehr, aber ich lebte jetzt in einer Welt, wo Perspektiven bedeutungslos geworden waren. Man gab mir eine Frau, ein rundliches, freundliches Wesen, das sich gern necken liess.
Anfangs dachte ich viel nach. Irgendwo draussen gab es es eine Intelligenz, die sich nicht zeigte und die vom Menschen nicht mehr verstanden werden wollte. Der Kampf zwischen der Kohlenstoff- und der Silizium-Intelligenz  war entschieden und das vermutlich schon seit langer Zeit.
An manchen Abenden streiche ich meiner Frau über ihren anschwellenden Bauch und denke an das neue Leben, das dort entsteht.
Es ist gar nicht schlimm.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Steffen Herrmann).
Der Beitrag wurde von Steffen Herrmann auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.07.2011. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Steffen Herrmann als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Schöne neue Geldwelt: Eine launisch-heitere Auseinandersetzung mit den Göttern des Geldes von Olaf Lüken



Ein Lesebuch rund ums Thema "Geld".

Der Bankbetriebswirt Olaf Lüken lädt den Leser zu einem Besuch in die schöne und neue Welt des Geldes ein. Das Buch ist eine launisch- heitere Auseinandersetzung mit Gott Mammon und seinen Dienern aus Politik- und Bankenwelt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Science-Fiction" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Steffen Herrmann

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

2050 (Gesellschaft) von Steffen Herrmann (Science-Fiction)
"Strg+Alt+Entf" von Johannes Schlögl (Science-Fiction)
Nazis, Stasi und andere verdiente Bürger von Norbert Wittke (Mensch kontra Mensch)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen