Eine kleine sprachphilosophische Überlegung
Angenommen – und ich gebe zu, ich bin von Putnam inspiriert – wir entdecken ein neues Land Neulandien. Die dort lebenden Neulandianer sprechen Neulandianisch. Wir bemerken, dass in Neulandien ein Wesen sein (Un-)heil treibt, das folgende Prädikate aufweist: großkatzenartig, gold-gelbes Fell mit schwarzen Streifen etc. Wir würden davon ausgehen, dass es sich hierbei um ein Exemplar eines Tigers handelt. Ein Experte (Biologe, Zoologe) bestätigt dies unseretwegen methodisch und wissenschaftlich exakt. Die Neuländer besitzen zufälligerweise ein Alphabet mit lateinischen Buchstaben, nennen das Tier aber auf Fingerzeig hin (das ist wichtig, weil die Bezeichnung nun referentiell erschlossen wird): Regit. Ein Forscher mit humboldtischen Ambitionen unsererseits beginnt die Sprache der Neulandianer zu lernen und will ein berühmtes Buch des Volkes (wir denken uns beispielsweise eines mit dem Titel „Die Welt der Neulandianer“) schreiben. Wir bleiben aber ohne Verkomplizierungen (Grammatik, Satzbedeutung etc.) nur bei der Wortbedeutung. Der Forscher schreibt über die Fauna Neulandiens und übersetzt in einem Passus die Regits mit Tigern. Er beschreibt diese analog zu unseren Tigern, weniger extensional als vielmehr stereotypisch (auch wenn er weiß, dass es auch weiße Tiger gibt, was die Frage nach dem Stereotypen und dessen Konstituierung nach sich zieht, die ich hier aber nicht besprechen will).
Nicht zufällig kommt ein landianischer Gelehrter herbei, der auch schon fleißig unser Deutsch gelernt, liest diesen Passus und schüttelt vehement mit dem Kopf. Er sagt, dass Regits keine Tiger seien. Denn der Übersetzer hat den Regit nicht nur als großkatzenartig, gold-schwarz-gestreift etc. beschrieben, sondern auch als fleischfressend. Der Landianer zeigt dem Forscher aber, dass Regits gar kein Fleisch fressen, sondern, trotz dem sie selbst für den o. g. Experten eindeutig Tiger waren, bevorzugt Pflanzen verzehren (ich weiß allerdings nicht, ob ein Experte irgendwie das Fleischfressen zu Tigern intensionalisiert, oder ob er diesen Unterschied als Experte nicht doch bemerkt hätte). Ungeachtet dessen, dass der Biologe (Experte) jetzt vor einem Dilemma stünde (weil er eine stereotypische Eigenschaft des Tigers, nämlich das Fleischfressen verwerfen müsste, um zugunsten der anderen Eigenschaften den Tiger als biologisch eingeordnetes Lebewesen aufrecht zu erhalten, oder aber den Regit zu irgendeiner Art (ich verzichte jetzt hier auf Begriffe wie Gattung, Klasse, Ordnung oder Familie) zuordnen, die sich aus der gängigen Nomenklatur irgendwie ergibt bzw. das taxonomische System aktualisieren), stellt es ein Problem bei der Bestimmung der Wortbedeutung, denn Tiger sind actualiter fleischfressend, Regits bevorzugen Pflanzen – ansonsten alles ceteris paribus. Eigentlich haben wir aber kein Übersetzungsproblem. Im Gegenteil, offenbar handelt es sich hierbei gar nicht um Tiger, Regtis können dann einfach als Regits bezeichnet bleiben, weil die Übersetzung Tiger ohnehin aufgrund des zuvor dargelegten Unterschiedes ipso facto falsch ist.
Dieser Fall wirft Fragen in Bezug auf den Tigerbegriff auf – intensional und damit extensional. Dies ist aber nicht das Beispiel, das ich ursprünglich aufzeigen wollte (wenn ich ehrlich bin, gehe ich gegenüber der Argumentation mit möglichen Welten eine eher skeptische Position ein, weil ich mir kaum vorstellen kann, dass ein Experte diesen Unterschied zwischen fleisch- und pflanzenfressenden Tigern nicht erkennt/analysiert und weil ich auch nicht glaube, dass eine Evolution ein tigerähnliches Tier hervorbringt, das sich von Pflanzen ernährt, weil wir dann in gewaltigste Probleme geraten würden, wie wir evolutive Prozesse und evolutiv-biologische Zustände verteidigen sollten, denn warum hätte das Tier anatomisch äquivalente Strukturen wie Reißzähne (wenn die Pflanzen in Neulandien nicht gerade irgendwie „gerissen“ werden müssten, die es frisst)?).[1]
Mein Petitum ist ein anderes. Es steckt in folgender Situation: der Übersetzer übersetzt Regit mit Tiger. Der landianische Gelehrte kommt herbei und schüttelt vehement mit dem Kopf, nachdem er die Beschreibungen des Forschers gelesen. Es zeigt sich, dass Regits nicht alle großkatzenartig, gelb-schwarz-gestreift, fleischfressend etc. sind. Der Forscher versteht nicht und fordert eine Erklärung. Der Landianer zeigt ihm ein neues landianisches Tier: es ist lang, dünn, ohne Extremitäten, hat eine gespaltene Zunge etc. Der Forscher sucht nach einer Translationsmöglichkeit für beide Viehcher, die ja auf landianisch als Regits bezeichnet werden, z.B. einfach: Tier (ich gehe davon aus, dass er nach einer ihm geläufigen Taxonomie die höhere Stufe sucht (sinnvoller Weise beide Arten irgendwie extensioniert), wir wissen aber durch die Psycholinguistik, dass dies nicht zwingend logisch im Sinne der unmittelbar nächsten Stufe ist, weil er dann ein Experte sein müsste, der er ja in dieser Welt nicht ist!). Um dies zu überprüfen, fragt er den Landianer, ob der Vogel, den sie beide gerade in einem Baum sehen können, ein Regit sei? Dieser schüttelt mit dem Kopf und sagt, es sei ein Legov...
Ich möchte dieses Spiel nicht übertreiben. Es stellt sich endlich heraus, dass die Landianer eine ganz besondere Auffassung von Regits haben, nämlich dass sie hoch gefährlich seien für ihr Volk oder meinetwegen heilig wie Götter oder das sie x seien. Auf was ich hinaus will, ist, dass 1. es möglich ist, dass eine Gemeinschaft in ihrer Umwelt (die Interdependenz oder Interpenetration muss ich hier freilich nicht erörtern) ein begriffliches Verständnis entwickelt, das eine Kategorie (oder Klasse von bestimmten Tieren oder sonst etwas) anders bestimmt, einfach weil in der Vergangenheit konservierte Informationen (z.B. sind die Regits so gefährlich, dass sie schon mehrmals die Landianer fast zum Aussterben gebracht haben) wie Gefahr und Überleben etc. z. B. existentieller sind und auf die Klassifizierung/das Naming (ich muss den englischen Begriff zur Taufe benutzen, s. Kripke Name und Notwendigkeit) einen anderen Wert legen als auf irgendeine andere (der unseren) – und das bedeutet Arbitrarität zum einen, sowie sicherlich zum anderen, dass Wahrheit wenn überhaupt nur innerhalb eines allgemein akzeptierten Sprachsystems bestimmbar bleibt und die Frage offenlegt: wie kann sonst zwischen der Übereinstimmung von Proposition/Prädikation und Wirklichkeit Wahrheit geltend gemacht werden? – und das 2. Intension und damit Extension logisch von ganz anderen – nennen wir es Grundhaltungen (ich bin mir nicht sicher, ob der Begriff der Präsupposition hier einstehen sollte) – ausgehen können, sodass für die Landianer der Begriff Tiger wenn nicht unbegreiflich, so doch zumindest völlig redundant bliebe, weil die Wahrheitsfunktion eben nicht nach unserer Taxonomie gebildet wird, sondern nach einer für die Landianer viel wichtigeren: nach der „Taxonomie des Überlebens“.[2]
Wenn man dies liest, stellt sich die Frage nämlich nach der Bedeutung überhaupt. Was ist denn dann noch Bedeutung? Für die Landianer ist der Begriff Tiger bedeutungslos. Vielleicht gibt es gar keine Übersetzung von Tiger, weil der Tiger und die Schlange (ich habe das 2. „Regit“ verraten!) eben auf Regits getauft wurden und andere Intensionen haben. Dies ist gewiss ein ganz besonders krasser Fall von Übersetzung.[3] Wir wollen aber keinem/r quineschen Skeptizismus oder Bedeutungskritik anheimfallen (s. Quine Wort und Gegenstand), wir wollen die Bedeutung verteidigen...
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.08.2011.
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